"Wir jagen sie"

Deutschland startet in einen reinen Medienwahlkampf. Dabei steckt der deutsche Journalismus in einer unerkannten Krise. Wirtschaftlicher Druck auf der einen Seite, vor allem aber Kartelle, Boulevardisierung, Opportunismus und Selbstanmaßung bedrohen die politische Kultur des Landes.

Vor kurzem ist Carl Bernstein in Hamburg gewesen, jener berühmte Kollege der Washington Post, der zwischen 1972 und 1974 zusammen mit Bob Woodward die Watergate-Affäre aufdeckte, die schließlich zum Rücktritt des Präsidenten Richard Nixon führte. Ich war damals Korrespondent in Washington und verfolgte fiebrig die Ergebnisse der beharrlichen Recherchen dieser beiden Kollegen, die noch jünger waren als ich. Ja, so müsste eine freie Presse funktionieren, die sich als vierte Macht im Staat verstand. Mein Respekt, ach, meine Bewunderung für die investigative Leistung der beiden Reporter und die aufrechte Haltung der Washington Post hatte fast schwärmerisches Format. Und nun kommt derselbe Carl Bernstein her und redet vom „Triumph der Idiotenkultur“, wenn er den Zustand der US-Medien beschreibt. Nicht mehr Wahrheitssuche sei häufig der Antrieb für die Berichterstattung im amerikanischen Journalismus, sagt er, sondern Gerüchte, Prominente und Sensationen. Viel zu oft berichte die Presse ohne gesellschaftlichen Kontext, setze auf Klatsch und Tratsch und widme sich aufgeblasenen Debatten. Bernstein wundert es nicht, dass 45 Prozent der Amerikaner nichts oder nur noch wenig von dem glauben, was in der Zeitung stehe. Was sind wir doch fein raus. In Deutschland halten – Umfragen zufolge – immerhin noch 80 Prozent der Menschen wenigstens die Zeitungen für glaubwürdig. Und Stern-Chefredakteur Andreas Petzold wird mit dem triumphierend klingenden Satz zitiert: „Wir können hier in einer offeneren Atmosphäre arbeiten, und das deutsche Publikum goutiert die Wahrheitsfindung.“ Das mag so sein. Wer könnte auch was gegen Wahrheitsfindung haben? Allerdings bezweifele ich, dass tatsächlich noch allzu viele unserer geneigten Leser die Wahrheit ausgerechnet in den Medien zu finden hoffen. Seit Monaten tingele ich mit meinem Buch „Höhenrausch“ zu Lesungen und Diskussionen durch die Lande. Und ob in Trier oder Weimar, Lüneburg, Bottrop oder Regensburg – immer sind sich die Zuhörer ganz schnell darüber einig, dass es zwei Schurken gibt im politischen Spiel – die Politiker und die Medienmenschen. Die Bürger, die zu solchen Veranstaltungen kommen, ältere zumeist, sind politisch interessiert, informationshungrig, ziemlich gebildet – und absolut verunsichert. Nein, sie trauen uns wirklich nicht mehr. Und haben sie nicht Gründe genug? Es ist ja nicht nur der Bundeskanzler, der auch im deutschen Journalismus „einen Trend in Richtung Boulevardisierung, Personalisierung und auch Skandalisierung“ feststellt. Dass auch in der Bundesrepublik die Medien in der Krise stecken, wird seit Jahren überall beklagt und diskutiert, nicht zuletzt von Journalisten. Über die strukturellen Ursachen – den technischen Wandel, die Abhängigkeit von Auflagen und Quoten, von Anzeigen und Werbespots und den daraus resultierenden Kostendruck – will ich nicht urteilen. Ich möchte mich stattdessen auf uns beschränken – auf uns Jornalisten – und auf die Frage, wie viel wir womöglich als Personen zum dramatischen Qualitätsverfall im Journalismus beitragen, über den sich beispielsweise die Politiker parteiübergreifend einig sind. Und ich frage mich, ob es uns wirklich so viel anders ergeht als denen, über deren Gefährdung durch die Macht wir so gerne urteilen. Drei Gründe hat der ehemalige tschechische Staatspräsident Václav Havel einmal für die Sehnsucht eines Menschen nach politischer Macht aufgeführt: die Vorstellung von einer besseren Gesellschaftsordnung, Selbstbestätigung und Privilegien. Sollten diese Kategorien nicht auch in unserem beruflichen Selbstverständnis eine Rolle spielen? Sind es denn wirklich nur die Politiker, die ihre enormen Möglichkeiten auskosten, sich selbst zu bestätigen, indem sie – wie Havel sagt – „weithin sichtbare Abdrücke der eigenen Existenz“ hinterlassen? Und behaupten nur sie, dass die vielen Privilegien, die notwendiger- und erfreulicherweise ihr Berufsleben begleiten, nichts anderes seien, als quasi unvermeidliche Zugaben zur hehren Gemeinwohl-Aufgabe? Es gehörte für mich zu den unerwünschten Folgen und Nebenwirkungen der Watergate-Affäre vor mehr als dreißig Jahren, dass Richard Nixons verzweifelter und erbarmungsloser Kampf um sein Amt mich zum ersten Mal auf solche Parallelen aufmerksam machte. O ja, ich vermochte mich so gut einzufühlen in die Lebenslügen des gehetzt wirkenden amerikanischen Präsidenten, dass ich sein Scheitern früh voraussagte. Aber warum? Heute weiß ich, was ich damals verdrängte – ich tickte wie er und die meisten politischen Karrieristen. Diese Bühnen-Verwandtschaft der politischen, der schauspielerischen und der journalistischen Klasse ist ein