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Die demografische Kapitulation

Nur mit ihrem eigenen Nachwuchs werden die westlichen Hightechnationen ihren Lebensstandard nicht halten können.

Deutschland steht vor der demografischen Kapitulation. Ein Prozess des kontinuierlichen Geburtenrückgangs, der vor 80 Jahren einsetzte, erreicht derzeit seinen kritischen Höhepunkt. Seit den zwanziger Jahren nämlich fallen zuerst die höheren Angestellten unter die Nettoreproduktion von 2,1 Kindern. Da diese Männer um die anspruchsvollsten Arbeitsplätze kämpfen, gewinnen sie Konkurrenzvorteile, wenn sie Zeit, Kraft und Geld nicht für Familien, sondern für Qualifikation und Stressabbau einsetzen. Mit der Zunahme leistungsintensiver Positionen nimmt die Zahl männlicher Versorgungsangebote an potenzielle Mütter ab. Um überleben zu können, müssen auch Frauen unbeschränkt Geld verdienen dürfen. Dafür erkämpfen sie noch im 20.Jahrhundert die Emanzipation mit den Rechten auf das Schließen von Arbeits-, Miet- und Kaufverträgen. Heute konkurrieren fast alle Männer und Frauen so hart wie damals wenige Spitzenkräfte. Um beide Geschlechter ausstechen zu können, müssen nun auch 90 Prozent der Frauen ihre besten Jahre (zwischen 15 und 35) für den Aufstieg einsetzen und von Kinderlasten freihalten. Bei Legalität der Geburtenkontrolle tendiert die Geburtenrate nur deshalb nicht gegen null, weil die Erfüllung der Sehnsucht nach einem Kind für eine Eins vor dem Komma sorgt. Dass die fünfzig höchstentwickelten Nationen im Durchschnitt sogar bei 1,45 Kindern liegen, verdankt sich partiell den Prämien und Privilegien der Bevölkerungspolitik. Will nun die Bundesrepublik bis 2050 nicht auf 50, sondern nur auf 69 Millionen Einwohner absinken, müssen jährlich 100000 Menschen einwandern und 140000 am Weggehen gehindert werden. Von demografischer Kapitulation spricht die Forschung, wenn in einer Population auf 100 Männer zwischen 40 und 44 Jahren nur noch 80 oder weniger Knaben zwischen null und vier Jahren folgen. In Deutschland liegt die Zahl derzeit bei 50 Knaben pro 100 Männern im beschriebenen Altersrahmen. Das große Brimborium um Elterngeld und Kinderkrippen dreht vor diesem Hintergrund an Stellschrauben im Mikrometerbereich. Selbst wenn hiesige Frauen schon ab 1.Januar 2008 nicht mehr 1,4, sondern 1,8 oder gar 2,1 Kinder gebären, woran niemand glaubt, hätte das vor 2050 keinen positiven Effekt auf die Relation zwischen Aktiven und Transferempfängern. Im Gegenteil, die Töchter von 2008 bis 2033 wären bis zur eigenen Mutterschaft zwischen 2033 und 2058 zusätzliche Leistungsbezieher. Schon 2005 träumen 52 Prozent der 18- bis 30-jährigen Deutschen von Auswanderung. Nur wer beizeiten geht, kann sich andernorts noch eine Altersversicherung aufbauen. Wie aber geht es hier weiter? Im Jahre 2005 gebären Migrantinnen und Ausländerinnen bei einem Bevölkerungsanteil von nur 19 Prozent bereits 35 Prozent der Babys. Wenn diese Kinder geschlechtsreif werden und ihren überdurchschnittlichen Geburtenanteil von 2005 halten, dann werden schon 2025 von 100 Neugeborenen 65 Migranten und Ausländer sein. Wenn auch diese Kinder zu 60 Prozent geringe oder gar keine Schulabschlüsse erwerben, dann sind auf Jahrzehnte hinaus von 100 Aktiven womöglich nur 50 oder 60 in einer Hightechnation erwerbsfähig. Bereits jetzt werden 15 Prozent aller Kinder direkt in die Hartz-IV-Versorgung