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(picture alliance) Ex-Bundesfinanzminister Steinbrück und der amerikanische Experte für Schuldenkrisen Rogoff im Gespräch

Streitgespräch - „Europa heiratet nicht, teilt sich aber ein Konto“

Der Ex-Bundesfinanzminister und der US-Top-Ökonom tauschen sich über ihre größten Schacherfolge aus, analysieren die Eurokrise und ihre möglichen Folgen und streiten darüber, ob die USA oder die Europäische Union in schlechterer Verfassung sind

Sie sind beide leidenschaftliche Schachspieler. Herr Rogoff, Sie sind sogar Großmeister des königlichen Spiels.
Kenneth Rogoff: Ja, aber ich spiele mittlerweile überhaupt nicht mehr, weil ich schachsüchtig bin. Wenn ich einmal anfange, kann ich nicht mehr aufhören. Ich habe allerdings eine Weile als Schachprofi davon gelebt und dabei sogar mehr verdient als als junger Ökonom. Aber das zeigt eher, wie schlecht junge Akademiker bezahlt werden.

Peer Steinbrück: Ich habe mal bei einer Veranstaltung in Bonn gegen den Russen Wladimir Kramnik gespielt, der damals amtierender Weltmeister war. Ich war stolz auf die 37 Züge, die ich überlebte.

Rogoff: Das ist beeindruckend.

Hier kommt unsere Eröffnungsfrage: Herr Rogoff, haben Sie jemals in Erwägung gezogen, als Präsidentschaftskandidat in den USA anzutreten?
Rogoff: Nein. Ich halte das für einen unvorstellbar schwierigen Job, der Druck ist gigantisch, und mir fehlt es am politischen Geschick. Als Ökonom berate ich seit Jahrzehnten regelmäßig Politiker, aber die Art und Weise zu arbeiten ist total unterschiedlich. Wenn jemand wie Peer Steinbrück mich um Rat fragt, bereite ich mich wochenlang auf einen 20?Minuten?Termin vor, während es für ihn nur 20 Minuten in einem vollgepackten Terminkalender sind.

Herr Steinbrück, in den USA tobt gerade der Präsidentschaftswahlkampf. ­Empfinden Sie es als problematisch, dass in den USA die Präsidentschaftskandidaten unglaublich viel Geld für ihren Wahlkampf benötigen?
Steinbrück: Ja, das ist ein Riesenunterschied im Vergleich zu Deutschland. Hier empfinden wir es als verrückt, dass in den USA eigentlich nur sehr vermögende Menschen antreten können, die zudem noch riesige Summen an Spendengeldern einsammeln müssen, was zu zweifelhaften Abhängigkeiten führen kann.

Rogoff: Die Folge davon ist, dass das Niveau der Debatten im US-Wahlkampf peinlich bis besorgniserregend ist. Keiner der Kandidaten in den USA hat die Möglichkeit zu sagen, was er wirklich denkt. Vielleicht habe ich eine romantisierte Sicht auf Europa, aber ich habe das Gefühl, dass hier in der Politik ernsthafter und ehrlicher diskutiert wird.

Steinbrück: Ich war immer ein großer Bewunderer des amerikanischen Systems der Gewaltenteilung. Aber es scheint nicht mehr richtig zu funktionieren, weil einzelne Gruppen innerhalb der Republikaner die Politik ideologisiert haben. Dieser Zustand lähmt die amerikanische Politik. In Europa leiden wir unter einem anderen Phänomen: Die Wähler haben den Eindruck, dass es zwischen den Parteien keine signifikanten Unterschiede mehr gibt.

Sie haben schon gesagt, dass Sie kein politisches Amt anstreben, Herr Rogoff. In Europa ist es dagegen gerade in Mode, dass renommierte Ökonomen als Regierungschefs eingesetzt werden – wie Mario Monti in Italien oder Loukas Papadimos in Griechenland. Begrüßen Sie das, wenn in Krisenzeiten die Experten das Zepter in die Hand nehmen, oder bevorzugen Sie professionelle Politiker wie Peer Steinbrück, der im kommenden Jahr womöglich als Kanzlerkandidat für die SPD ins Rennen geht?
Rogoff: Ich habe großen Respekt sowohl vor Monti als auch vor Papadimos. Man muss aber festhalten, dass wir in sehr ungewöhnlichen Zeiten leben, daher sind die Technokraten in der Krise jetzt gefragt. Am Ende aber müssen auch sie politische Kompromisse eingehen und Entscheidungen treffen. Griechenland hat ohnehin schon einen Teil seiner politischen Souveränität abgeben müssen.

