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Zeitungsindustrie - „Für viele Journalisten ist das Internet Hexerei“

Sie ist die apokalyptische Reiterin der Zeitungsindustrie: Emily Bell, Forscherin an der Columbia Journalism School in New York, warnt in einem aufsehenerregenden Aufsatz vor dem Untergang der Medienwelt, wie wir sie heute kennen. Cicero Online sprach mit ihr am Rande des European Newspaper Congresses in Wien

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

So erreichen Sie Petra Sorge:

Frau Bell, Sie haben getwittert, dass Sie heute eigentlich eine Kiefer-OP gehabt hätten. Was ist schlimmer: als Patientin auf einem Zahnarztstuhl zu sitzen oder Todesbotin vor einem Saal von Zeitungsmachern zu sein?
Ui, beides ist ähnlich unangenehm. Ich kann die Leute hier verstehen. Ständig kommt jemand und sagt ihnen: „Ihr müsst euch ändern!“ Dabei sind nicht alle dumm, viele bemühen sich schon längst. Aber Änderungen sind wirklich hart. Es ist ein langer Prozess.

[[{"fid":"53366","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":177,"width":220,"style":"line-height: 1.538em; width: 180px; height: 145px; margin: 10px 5px; float: left;","class":"media-element file-teaser"}}]]Ich habe Ihre Botschaft aber anders verstanden: Egal, was die Verlage tun, einige von ihnen werden trotzdem sterben.
Ja. Das ist die schlechte Nachricht: Man kann alles richtig machen – und trotzdem nicht überleben. Weil sich das Publikum abwendet, weil der Anzeigenmarkt komplett eingebrochen ist. Heutzutage braucht ein Werbetreibender keine Zeitung mehr, da es effizientere Wege gibt, mit dem Kunden zu kommunizieren. Wir denken alle, dass wir in einem Geschäft arbeiten, das viel Geld einbringt. Aber das ist nicht wirklich der Fall. Wer seine Produkte nicht quersubventioniert, für den kann es schon zu spät sein. Das ist die bittere Wahrheit.

Was bedeutet das für die Gemeinschaft, wenn Zeitungen verschwinden?
Ich habe das in den USA in New Orleans untersucht, der größten US-amerikanischen Stadt ohne Tageszeitung auf Papier. Ich wollte wissen, was die früheren Leser der Times-Picayune vermissen. Einer sagte, sein Vater wisse nicht mehr, wer gestorben ist. Er hatte regelmäßig die Todesanzeigen gelesen. Es geht nicht nur um klassische Rathaus-Berichterstattung – eine Lokalzeitung erfüllt viele Funktionen. Die fallen alle weg. Und wenn jetzt noch eine Rezession wie in Europa hinzu kommt, dann ist das sehr schlecht.

Sie wünschen sich Journalisten, die wie Ingenieure sind. Wie meinen Sie das?
Sie müssen die richtigen Codes beherrschen. Für viele Journalisten ist das Internet noch Hexerei. Sie verstehen nicht, was vor sich geht, wenn man da etwas hineinstellt. Es ist, wie eine Fremdsprache zu erlernen.

Sind Blogger, Twitterer und Netzaktivisten also die besseren Journalisten?
Im Prinzip schon. Jeder kann heute ein Foto machen, jeder kann Texte verbreiten. Dazu braucht es keine Redaktionen mehr.

Hinzu kommt: Bei den Anschlägen in Boston haben die Medien mehrmals Falschmeldungen verbreitet.
Alle haben an irgendeinem Punkt falsch berichtet. CNN, die New York Post…

Sie haben in ihrer Nachrichtenfunktion völlig versagt.
Ja. Das Problem ist: Die Nutzer wollen Informationen in Echtzeit. Aber es ist schwer, das Ganze auch korrekt zu liefern. Es geht also um die eine Abwägung von Schnelligkeit und Gründlichkeit. Da müssen die Medien selbstkritisch ihre Arbeitsweise hinterfragen.