geboren. Wenn sich dieser Satz bis 2025 ebenfalls verdoppelt, wächst nur noch eine Minderheit der raren Neugeborenen in Bildungsnähe auf. Die Bremerinnen beispielsweise gebären schon 2005 über 40 Prozent aller Babys in die Sozialtransfers. Von 100 Aktiven, die nach 2030 für mehr als 100 Alte sorgen müssen, sind also nur 70 dazu auch fähig. Die müssen dann auch noch für 30 Gleichaltrige und deren Nachwuchs die Transfers verdienen. Deshalb können nur Toren die zukünftigen Leistungsträger, aber auch die neuen Elterngeldkinder in Deutschlands Bevölkerungsvorhersagen einfach weiter mitrechnen. Die jungen Menschen aber gehören weder der Regierung noch den Anspruchsberechtigten. Sie sind Freie. Zwischen besseren Universitäten, attraktiveren Arbeitsplätzen und Regierungen, die ihren Lebensplänen stärker entgegenkommen, können sie jederzeit wählen. Das Problem kann, wenn überhaupt, nur durch eine gezielte und selektive Zuwanderungspolitik gelöst werden. Die Zahlen der jüngeren Vergangenheit sind freilich alles andere als ermutigend. Zwischen 1960 und 2000 gewinnt die Erste Welt gerade mal eine Million Fach- und Hochschulabsolventen aus der Dritten Welt. Ein lediglich auf 69 Millionen Einwohner sackendes Deutschland will bis 2050 aber für sich ganz alleine über vier Millionen solcher Turboimmigranten. Italien fordert drei Millionen für sich, Japan sieben. Allein die ebenfalls von der demografischen Kapitualtion bedrohten Teile der angelsächsischen Welt (Australien, Kanada, Irland, Neuseeland, Großbritannien) verlangen 65 Millionen. Dort könnte man pro Jahr beim Bedarf von 1,5 Millionen Immigranten spielend die deutschen Neugeborenen aus zwei Jahrgängen à 700000 absorbieren. Für die 64 jetzt bereits alternden Länder gelangt man – ohne China – bis 2050 auf einen Bedarf von mindestens 150 Millionen Fremden. Global fehlen Migranten keineswegs. Vierzig Nationen mit demografischer Hochrüstung, die sich zwischen 1950 und 2050 um die Faktoren neun bis 26 vermehren, hoffen schon um des inneren Friedens willen auf das Weggehen ihrer wütenden jungen Chancenlosen. Allein Afrika springt von 100 Millionen im Jahr 1900 über 900 Millionen im Jahr 2007 auf 1,94 Milliarden um 2050 (ohne Aids läge die Zahl gar bei 2,2 Milliarden). Und doch fahnden die führenden Länder nicht in Afrika und dem Islambogen nach Jungbürgern. Denn Armuts- und Terrorflüchtlinge ohne Fachabschluss können die jungen Leute nicht ersetzen, die von klein auf bei gebildeten Eltern mit Hightech heranwachsen, um sich dann ehrgeizig an den Erfindungen der Zukunft zu versuchen. Vor allem um solche Kräfte aber geht es beim Kampf um „skilled immigrants“ oder „foreign talent“. Deshalb müssen die vergreisenden Topnationen sich auf Gedeih und Verderb gegenseitig die Eliten abjagen. Das trifft längst auch auf die beiden kommunistischen Exgiganten zu, Russland und China. Der Geburtenrückgang durch Umwandlung der Bevölkerungsmehrheiten in lebenslange Arbeitsmarktkonkurrenten trifft China erst in den achtziger und Russland in den neunziger Jahren. Um ihre Zugehörigkeit zum Lager der demokratischen Kapitulation zu erkennen, müssen deshalb nicht die 40- bis 44-Jährigen, sondern die 15- bis 19-Jährigen mit den Null- bis Vierjährigen verglichen werden. Wie in Singapur, das bis in die sechziger Jahre Geldstrafen auf mehr als zwei Kinder verhängt, dann aber auf ein Kind pro Frau abrutscht, weil die