Ist es eine Gefahr für unsere westlichen Demokratien, wenn in Krisenzeiten nur noch eine kleine Gruppe von Experten in der Lage ist, uns zu regieren?
Steinbrück: Diese Entwicklung ist vor allem ein Zeichen dafür, dass die politische Klasse in Italien und Griechenland versagt hat. Die Wähler dort haben kein Vertrauen mehr in die Berufspolitiker. In solchen Zeiten sind dann Führungspersonen gefragt, die sich nicht im Parteiengezänk verheddern oder ihre Partei mit den Interessen ihres Landes verwechseln.

Rogoff: Ich halte das für ein temporäres Phänomen. Die Technokraten müssen jetzt die harten Sanierungsmaßnahmen durchführen, mit denen kein Politiker, der wiedergewählt werden will, etwas zu tun haben wollte.

Aber minimiert die Schuldenkrise nicht den Wettbewerb zwischen den Parteien in Europa? Die SPD unterstützt doch ebenfalls die Rettungsmaßnahmen für den Euro.
Steinbrück: Als Oppositionspolitiker trage ich doch genauso Verantwortung für Deutschland und Europa. Insofern unterstützt die SPD ein sinnvolles Krisenmanagement auf der europäischen Bühne. Auf der anderen Seite haben ­Frank?Walter Steinmeier und ich das Krisenmanagement der Bundesregierung seit 2010 mehrfach heftig kritisiert, weil die zögerliche Vorgehensweise der schwarz-gelben Koalition wenig zur Lösung der Probleme beigetragen und sie teilweise sogar verschlimmert hat.

Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung steht auch international im Kreuzfeuer der Kritik. Der amerikanische Finanzminister Timothy Geithner, der britische Premierminister David Cameron und IWF?Chefin Christine Lagarde haben kürzlich in Davos beim Weltwirtschaftsforum erneut gefordert, gerade Deutschland müsste noch mehr Geld in die Hand nehmen, um die Krise zu beenden.
Rogoff: Die Situation ist ohne Zweifel sehr schwierig, aber man darf nicht vergessen, dass die größten Fehler in Europa Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre bei der Einführung des Euro gemacht wurden. Ich benutze für die Einführung des Euro gerne das Bild eines Pärchens, das sich nicht sicher ist, ob es heiraten soll, stattdessen aber probehalber schon mal ein gemeinsames Konto eröffnet. Das ging am Anfang sogar gut, aber dann hat man erst den Geschwistern und später auch den Cousins und Cousinen Zugriff auf das Konto gewährt. Die Euphorie war so groß, dass sogar der Cousin dritten Grades mitmachen durfte, den noch nie jemand gesehen hatte, der aber sehr sympathisch sein soll. Nur Deutschland und Frankreich als Pärchen zusammenzubringen, wäre schon ein äußerst mutiges Unterfangen gewesen, aber man nahm sogar Länder auf, deren Durchschnittseinkommen bei 25 Prozent des deutschen Niveaus lag. Es war ein Riesenfehler, eine gemeinsame Währung einzuführen, ohne gleichzeitig eine echte politische Union zu begründen.

Heißt das, wir sollten für den Cousin dritten Grades, also Griechenland, jetzt das Konto sperren?
Steinbrück: Das müssen die Griechen selbst entscheiden. Das Problem des jetzigen Krisenmanagements ist aber ein anderes. Es konzentriert sich ausschließlich auf zwei Aspekte: Erstens wird Geld zur Verfügung gestellt, damit die Griechen sich refinanzieren können, und zweitens werden ihnen harte Sparprogramme abverlangt. Das kann aber nicht funktionieren, weil Länder wie Griechenland dadurch immer tiefer in eine Rezession abrutschen. Man müsste gleichzeitig einen Wachstumspakt initiieren, um das Land zu stabilisieren, die Steuereinnahmen zu erhöhen und die Arbeitslosigkeit zu senken. Sonst ist überhaupt nicht absehbar, wann die Griechen selbst wieder Zugang zu den Kapitalmärkten bekommen.

