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Thomas Rabsch/Manuscriptum Verlagsbuchhandlung.

Akif Pirinçci - Der ultraliberale Romantiker

Cicero-Kolumnist Alexander Marguier hat es getan. Er hat Pirinçci gelesen. Das Buch: kein Skandal, sondern ein ultraliberales Manifest. Der Autor: kein Demagoge, sondern ein hoffnungsloser Romantiker

Alexander Marguier

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Ich habe es jetzt doch gelesen, nachdem das Buch wochenlang unangetastet neben meinem Schreibtisch herumlag: Akif Pirinçcis „Deutschland von Sinnen“. Wer sich – und so erging es mir – lediglich die Rezensionen dieses 270-Seiten-Werks in deutschen Tages- und Wochenzeitungen angesehen hatte, musste zwangsläufig zu dem Schluss kommen, hier habe ein wahnsinnig gewordener Katzenkrimiautor mit türkischem Migrationshintergrund zum Völkermord aufgerufen. „Sarrazin auf Speed“ waren noch die freundlicheren Umschreibungen, ein anderer Vergleich lief auf Hitlers „Mein Kampf“ hinaus. Hervorgehoben wurde insbesondere Pirinçcis Vorliebe für eine kraftmeiernde Fäkalsprache; einige Kritiker zählten nach, wie oft im Durchschnitt das Wort „ficken“ auf einer Seite erscheint. Klar, kann man so machen. Muss man aber nicht.

Ein gelungenes Buch
 

Um es geradeheraus zu sagen: Ich halte „Deutschland von Sinnen“ für ein gelungenes Buch. Nicht im Sinne eines „Sachbuchs“, das sich seinem Thema mit dem hierzulande üblichen Anschein von Wissenschaftlichkeit nähert. Das Ding ist eher ein autobiografischer Roman, verfasst in einem schier überbordenden Furor, der dem Autor an manchen Stellen selbst unheimlich zu werden scheint. Pirinçci hat sich da mit beinahe kindlichem Vergnügen in eine Sache hineingesteigert – und wie das bei Kindern manchmal so ist, wenn sie über ihr eigenes Gebrüll erschrecken, fangen sie danach an, nur umso lauter zu brüllen.

Zu Pirinçcis Stil ist folgendes zu sagen: Der Mann ist ein Meister der Wutrede. Da werden keine Gefangenen gemacht, da wird nicht abgewogen – weder inhaltlich, noch in der Wortwahl. In einem Land, das (aus guten Gründen) in Debatten doch eher den Kammerton bevorzugt, muss das natürlich als eine Ungeheuerlichkeit erscheinen. Dennoch halte ich Pirinçci für keinen Demagogen. Wer ein Kapitel etwa mit dem Satz einleitet „Mein Vater, der einem berühmten Alkoholiker- und Beklopptenadel entstammt, erzählte mir immer wieder diesen einen schmutzigen Witz“, der kann sich auch selbst nicht allzu ernst nehmen. „Deutschland von Sinnen“ hat ja für jeden erkennbar auch viel mit persönlichen Kränkungen seines Urhebers zu tun: drohende Steuervorauszahlungen, von der Frau verlassen, und älter wird man auch noch. Nicht zu vergessen: In einigen Passagen (etwa jener, in der Pirinçci seine nach einer gemeinsamen Nacht noch schlafende Geliebte beschreibt) blitzt das literarische Talent dieses Mannes durch, der im Grunde seines Herzens ein hoffnungsloser Romantiker ist.

Ein ultraliberales Manifest
 

Mir geht es gar nicht darum, Pirinçcis Einstellungen zur Emanzipation der Frau oder zu den Verhaltensweisen in bestimmten migrantischen Milieus zu verteidigen. Aber wer nur darauf herumreitet, unterschlägt vermutlich in voller Absicht das eigentliche Anliegen des Autors, der mit „Deutschland von Sinnen“ ein ultraliberales Manifest gegen die staatliche Einmischung in sämtliche Lebensbereiche vorgelegt hat. Mag sein, dass dem einen oder anderen Leser bei dieser Lektüre die Haare zu Berge stehen, das ist auch so gewollt. Als Extremposition sind die teilweise geradezu rülpsend vorgetragenen Einlassungen Pirinçcis jedoch durchaus hörenswert. Es ist der Aufschrei eines Verzweifelten, der sich selbst erwachsen genug fühlt, um nicht ständig und gegen seinen Willen fürsorglich von Leuten belagert zu werden, die er auch noch mit eigener Steuerkohle prächtig alimentiert.

Ich glaube, dass nicht einmal Akif Pirinçci selbst besonders gern in dem von ihm propagierten Nachtwächterstaat leben würde, dessen Aufgaben praktisch auf Landesverteidigung und innere Sicherheit beschränkt wären. Aber weil er ganz genau weiß, dass es sich dabei, zumindest auf deutschem Boden, ohnehin um eine Utopie handelt, rührt er seine Farbe eben ganz besonders dick an. So entwickelt sich sein Buch zu einer regelrechten Geisterbahnfahrt, bei der hinter jeder Biegung das nächste Schreckgespenst der absoluten Freiheitlichkeit aus irgendwelchen Särgen springt. Der satirische Unterhaltungswert ist entsprechend groß, auch wenn ein ernstzunehmender Kern bleibt. Nämlich in Form der gar nicht banalen Frage nach den Grenzen der Wirksamkeit des Staates.

Ist das Buch also ein Skandal? Das liegt wie immer im Auge des Betrachters. Für feinsinnige Feuilletonisten ist dieses im Wortsinn vulgärliberale Manifest natürlich komplett ungenießbar. Beängstigend finde ich vielmehr, dass Pirinçci offenbar zur Überzeugung gelangt ist, in Deutschland könne man mit dezidierter Sozialstaatsskepsis nur noch im Gossenjargon Gehör finden.

 

 

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