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Der Offline-Journalist

Er arbeitet als Feuilleton-Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, bezeichnet sich selbst als Internetjunkie und zieht für ein halbes Jahr den Stecker – Bericht über einen Onlineentzug.

Und? Wie oft haben Sie heute schon Spiegel online angeklickt? Dreimal? Fünfmal? Noch öfter? Warum eigentlich? Und bis wann ist solches Leseverhalten noch als Wunsch, sich zu informieren, zu verbuchen? Ab wann ist es Marotte oder neurotisches Suchtmuster? Ich würde zumindest bei mir sagen, dass es eine Sucht war. Weshalb ich mich irgendwann dazu entschlossen habe, den Stecker zu ziehen, ein halbes Jahr offline, digitales Hardcorefasten: Ich habe alles vom Rechner geschmissen, Firefox, Explorer, Skype und die Mailbox. Und hab’ mir selbst beim Entzug zugeschaut. Der erstaunlich gut verlief – nein, Moment, bevor ich von meiner Heilung erzähle, muss ich erst mal meine Niederlage eingestehen: Mein ganzer Versuch geht zurück auf eine bittere Niederlage gegen meinen Blackberry, der mir zeigte, dass ich wirklich abhängig bin. Dass ich spinne, wusste ich vorher schon: Mein erster Blick am Morgen galt genauso dem Display wie mein letzter Blick am Abend, ich hatte die kleine Kiste immer und überall dabei, in meiner Hemdtasche, sodass mir die Vibration bei jeder neuen Mail direkt ins Herz ging. Als wir in Elba Urlaub machten, dachte ich, so, jetzt lass ich diese blöde Kiste zu Hause. Zwei Wochen ohne, das werde ich ja wohl schaffen. Ist doch Urlaub. Von wegen. Keine 48 Stunden habe ich es ausgehalten. Dann bin ich unter bescheuerten Vorwänden einmal am Tag von unserem Häuschen am Strand hoch ins Dorf und habe im Internetcafé meine Mails und die wichtigsten Nachrichtenseiten gecheckt. Keine der Mails musste unbedingt beantwortet werden. Und es musste erst recht keine der Nachrichtenseiten gelesen werden: Ich konnte mir ja die gedruckten Ausgaben des Spiegels, der SZ und der FAZ am Kiosk nebenan kaufen und gemütlich am Strand lesen. Stattdessen saß ich mit meinem digitalen Pawlow’schen Reflex in diesem stickigen Internetcafé und scannte nervös Überschriften. Nach dieser absurden Erfahrung dachte ich, Rühle, du spinnst, jetzt hilft nur noch die Notbremse. Was ich da ein halbes Jahr lang gemacht habe, geht eigentlich gar nicht: offline sein als Journalist. Ich war der analoge Höhlenbewohner, der Zausel vom Dienst, der alle Rundmails verpasst, statt zu googeln in seinem wurmstichigen Gedächtnis herumkramt und verzweifelt versucht, mit rachitisch quietschenden Faxgeräten und postkutschenlangsamen Briefen Kontakt zur Außenwelt zu halten. Was wirklich schwer war. Und sehr einseitig: Die Leute sind es einfach nicht mehr gewohnt, Briefe zu schreiben. Es spricht Bände, dass ich den intensivsten Briefkontakt in diesen Monaten mit einem Gefangenen der JVA Bernau hatte. Es kam mir in den ersten Tagen vor, als läge direkt hinter der Benutzeroberfläche eine cinemaskopisch weite Welt, in die alle außer mir jederzeit hineinspazieren konnten, um Kraft zu tanken, durchzuatmen, sich darin zu verlieren, die endlosen, unendlich reichen Great Plains des Netzes. Vor mir lag dagegen nur noch ein Blatt, vor dessen weißer Leere ich nirgends hinfliehen konnte. Aber mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Und wenn es auch die ganzen Monate über sehr hart war, eines war auffällig: Ich habe konzentrierter an Texten gearbeitet. Eben weil ich nicht mehr ins Netz abbiegen konnte, wie ich das sonst viel zu oft tue. Jetzt war da nur noch das Dokument, an dem ich jeweils gearbeitet habe. Am meisten hat mir eigentlich Arts and Letters daily gefehlt, diese fantastische englischsprachige Seite, auf der einem Tag um Tag die schönsten Texte der englischsprachigen Zeitungen und Zeitschriften fangfrisch aufgeschnitten werden. Was für eine Schatztruhe, was für ein Reichtum! Ich bin, um diesen Verlust zu kompensieren, alle zwei Wochen an den Hauptbahnhof geradelt, hab mich mit ausländischen Zeitschriften eingedeckt und jedes Mal 60 Euro in dem Laden gelassen. Das Zweite, was mir auffiel: Ich habe in der „analogen Zeit“ wieder deutlich mehr gelesen. Im Netz habe ich vor allem gescannt und bin nervös von Text zu Text gesprungen, fast wie eine Flipperkugel. Ich bin da keine Ausnahme: Als Forscher des University College London das Onlineleseverhalten von Usern der British Library und der Internetseiten des britischen Erziehungsministeriums untersuchten, stellten sie fest, dass am Computer kaum jemand einen Text zu Ende las. Das lineare Lesen schien – quer durch alle Generationen – einer Art panischem Textgehoppel gewichen zu sein. Jetzt habe ich wieder lange Texte gelesen. Sehr viel Zeit. Den New Yorker. Vor allem aber Bücher. Updike, Genazino, García Márquez, ganze Nächte lang. Köstlich. Ich musste schließlich abends keine Mails mehr beantworten oder durchs Netz geistern. Während ich offline war, habe ich immer wieder gedacht, Mann, wann darf ich endlich wieder rein. Jetzt, wo die Mailwalze wieder über mich hinweggeht und ich täglich im digitalen Geprassel stehe, denke ich oft wehmütig an die stillen Tage in meinem Lesesessel zurück.

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