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(picture alliance) Ackermann und Merkel. Es gibt häufig eine befremdliche Nähe zwischen Wirtschaftselite und Politik.

Die Machterschleicher - Die neue Elite bestimmt den Kurs

CICERO ONLINE schaut zurück auf ein Jahr voller interessanter, bewegender, nachdenklicher oder einfach schöner Texte. Zum Jahreswechsel präsentieren wir Ihnen noch einmal die meistgelesenen Artikel aus 2011. Im Oktober: Den Banken ist es in der Krise gelungen, ihre Eigeninteressen als gesamtgesellschaftliche zu verkaufen. Und so konnte es geschehen, dass in der neoliberalen Ära Wirtschaft und Politik immer enger zusammenrückten

Das bestimmende Merkmal der herrschenden Klasse, schrieb Karl Marx, sei ihre Fähigkeit, Eigeninteressen zu Gesellschaftsinteressen zu machen. Marx hat in vielerlei Hinsicht mit seinen Theorien danebengelegen, doch in diesem Satz steckt eine wichtige Erkenntnis: Um wirklich zu herrschen, darf eine Klasse nicht einfach nur parasitär sein. Sie muss vielmehr glaubhaft machen, dass sie das Interesse der Allgemeinheit verkörpert.

Das müssen wir im Hinterkopf behalten, wenn wir uns mit der rätselhaften Macht der Finanzmärkte in diesem Augenblick der historischen Entwicklung des Kapitalismus befassen. Warum waren die europäischen und amerikanischen Regierungen bereit, Millionen zur Rettung der Banken auszugeben, während sie andere Unternehmen bankrottgehen ließen? Eine naheliegende Erklärung lautet: Den Banken ist es in der Tat gelungen, ihr ausgeprägtes Eigeninteresse in ein vermeintliches Gesellschaftsinteresse zu verwandeln. Dabei geht es nicht nur darum, dass die Banken wichtige Kapitalgeber sind, sondern ganz grundsätzlich um die Entwicklung des modernen Kapitalismus im vergangenen Vierteljahrhundert.
Ökonomen standen in dieser Phase vor einem Rätsel:

Wie konnte es sein, dass Amerikaner und Briten, die in flexiblen Jobverhältnissen mit geringem Kündigungsschutz arbeiteten, vertrauensvoll einen Großteil ihres Einkommens ausgaben, während deutsche Arbeitnehmer trotz ihrer vergleichbar hohen Jobsicherheit große Angst zu haben schienen, ihr Einkommen komplett zu konsumieren? Ein Teil der Antwort lag in den unterschiedlichen Wohnungsmärkten. In den USA und in Großbritannien war es im Gegensatz zu Deutschland vergleichsweise einfach, an Immobilienkredite zu kommen, was zu einem raschen Preisanstieg auf den Immobilienmärkten führte. Eigenheimbesitzer glaubten zuversichtlich, ihre Häuser seien ein dauerhafter Wohlstandsquell; sie nahmen Hypotheken auf, um ihren Konsum zu finanzieren, und häuften hohe Kreditkartenschulden an. Vor allem in den USA hatten Banken und Kreditinstitute vor mehr als einem halben Jahrzehnt damit begonnen, an Kunden mit geringer Job- und Einkommenssicherheit Kredite zu vergeben, Kredite also, deren Rückzahlung höchst ungewiss war, sogenannte „Subprimekredite“.

Das war möglich, weil die Banker herausgefunden hatten, wie sich diese Kredite bündeln und an den Sekundärmärkten (also an andere Banken und deren Anleger) als vermeintlich sichere Anleihen verkaufen ließen. In der Zeit der computerisierten Hochgeschwindigkeitstransaktionen hielten sich die Händler nicht mit der Frage auf, was ihre Papiere eigentlich wirklich wert waren, weil sie sie ohnehin gleich weiterverkauften. Dieses kurzfristig hochprofitable Geschäftsmodell löste auch ein weiteres Rätsel: Wie lassen sich Arbeiter mit niedrigem Lohnniveau und unsicheren Arbeitsplätzen dazu verführen, weiter zu konsumieren, um die Wirtschaft anzuheizen? Ganz einfach: indem sie Schulden aufnahmen, die ein umsichtiger und verantwortungsvoller Finanzsektor niemals hätte finanzieren dürfen.

Das Modell schien so lukrativ, dass Banken in Deutschland und ganz Europa diese Anleihen von US-Banken aufzukaufen begannen. Daraus ließ sich bei den Verkäufern realer Profit schlagen, auch wenn die Kredite, auf denen diese Profite gründeten, im Grunde genommen faul waren. Die amerikanischen Banken machten Gewinne, sie spülten aber auch Geld in die Gesamtwirtschaft. Als dann 2008 der große Crash kam, waren die meisten der reichen Industriestaaten längst hoffnungslos in dieses Hütchenspiel involviert.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wer von diesem System profitiert und warum sein Scheitern die Politiker vor ein Dilemma stellt.