Lohnkonkurrenz viel härter zugreift als die Staatspolizei, befindet sich jetzt auch China demografisch im freien Fall. Niemals wird man auf neue Computer und Mobiltelefone oder auch nur elegante Leinensakkos aus Russland warten. Ohne Devisen für Gas und Öl wäre längst offensichtlich, wie fertig das Land ist. Weitgehend unbemerkt wegen seines schieren Volumens von mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern bleibt, dass auch China jährlich schon eine halbe Million seiner Besten an Gebiete verliert, die teilweise ebenfalls von Chinesen bewohnt werden und die niedrigsten Geburtenraten der Welt aufweisen: Taiwan (1,2 Geburten pro Frau), Singapur (1,1), Hongkong (1,0) und Macao (0,8). Der Viererblock mit zusammen 35 Millionen Einwohnern wäre ohne Chinas permanenten Aderlass schon raus aus den Märkten. Von einer Ausweidung dieses Giganten durch die Kleinen zu reden, mag übertrieben anmuten. Aber dieser Prozess kann sich wie in Deutschland, das ganz ähnlich an die Schweiz und Österreich abgibt, nur beschleunigen. Im Jahre 2050 werden von Chinas dann 1,4 Milliarden Einwohnern 430 Millionen Rentner sein, für deren Versorgung nicht einmal falsche Prognosen à la Blüm vorliegen. Da niemand den jungen Chinesen weniger Intelligenz oder Fleiß bescheinigt als dem deutschen Nachwuchs, schwimmen sie bereitwillig mit im Pool, aus dem man „foreign talent“ fischt. Wegen geringster Immigrationsattraktivität und hoher Westorientierung seiner Eliten spricht wenig für Chinas Aufstieg in die Oberliga der preissetzenden Innovateure. Das Land bleibt deshalb erstrangiger Abwerberaum für die übrigen Spitzenländer. Erfolge bei der demografischen Kannibalisierung entscheiden über blühende Landschaften oder totale Verödung. Was in Vorpommern oder Brandenburg für einzelne Siedlungen gilt, trifft zwischen Ärmelkanal und Wladiwostok komplette Nationen. In den neuen Bundesländern werden in vier Dörfern Schule, Feuerwehr, Sparkasse und Postamt plattgemacht, um einen fünften Ort noch ein paar Jahre auszulasten. Gleichwohl triumphieren bald auch im letzten Dorf die Alten. Während in Deutschland über einreisende Luschen und ausreisende Asse gejammert wird, betreiben andere Hightech-nationen das Absaugen der Talente aus den baltischen, mitteleuropäischen, slawischen und ostasiatischen Räumen systematisch. Mit dem eigenen Nachwuchs schaffen wir es nicht durch das 21.Jahrhundert, wirbt etwa der Anglo-Raum ganz offen. Seine Prinzipien versteht jeder. Neubürger – ob daheim geboren oder hinzukommend – müssen den Leistungsdurchschnitt der jetzt Aktiven übertreffen, da in der internationalen Konkurrenz nur mithalten kann, wer durch innovative Produkte Preise auch setzen kann und nicht immer nur unterbieten muss. Fachabsolventen, die jünger als vierzig sind und Geld für die Überbrückung der Startzeit mitbringen, erhalten Eintritt in ein Territorium mit erstklassiger Infrastruktur, das nicht von Banditen, sondern von Gesetzen beherrscht wird. Das ist schon das ganze Angebot. Dann aber bleiben den Neuen von ihren Einkommen nicht nur 50, sondern mehr als 70 Prozent, damit sie Erziehung, Gesundheit und Altersversorgung auf freien Märkten einkaufen können. Lediglich körperlich und geistig Behinderte können sich auf staatliche Fürsorge verlassen. Wer schon daheim zu den Abgeschlagenen gehörte und nun im Westen seine Menschenrechte auf Grundeinkommen und Kinderreichtum bezahlt