Was hätten Sie sich denn als griechischer Finanzminister von ihren europäischen Partnern gewünscht?
Steinbrück: Jetzt kann man eigentlich nur noch zwischen verschiedenen schlechten, sehr riskanten Lösungen wählen. Aus griechischer Sicht hätte ich mir gewünscht, dass im Mai 2010 die Bundeskanzlerin, der französische Präsident, der Chef der Eurogruppe und der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) gemeinsam erklärt hätten, dass sie eine Garantie für die griechischen Staatsschulden übernehmen. Einen ähnlichen Schritt haben Angela Merkel und ich gemacht, als wir während der Finanzkrise eine Garantie für die Sparguthaben der Deutschen übernommen haben.

Rogoff: Das ist eine interessante taktische Frage, ob es billiger gewesen wäre, wenn Europa einfach Griechenlands Schulden übernommen hätte. Es ist aber ein Fakt, dass Griechenland nicht in der Lage sein wird, seine Schulden zurückzuzahlen. Ich glaube nicht mal, dass die Griechen das zurückzahlen können, was sie nach der vereinbarten Umschuldung versprochen haben zurückzuzahlen. Am Ende müssen die Länder selbst entscheiden, ob sie ihre Schulden zurückzahlen wollen oder nicht. Aber selbst im historischen Vergleich ist das Defizit, das Griechenland anhäufen durfte, wie von einem anderen Planeten. Man vergisst dabei schnell, dass andere Länder wie Portugal ebenfalls in großen Schwierigkeiten stecken. Deren Zahlen sehen nur im Vergleich zu Griechenland gut aus, was aber keine Kunst ist.

Neelie Kroes, die Vizepräsidentin der EU?Kommission, hat kürzlich gesagt, ein Austritt Griechenlands aus dem Euro sei „verkraftbar“. Wäre ein solcher Schritt nicht der Anfang vom Ende der Gemeinschaftswährung?
Steinbrück: Ich hoffe nicht. Es wäre meines Erachtens ein sehr riskanter Schritt, weil niemand wirklich voraussagen kann, was dann passiert. Insofern sollten EU?Politiker mit solchen Einschätzungen in der Öffentlichkeit sehr zurückhaltend sein.

Herr Rogoff, was würden Sie denn machen, wenn Sie auf dem Stuhl des griechischen Ministerpräsidenten Papadimos säßen: drinbleiben oder rausgehen?
Rogoff: Das hängt davon ab, was ich dafür bekäme. Böte man mir einen gepolsterten Ausstieg an, bei dem ich weiter Kredite erhielte, in der EU bleiben könnte und unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit hätte, wieder in die Eurozone zurückzukehren, wenn sich das Land stabilisiert hat, dann würde ich den Ausstieg wagen. Nach einem Staatsbankrott und einem Austritt wäre es für Griechenland auf jeden Fall wesentlich einfacher, wieder auf die Füße zu kommen. Ein solcher Schritt wäre eher für den Rest Europas problematisch, weil man damit einen Präzedenzfall geschaffen hätte.
 
Steinbrück: Das ist der Knackpunkt. Wir müssten auf einen solchen Schritt vorbereitet sein, entsprechende Schutzmauern errichten, einen Plan B in der Tasche haben, um einen Zusammenbruch der Eurozone verhindern zu können. Mir geht es aber nicht nur um die möglichen ökonomischen Konsequenzen. Eine Wiedereinführung der nationalen Währungen hätte unweigerlich eine politische Renationalisierung zur Folge. Das wäre die falsche Antwort sowohl auf 1945 als auch auf die Herausforderungen, vor denen Europa und insbesondere Deutschland am Anfang des 21. Jahrhunderts stehen. Es gibt überall populistische Rechtsparteien, die nur darauf warten, in diese ­Lücke zu stoßen. Eine solche Entwicklung würde uns um Jahrzehnte zurückwerfen. Es wäre ein politisches und wirtschaftliches Desaster.