Seite 2: Warum Obama die Tageszeitungen ausgrenzt

Eine Studie hat deutschen Journalisten gerade bescheinigt, bei der Selbstkritik das Schlusslicht in Europa zu sein.
(lacht) Oh Gott. Normalerweise sind Journalisten schon sehr selbstkritisch. Aber sie können Dienstleister sein, indem sie eine Meldung sofort mit dem Hinweis verbreiten: „Wir können diese Information noch nicht bestätigen.“ Das wurde beispielsweise während des Amoklaufs an der Grundschule in Sandy Hook ausprobiert.

Es gibt eine weitere Nachricht, die deutsche Medienmacher zittern lässt. Die Huffington Post eröffnet eine deutsche Redaktion.
Sie bekommt im US-Medienmarkt viele Klicks von AOL.

Aber die Huffington Post besteht vor allem aus Blogs und Aggregation – also copy and paste.
Macht es denn einen Unterschied, wenn ich den gleichen Bericht von Associated Press oder Reuters in zehn Zeitungen wiederfinde? Auch das ist Aggregation. Journalisten haben schon immer woanders kopiert – auch wenn Verlage gern von „exklusiver Berichterstattung“ reden. Die hat die Huffington Post im vergangenen Jahr übrigens auch geboten – und dafür den Pulitzer Preis gewonnen.

Immer mehr Konsumenten-Marken entdecken das Nachrichtengeschäft: So versucht sich auch Coca Cola mit Lifestyle-Themen.
Ich glaube nicht, dass Coca-Cola ein ernsthafter Konkurrent ist. Nachrichten sind nicht das Kerngeschäft. Microsoft hat dasselbe mit MSN probiert – und die Sparte dann wieder verkauft.

Ist das Bild der Medien als vierte Macht im Staat übertrieben?
Nein, sie sind äußerst wichtig. Für die Demokratie, bei Wahlen – Radio und Fernsehen sind da noch immer Massenmedien.

Aber eben nicht die Printmedien. Barack Obama grenzt Tageszeitungen regelrecht aus, wenn es um das Gewähren von Interviews geht.
Das stimmt – er geht direkt in die sozialen Netzwerke. Das am meisten geteilte Foto bei Facebook war sein Bild nach der Wiederwahl. Wissen Sie, ihm geht es wie allen anderen: Er hat wenig Zeit.

Werden die Leser für Nachrichten im Netz bald etwas bezahlen müssen?
Vielleicht in Einzelfällen – aber sicherlich nicht bei der Huffington Post. Es wird gerade viel über Paywalls diskutiert. Dabei können sie allenfalls eine Brücke zu neuen Finanzierungsformen sein. Wichtig ist, dass eine Zeitung sich permanent anpasst.

Eine weitere Einnahmequelle könnten Fördermittel sein.
Mittlerweile ist der Non-Profit-Sektor ein wichtiger Teil der Finanzierungsmodelle in den USA.

Zeitungen werden also zu Bittstellern.
Erstens gab es immer Journalisten, die Nachrichten gemacht haben, ohne irgendeinen Profit daraus zu ziehen. Zweitens muss man verstehen, dass Unternehmen nicht unbedingt neben Berichten über Korruption, Folter und Tod werben wollen. Deswegen bleiben als Alternativen nur noch Steuererleichterungen – oder Nichtregierungsorganisationen.

In den USA ist man sicher nicht so begeistert von Ihrer Idee, Staatsgeld zu verteilen.
Ja, es ist sicher umstritten. Aber sehen Sie: Als die Journalismus-Initiative Pro Publica startete, sagten alle: „Was für eine dämliche Idee.“ Sie wird von großen Stiftungen finanziert. Heute gehören die New York Times, die Texas Tribune oder die Washington Post zu den Abnehmern von Pro Publica. Ein weiteres Beispiel für den Erfolg von spendenfinanziertem Journalismus ist die Organisation „International Consortium of Investigative Journalists“, das den Steuerskandal „Open Leaks“ aufdeckte.

Wann werden wir unsere letzte Zeitung recyceln?
Keine Ahnung. Gegenfrage: Wie viele Leute lesen im Bus noch Zeitung?


Sehen Sie: Niemand. Alle scrollen auf ihren Handys. Aber ich habe für Sie auch noch eine gute Nachricht: Wer in den USA von der „New York Times“ spricht, denkt eigentlich nicht an eine Tageszeitung. Er denkt an ein riesiges, digitales Multimedia-Unternehmen.

Frau Bell, vielen Dank für das Gespräch.

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