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(picture alliance) Von Occupy Wall Street um die ganze Welt: Occupy-Lager vor der Europäischen Zentralbank

Occupy - "Mehr als ein Aufstand gegen die Ackermänner"

Die Occupy-Bewegung wehrt sich gegen den total verwirtschafteten Menschen. Es geht um die Veränderung der Lebenskultur: um eine Kulturrevolution. Ein Kommentar von Frank A. Meyer

Macht die Bewegung „Occupy Wall Street“, wie die Neue Zürcher Zeitung seufzt, „ratlos“? Sind ihre Ziele, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung klagt, „unklar“? Oder sind in New York lediglich, wie der juvenile Zyniker Ulf Poschardt in der Welt spottet, „die Klubs und Bars derart teuer und langweilig geworden, dass sich junge, gut aussehende Akademiker … lieber auf der Straße treffen, um gefühlt linke Politik zu betreiben und dabei anderen attraktiven Gleichgesinnten zu begegnen“?

So manches Medium bekundet Mühe mit den Empörten, den „Indignados“ oder auch „Indignés“, inzwischen eine Weltbewegung von Santiago de Chile über New York bis Madrid und Rom, von Sydney über Hongkong bis Tokio und Seoul.

Indes, die Journalisten verdienen Nachsicht: Wer sich jahrelang von Bankern oder deren politischen und professoralen Propagandisten ein X für ein U vormachen ließ, braucht jetzt Zeit fürs Umdenken. Schließlich geht es um mehr als nur die Finanzwirtschaft.

Es geht ums große Ganze. Ist das diffus? Es ist präzis. Denn es geht um das Leben in dieser Zeit in dieser Welt. Deshalb geht es gegen den Ungeist dieser Zeit und dieser Welt.
Was ist dieser Ungeist? Seine Verkörperung hat einen Namen: der „Homo œconomicus“. Wörtlich: der Wirtschaftsmensch. Sinngemäß: der total verwirtschaftete Mensch.
Gegen dieses Menschenbild richtet sich der Protest. Er ist deshalb weit mehr als ein Aufstand gegen die Ackermänner. Es geht um die Veränderung der Lebenskultur: um eine Kulturrevolution.

Sie richtet sich gegen die Unkultur des Neoliberalismus, der seit bald 30 Jahren das politische und wirtschaftliche Denken der westlichen Zivilisation bestimmt, dessen Mantra sich in sechs Wörtern erschöpft: „Staat ist schlecht, privat ist gut.“ Sie richtet sich gegen den Glaubenssatz: „Der Markt hat immer recht“, gegen die marktradikale Religion.

In Frankfurt hielt ein junger Protestler auf einem Pappschild die Botschaft hoch: „Wir müssen die Märkte beruhigen wie einst die Götter.“

Lesen Sie auf der nächsten Seite mehr über das Evangelium des Neoliberalismus

Das Evangelium des Neoliberalismus gilt seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher weltweit als Anleitung zum politischen Handeln: Privatisierung von allem und jedem, was sich noch in den Händen von Gesellschaft und Gemeinschaft befindet – Kitas, Schulen, Schwimmbäder, Universitäten, Energieversorgung, Bahnen, Post, Kommunikation, Medien, Polizei, Militär.

Auf dem Mont Pèlerin über dem Lac Léman, wohin der Ökonom und Demokratieverächter Friedrich August von Hayek, Glaubensstifter der neoliberalen Lehre, 1947 erstmals zur marktradikalen Konspiration lud, wird regelmäßig der Katechismus der neoliberalen Sekte à jour gebracht: je radikaler, desto besser – bis hin zu der Forderung, den Notenbanken die Geldschöpfung zu entwinden und auch sie für private Anbieter freizugeben. Jeder soziale Fortschritt ist Hayeks Gralshütern zuwider, allem voran Umweltschutz und Frauenemanzipation, denn beides bedarf der staatlichen Regelung.

Die „Mont Pèlerin Society“ ist die „Scientology Church“ für zahllose neoliberal gestimmte Wirtschaftsakteure, Politiker und Professoren, auch für zahlreiche Wirtschaftsjournalisten. Die Neue Zürcher Zeitung ist ihr Kirchenblatt.

Unter dem Einfluss dieser Klerisei, die ihre Gebote auf dem Mont Pèlerin zu empfangen pflegt, entwickelt sich eine Parallelgesellschaft der pekuniären Elite: mit eigenen Wohnresorts, eigenen Schulen und Universitäten, eigenen Kliniken und natürlich – überall dort, wo der Kontakt zum gemeinen Volk droht – mit eigenen „Members Only“-Clubs und eigenen VIP-Lounges, von eigenen Sicherheitskräften geschützt, von eigenen Fahrern in die eigenen Shoppingmalls geleitet, aus denen man nach dem Einkauf bei Prada und Tiffany hinter abgedunkelten Scheiben davonrauscht – ins eigene Schlaraffenland.

Wer nicht dazugehört, gehört zum Personal: Arbeitnehmer sowieso, aber auch Unternehmer der Realwirtschaft, die Patrons der alten, veralteten Art. Das neoliberale System kennt auch das unwerte Leben: Wer es existenziell nicht schafft, ist selber schuld, deshalb auch keiner Sozialhilfe würdig. Das Leben ist Auslese, der Markt selektiert. Die Herrschaftsschicht des Feudalismus hat Nachfolger gefunden: eine neureiche Kaste moralisch verwahrloster Manager und Oligarchen.

Horst Köhler, vier Jahre Direktor des Internationalen Währungsfonds, fünf Jahre Bundespräsident, nannte die Finanzmärkte „ein Monstrum“. Gott Markt ist, wie jeder Gott, monströs – und destruktiv. Schon einmal musste sich die europäische Gesellschaft vom Diktat religiös-feudaler Mächte befreien: mit der Französischen Revolution und der darauffolgenden bürgerlichen Emanzipation bis hin zum deutschen Grundgesetz von 1949.

Die Weltbewegung „Occupy Wall Street“ ist die erste Revolte einer zweiten Aufklärung, getragen von rechten und linken Bürgern, von wohlhabenden Bürgern und armen Bürgern. Von Bürgern – wofür die revolutionäre französische Tradition das schöne Wort „Citoyen“ bereithält.

Ja, um die bürgerliche Gesellschaft geht es. Um deren Werte: die Demokratie und den Rechtsstaat. Auch um den werteschaffenden Kapitalismus – das Gegenteil des zerstörerischen Finanzkapitalismus. Wir haben nun mal nichts anderes als die bürgerliche Gesellschaft.
Und uns. Den Citoyen.

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