Profiteure dieses Systems gab es überall, nur die Profite waren sehr ungleich verteilt. Eine winzige Schicht von Leuten aus der Finanzwirtschaft fuhr enorme Gewinne ein. Ein deutlich größerer Personenkreis, vor allem in den USA, Großbritannien, Irland und in einigen anderen Ländern, profitierte immer noch beträchtlich von den künstlich aufgeblähten Immobilienpreisen und den Kreditaufnahmen, die er aufgrund dieser hohen Preise bekommen konnte. Letztlich nutzte der Wohlstand, den der Finanzsektor auf diese Weise generierte, vorübergehend der ganzen entwickelten Welt.

Nun, da dieses Modell gescheitert ist, stehen die Politiker vor einem Dilemma, vor allem in jenen Ländern, die am stärksten profitiert hatten. Der einfachste Weg zurück zum schnellen Wohlstand der vergangenen Jahrzehnte wäre, das Modell wiederzubeleben.

Das wäre gleichzeitig das Eingeständnis, dass es den Banken gelungen ist, ihr Partikularinteresse erfolgreich als ein gesamtgesellschaftliches Interesse zu verkaufen: Die Rückkehr zum alten Modell wäre allerdings hochriskant, droht das System doch recht schnell wieder in eine ähnliche Krise zu geraten, vor allem, weil die Banken gelernt haben, dass sie sich auf staatliche Hilfe verlassen können, wenn sie sich mal wieder verzocken.

Das Grundproblem des Modells bleibt ebenfalls erhalten: Die Mehrheit profitiert ein wenig, während eine kleine Minderheit riesige Gewinne einfährt. Wenn das Modell aber kollabiert, zahlt vor allem die Mehrheit; die Minderheit profitiert weiterhin. Kann dieses Dilemma nun den Klassenkampf der postindustriellen Gesellschaft auslösen, den Konflikt zwischen dem Finanzsektor und dem Rest der Gesellschaft? Und wenn ja, kommt es zu einer Konfrontation zwischen der Finanzelite und den Kräften der Demokratie – zumal die Profiteure nur eine winzige gesellschaftliche Minderheit sind? Oder bedeutet die Abhängigkeit der Mehrheit vom Erfolg des Finanzsystems, dass der Demokratie gar nichts anderes übrig bleibt, als diese Abhängigkeit auch nach dem Crash wiederherzustellen?

Bei dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, müssen wir eine Besonderheit des Finanzsektors berücksichtigen: Sein Gegenstand ist das Geld selbst. Unternehmen und Einzelpersonen in fast allen anderen Sektoren des kapitalistischen Wirtschaftssystems können ihre Ressourcen zu Geld machen. Das ist besonders nützlich, wenn sie Engpässe bei ihren Geschäften überbrücken wollen. Obwohl sich also Unternehmer gerne über die verzerrenden Effekte des Finanzsektors auf ihre Geschäfte und den extrem kurzfristigen Zeithorizont der Finanzwirtschaft beklagen, sind sie doch froh, dass es diesen Sektor gibt.

Beispiel Großbritannien: Dort hat der Finanzsektor mehr als ein Jahrhundert einerseits die gesamte britische Wirtschaft dominiert, sich andererseits aber auch teilweise völlig von ihr abgekoppelt. In den dreißiger und in den siebziger Jahren ließ die Regierung deshalb untersuchen, ob der Finanzsektor auch dem Rest der Gesellschaft nutzt – oder nur sich selbst. In beiden Fällen stellten sich Unternehmer aus anderen Wirtschaftszweigen auf die Seite der Banker, denn die globalen Kapitalmärkte waren eine für sie wichtige potenzielle Fluchtroute aus finanziellen Engpässen. Heute wäre die Reaktion vermutlich ähnlich.

Lesen Sie auf der nächsten Seite von sozialen Spaltungen und gekauftem Einfluss.

Das ist aber noch nicht alles. Der Finanzsektor steht im Mittelpunkt eines größeren Prozesses der zunehmenden Wohlstandskonzentration, die auch zu politischen Zwecken eingesetzt wird. Die materielle Ungleichheit hat sich in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten in den meisten Teilen der entwickelten Welt kontinuierlich vergrößert, auch in Deutschland. Meist diskutiert man nur über die wachsende Kluft zwischen der Bevölkerungsmehrheit und den untersten 10 bis 15 Prozent der Einkommensschichten. Doch es wäre an der Zeit, dem oberen Ende des Spektrums mehr Aufmerksamkeit zu widmen: Das oberste Prozent entfernt sich mit Lichtgeschwindigkeit vom Rest der Gesellschaft, und innerhalb dieses einen Prozents übernimmt eine noch kleinere Gruppe die Führung. Die Kluft zwischen der Bevölkerungsmehrheit und den untersten 10 bis 15 Prozent bringt große soziale Probleme mit sich, die Kluft zur Spitze der Gesellschaft hingegen politische.