haben will, hört in Canberra oder Ottawa keineswegs nur Unfreundlichkeiten. Man gibt ihm – und das kostenlos – den Tipp, es doch in der Europäischen Union und dort vor allem in Deutschland oder Frankreich zu versuchen. Dort haben – im Januar 2007 auch für die Zukunft fixiert – Diskriminierte, nachziehende Familienangehörige und halblegal im Land schon Lebende Vorrang. Erst an vierter Stelle geht es um Tauglichkeit für den Arbeitsmarkt. Deshalb sind unter Einwanderern nach Frankreich und Deutschland nur zehn Prozent qualifiziert, von den Neubürgern Australiens und Kanadas aber 80 beziehungsweise 95 Prozent. Deshalb wachsen die Zahlen der Hartz-IV-Empfänger und der offenen Stellen wie in gegeneinander hermetisch abgeschotteten Welten gleichzeitig. Und deshalb hören die Deutschen mit Bestürzung, dass bei ihnen – als einziger Nation der Ersten Welt – „jüngere Jahrgänge seltener einen tertiären Bildungsabschluss haben als ältere“ (Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn e.V., April 2007). Das liegt vor allem daran, dass die Zugewanderten geringer qualifiziert sind als die Alteingesessenen (Statistisches Bundesamt, 4.Mai 2007). Nach Englands Abzug aus Hongkong im Jahre 1997 hat Kanada, anders als Deutschland, die exilwilligen Einwohner der Enklave mit offenen Armen empfangen. Drei Millionen Chinesen gäbe es zwischen Rhein und Oder, wenn Bonn damals wie Ottawa zugegriffen hätte. Das wäre schon mehr als der halbe Bedarf bis 2050 bei der Absackvariante auf 69 Millionen. Ist es jetzt zu spät? Wird Deutschland den Sozialstaat auf Behinderte beschränken, um von Hilfesysteminteressenten auf Leistungsträger zu wechseln? Und würden die qualifizierten Auswanderer überhaupt nach Deutschland kommen? Wer in Dortmund gebraucht wird, ist doch auch in Seattle willkommen und kann dort auch kommunizieren, weil ein Qualifizierter in jedem Fall Englisch, nicht aber Deutsch beherrscht. Bei einer angestrebten Umkehrung dieses katastrophalen Trends hätte Deutschland durchaus ein Pfund zum Wuchern, nämlich den Stopp des Abrisses von weiteren 350000 Wohnungen. Die Zerstörung des Wohnraums macht fehlende Bewohner zwar unauffällig, aber ersetzt sie nicht. Natürlich krachen andernfalls die Häuserpreise und mit ihnen die Banken, deren Immobilienpfänder durch Überangebot wertlos werden. Aber wenn bei Oranienburg für 700 Millionen Euro nun eine chinesische Stadt mit Pagodendächern geplant wird, sind Chinesen aus Fleisch und Blut vielleicht nicht mehr weit. Wie 1685 die Hugenotten nach Berlin und 1732 die Salzburger nach Ost­preußen treckten, so würden jetzt chinesische Neusiedler nach Brandenburg an der Havel, Halle an der Saale oder Bremerhaven am Nordseestrand strömen. Wir bräuchten sie dringend. Die erste halbe Million ließe sich mit verbrieften Titeln auf eine Wohnung ködern. Immerhin muss ein Tüchtiger nach Vancouver, Los Angeles oder Brisbane auch noch Geld für eine Unterkunft mitbringen. Bei uns würden Grips und Fleiß vollkommen reichen – doch der politische Wille zu solchen Maßnahmen fehlt selbst im Angesicht der demografischen Kapitulation. Gunnar Heinsohn ist Sprecher des Raphael-Lemkin-Instituts für vergleichende Völkermordforschung an der Universität Bremen. Einschlägig zum Thema ist sein 2006 erschienenes Buch „Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen“ (Orell&Füssli)

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