Wie sähen denn die ökonomischen Konsequenzen aus?
Steinbrück: Eine wiedereingeführte D?Mark oder ein Nord-Euro würden extrem aufwerten, während die Währungen der Krisenländer bis zum Mittelpunkt der Erde abgewertet würden. Was das für den deutschen Export bedeutet, dessen Anteil am Bruttoinlandsprodukt bei 45 Prozent liegt, liegt auf der Hand. Und auch die Folgen für Wachstum, Arbeitsplätze und Steuereinnahmen in Deutschland wären sehr schmerzhaft. Interna­tional gibt es ohnehin eine Verschiebung vom exklusiven nordatlantischen Klub in Richtung der asiatisch-amerikanischen Pazifikregion. Deutschland wird sich nur als Teil einer funktionierenden EU in dieser Liga behaupten können.

Wir haben jetzt viel über Europa gesprochen, aber auch die USA tragen eine gigantische Schuldenlast vor sich her. Wer von beiden ist in schlechterer Verfassung?
Rogoff: Europas Probleme müssen auf jeden Fall schneller gelöst werden, weil es sich hier nicht nur um eine Schuldenkrise handelt, sondern weil auch ganz dringend die institutionellen Defizite der Währungsunion behoben werden müssen. Am Ende der Krise muss eine engere politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit der Europäer stehen – viel enger als alles, was bisher diskutiert wird. Europa braucht einen echten Finanzminister, der über einen Großteil der Steuereinnahmen verfügen kann; nur noch ein kleiner Teil der Steuern sollte direkt an die Mitgliedsländer gehen. Es muss auch eine gemeinsame, starke Regulierungsbehörde geschaffen werden. Die EZB muss außerdem ein Mandat erhalten, das es ihr ermöglicht, für Preisstabilität und Wachstum zu sorgen – so, wie es alle anderen großen Zentralbanken weltweit auch tun. An den Vereinigten Staaten von Europa führt kein Weg vorbei. Ein solch loser Staatenbund wie heute hat keine Zukunft. Was das angeht, sind die USA besser aufgestellt.

Und ansonsten?
Rogoff: Ansonsten haben wir unseren Kopf tief in den Sand gesteckt. Die Staatsverschuldung, also die Verschuldung Washingtons plus die Defizite der Bundesstaaten und der Kommunen, ist höher als nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Rentenansprüche haben wir dabei noch gar nicht berücksichtigt. Die Schulden der Privathaushalte bewegen sich ebenfalls immer noch auf einem beängstigend hohen Niveau. Und wir befinden uns nicht auf einem Wachstumspfad, der diese Ungleichgewichte in naher Zukunft wieder ins Lot bringen könnte.

Aber an den Märkten erhalten die USA nach wie vor problemlos Geld. Wie lange können die Vereinigten Staaten ihren Status als sicherer Hafen noch verteidigen?
Rogoff: Die Schuldenpolitik wird nicht ewig so weitergehen können. Das eigentliche Problem ist, dass diese Diskussion in der Politik überhaupt noch nicht angekommen ist. Die Republikaner sprechen stattdessen über Steuersenkungen. Bei einer Verbesserung des Steuersystems bin ich sofort dabei – aber die Einnahmen insgesamt zu senken, das können wir uns nicht leisten. Präsident Barack Obama hat mit seiner Gesundheitsreform zwar ein wichtiges sozialpolitisches Thema auf den Weg gebracht, aber die Reform selbst ist völlig unterfinanziert. Damit wird sich das Defizit noch weiter erhöhen. Es wird keinen Staatsbankrott in den USA geben, aber wenn wir so weitermachen, werden wir in Amerika in sieben bis zehn Jahren eine weitere sehr schmerzhafte Krise erleben.

Steinbrück: Ich würde Ihrer Aussage widersprechen, dass die USA momentan in einer besseren Verfassung sind als Europa. Die Staatsschuldenquote ist höher als der durchschnittliche Wert in der Eurozone. Die Privatverschuldung liegt bei 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die wirtschaftliche und womöglich auch die politische Abhängigkeit der USA von ihren Gläubigern wird immer größer. Der wichtigste Gläubiger bleibt China. Und das amerikanische Krisenmanagement ist auch alles andere als vorbildlich, wie man bei dem Streit um die Erhöhung der Verschuldungsgrenze im vergangenen Jahr gesehen hat. Hinzu kommen die mangelhafte Infrastruktur in den USA, das schwache öffentliche Bildungssystem, Integrationsprobleme – die Aufgabenliste ist lang. Insofern wundert es mich immer, wenn viele amerikanische Experten schnell mit dem Finger auf Europa zeigen, anstatt zunächst vor der eigenen Haustür zu kehren.