Mit extremem Reichtum lassen sich eben nicht nur Luxusjachten und Ferieninseln kaufen, sondern auch politischer Einfluss. Das sieht man deutlich an der Lobbyarbeit jener Unternehmen, die sich für die Deregulierung der amerikanischen Finanzmärkte eingesetzt haben, aber grundsätzlich findet sie überall statt, wo Unternehmen nach politischem Einfluss streben. Parteispenden und kostspielige „Geschenke“, mal legal, mal ungesetzlich, sind ein weitverbreitetes Schmiermittel zwischen Wirtschaft und Politik.

Paradoxerweise geschieht dies in einer Welt, die von der Ideologie des Neoliberalismus dominiert wird, der ja propagiert, dass Märkte frei von politischer Einflussnahme bleiben müssen – und umgekehrt, nach Ansicht orthodoxer Neoliberaler. Eine neoliberale Ära müsste also eigentlich ein Zeitalter sein, in dem die Beziehungen zwischen Unternehmen und Politikern schwächer und nicht intensiver werden. Das Paradox rührt von zwei Merkmalen des Neoliberalismus her: Erstens fördert er die Konzentration von Wohlstand, die eben auch politische Einflussnahme der Unternehmen ermöglicht. Zweitens kritisieren Neoliberale absurderweise ständig, die Politik habe sich zu weit von der Wirtschaft entfernt. Das hat dazu geführt, dass Gesetze abgeschafft wurden, die dafür sorgten, dass Politiker und Staatsbedienstete nicht nach dem Ende ihrer politischen Laufbahn bei Firmen und in Wirtschaftsbranchen anheuern, mit denen sie während ihrer Amtszeit eng zusammengearbeitet hatten.

Das per Lobbyismus wachsende Ungleichgewicht der Mächte sorgt in der Bevölkerung für Unbehagen und soziale Spannungen, die nicht entlang der üblichen, nunmehr schwindenden Klassenunterschiede verlaufen, auf denen unsere politische Parteienlandschaft beruht.

Historisch gesehen ist es den Wirtschaftseliten zumeist gelungen, den Großteil des Mittelstands für seine Interessen zu gewinnen, da es galt, sich gemeinsam gegen die organisierte Arbeiterschaft zu verteidigen. Dieses Bündnis war stets die Teilnahmebedingung der Wirtschafts­eliten am demokratischen System: Wann immer sie sich isoliert und abgedrängt fühlten angesichts einer sich verbündenden Mittel- und Arbeiterschicht, wandten sie sich gegen die Demokratie; sobald es ihnen gelang, sich mit dem Mittelstand zu verbünden, schlossen sie sich dem demokratisch-konservativen Block an, der in allen Industriestaaten außerordentlich erfolgreich ist.

Das wird sich nun möglicherweise ein wenig ändern, als Antwort auf mehrere Entwicklungen. Erstens sind die reichen Unternehmereliten sozusagen „denationalisiert“; ihr Besitz erstreckt sich über die Welt, sie operieren global. An der Innenpolitik eines Landes haben sie kein Interesse. Allianzen mit dem Mittelstand sind für sie nicht wichtig. Und zweitens hat sich die Bedrohung des Mittelstands durch die organisierte Arbeiterschaft stark verringert, da diese vor allem in der Fertigungsindustrie immer mehr geschrumpft ist, zugleich aber die unteren Einkommensschichten in der Dienstleistungswirtschaft noch nicht zu einer gemeinsamen politischen Identität gefunden haben.

Die herrschende Wirtschaftselite hat also keinen Bedarf mehr, den Mittelstand zu stützen, und dieser hat keinen Grund mehr, sich vor der Arbeiterklasse zu fürchten. Das könnte zu ernsthaften Spannungen zwischen Elite und Mittelstand führen, vor allem wenn das Verhalten Ersterer die Werte und Interessen Letzterer unterminiert. Allerdings ist unwahrscheinlich, dass dies in naher Zukunft zu einer parteipolitischen Wiederbelebung von Klassenkämpfen führt. Moderne Parteien haben keine starken Identitäten, sondern versuchen vielmehr, diese zu vermeiden. Parteianhängerschaft hat darum keine große Bedeutung mehr, von ihrer historisch-kulturellen Symbolik einmal abgesehen. Außerhalb der formellen und rituellen Wahlkampfarenen bilden sich aber neue Muster und Allianzen für spezifische Kampagnen. Das heißt nicht unbedingt, dass die Politik fließender und pluralistischer wird, denn die Dominanz der Wirtschaftseliten ist relativ stabil; solange sie den Finanzsektor bestimmt, wird sie weiterhin das allgemeine Gesellschaftsinteresse definieren. Doch es gibt da draußen eine Neubelebung – und mehr Unvorhersehbarkeit.

Colin Crouch lehrt an der University of Warwick. Gerade ist sein Buch „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ erschienen

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