Problem, obwohl sich die Medienlandschaft seit Watergate so verändert hat. Sie ist bunt geworden, vielfältig, voller Trallalla und Albernheiten, der Werbung nahe und dem Showgeschäft und immer auf Rendite bedacht. Wenn ich heute Publizistikstudenten frage, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen, sagt kaum noch einer, dass er Journalist werden möchte. Die meisten wollen „irgendwas mit Medien“ machen. Und das reicht dann vom Sportmoderator bis zum Pressesprecher von Attac oder der Dresdner Bank, vom Filmemacher bis zum Werbetexter. Und viele schwärmen von Medienjobs im Internet, von denen ich noch nie gehört habe. Gewiss, auch den guten alten klassischen Journalisten gibt es noch. Aber die coolen Smarties aus der Spaßkultur-Branche des Feuilletons und der Frohsinns-Wellen halten ihn für ziemlich angestaubt, obwohl es kaum noch ideologische Missionare und Menscheitsbeglücker unter uns gibt. Im Gegenteil, die Neigung, auch Politik vor allem nach ihrem Unterhaltungswert zu beurteilen, wächst auch in seriösen Redaktionen. Und so ist es wohl kein Wunder, dass selbst die Minderheit der klassischen Journalisten dort, wo sie Mehrheit ist – in Berlin etwa, in den Landeshauptstädten und wo sonst noch Politik gemacht wird – im Vergleich zu früher ein ziemlich exotischer, bunter, modebewusster Haufen geworden ist. Stil wird nicht nur geschrieben, sondern auch getragen. Wir Journalisten verkaufen uns – nicht einmal immer bewusst – selbst als Ware im Medium. Gegelte Frisuren und unübersehbare Dekolletees, Designer-Anzüge und kunstvoll dekorierte Schlampigkeit sind Markenzeichen von Akteuren, die sich im Promi-Wettbewerb mit den Showstars der Politik erleben. Sind wir ihnen nicht auch sonst bis zur Austauschbarkeit ähnlich? Die Wahrscheinlichkeit, dem Suchtsog des Politikbetriebs zu verfallen und damit die Wirklichkeit neben der Karriere aus den Augen zu verlieren, ist im Nachkriegsdeutschland von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewachsen. Hatten die Alten noch ein ereignisreiches Leben vor dem Eintritt in die Politik, kennen die Jungen nur ihren Weg nach oben. Im Medienbetrieb ist es nicht sehr viel anders. Die derzeit in Regierung und Opposition tonangebende Generation der Erfolgs-Junkies hat es in den Führungsetagen der Redaktionen, Sender und Fernsehanstalten mit Gleichaltrigen zu tun, die der Mode-Guru Wolfgang Joop – Jahrgang 44, so alt wie Gerhard Schröder – einmal so beschrieben hat: „Ohne Verankerung in Vergangenheit oder Zukunft passen wir uns der Chance des Augenblicks an. Unser Ego hat Priorität vor Parteien, Politik und den Parolen von gestern.“ Auch bei den Jüngeren sehe ich keine markanten Unterschiede zwischen Politikern und gleichaltrigen Journalisten. Noch haben die zwischen 1960 und 1980 geborenen Deutschen – ob Ost oder West – keine gemeinsame Physiognomie, allenfalls in ihrer ironisch-larmoyanten Selbstbespiegelung ähneln sie einander. Florian Illies machte diesen Mangel an generationeller Originalität, das fehlende Schicksal, selbst zum zentralen Merkmal der Beschreibung. „Wir sind“, schreibt er, „wahrscheinlich die erste Generation, die ihr Leben nicht mehr als authentisch empfindet, sondern als ein einziges Zitat.“ Der Soziologe Heinz Bude äußerte sogar die Sorge, dass diese Generation am Ende einfach wegzudenken sein könnte. Ich zitiere: „Sie ist ganz geschickt, ganz reflexiv, gar nicht blöd – aber spurlos.“ Solche Generationsgemeinsamkeiten verstärken natürlich die Gefahr, dass Politiker und Journalisten einander ungebührlich nahe kommen. Zwischen den beiden Flügeln der politischen Klasse hat immer schon ein symbiotisches Verhältnis bestanden, in Bonn wurde es durch die räumliche Nähe zusätzlich begünstigt. Der Kollege Peter Zudeick hat damals vor einem „Schmiergeld namens Nähe“ gewarnt. Wer in dieser engen Beziehung wessen Parasit ist, entscheidet sich von Fall zu Fall. Für beide Seiten gilt die schöne amerikanische Faustregel: „If you can not beat them – join them.“ Die Schröders, Fischers und Stoibers betrachten die Art ihrer Medienpräsenz als eine schiere Machtfrage. Auch Journalisten in verantwortlicher Position bekennen sich heute ungenierter denn je zu ihrem Anspruch, im politischen Geschäft als gleichberechtigte Macht-Mitstreiter agieren zu wollen, obwohl sie von niemandem gewählt und legitimiert sind. Sie fühlen sich „im Zentrum der Macht“, wie der Leiter eines Berliner Zeitungsbüros einen Kollegen wissen ließ, der sich dessen Meinungsschelte verbat. Und sie leiten daraus Jagdrechte ab. Ein erfahrener Auslandskorrespondent, der seinen Bürochef um Genehmigung für ein Politiker-Porträt bat, erfuhr von dem herablassend, dass die Zeiten, in denen Reporter Politiker begleiteten, um sie beobachten, verstehen und beschreiben zu können, nun wirklich vorbei seien. Ach, sagte da der Berlin-Neuling, und was machen wir jetzt? Antwort: „Wir jagen sie.“

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