Rogoff: Die Märkte geben Ihnen in gewisser Weise recht, da das Verhältnis zwischen Euro und Dollar relativ ausgeglichen ist. Ich bin selbst auch davon überzeugt, dass die USA in die falsche Richtung segeln. Es ist alles eine Frage des Timings. Die USA haben etwas mehr Zeit, ihre Probleme in den Griff zu bekommen. Es wäre einfacher und billiger, wenn wir sie direkt angehen könnten, aber das halte ich in der derzeitigen politischen Konstellation für fast unmöglich.

Was müssen die Amerikaner denn konkret unternehmen?
Steinbrück: Die Amerikaner haben nur zwei Möglichkeiten, ihr Defizit zu reduzieren: Steuern zu erhöhen und Ausgaben zu reduzieren. Da dürfen sie auch den Verteidigungshaushalt nicht ausklammern. Die Frage ist, ob der Präsident nach der Wahl über ausreichende Mehrheiten und die politische Durchsetzungskraft verfügen wird, um solche Schritte ergreifen zu können. Stattdessen versprechen die Republikaner im Wahlkampf Steuersenkungen in der Größenordnung von 600 bis 1200 Milliarden Dollar.

Rogoff: Das stimmt. Ich bin sehr viel auf Reisen und spreche mit vielen unterschiedlichen Leuten in den USA. Von denen bekomme ich immer dieselbe Antwort, wenn ich ihnen erkläre, dass wir die Steuern eher erhöhen sollten: „Ich kann nachvollziehen, was Sie sagen, aber bitte nicht meine Steuern.“

Steinbrück: Macht man sich in den USA keine Sorgen darüber, dass die internationalen Notenbanken, allen voran die amerikanische Federal Reserve (Fed), zu viel Liquidität in die Märkte gepumpt haben?

Rogoff: Es ist ein Experiment, mit dem wir nicht viel Erfahrung haben. Aber wenn die Zinsen schon fast bei null liegen und die Wirtschaft nicht anspringt, was bleibt einem dann anderes übrig, als Geld zu drucken? Es ist ein Risiko, aber wenn die Wirtschaft in Gang kommt, kann die Fed das Geld auch wieder aus dem Markt nehmen. Sie muss es sogar, sonst bekommen wir eine hohe Inflation. Als Akademiker kann ich Ihnen nur sagen: In der Theorie funktioniert das hervorragend, aber was in der Praxis passiert, wissen wir nicht.

Steinbrück: Haben wir denn nach dem Platzen der Dotcom-Blase und den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht schon ausreichend negative Erfahrungen mit der Politik des billigen Geldes gemacht? Im Nachhinein argumentieren viele Experten, die Niedrigzinspolitik des damaligen Fed-Chefs Alan Greenspan sei der Ausgangspunkt für die Finanzkrise 2008 gewesen.

Rogoff: Aber in Europa sind die Zinsen doch jetzt auch extrem niedrig. Glauben Sie, in Deutschland könnte sich infolgedessen auch eine Immobilienblase ­entwickeln? Die Häuserpreise beginnen doch bereits in die Höhe zu schießen.

Steinbrück: Mittelfristig ist diese Gefahr gegeben, und aus deutscher Sicht müsste die EZB deswegen über Zinserhöhungen nachdenken.

Rogoff: Das wäre für Staaten wie Portugal, Spanien, Irland und Italien, möglicherweise auch für Frankreich aber genau das falsche Mittel, um aus der Krise herauszukommen.

Steinbrück: Umso dringender brauchen wir dort Wachstumsprogramme, um die Ungleichgewichte bei Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit in den Griff zu bekommen. Aber erklären Sie das mal den eigenen Leuten oder den Wählern. Dann hören Sie immer: „Kann ich nachvollziehen, aber bitte nicht von meinem Geld bezahlen.“ 

 

Das Gespräch führten Alexander Marguier und Til Knipper

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