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dpa, Collage Cicero

Steuerdebatte - Staat und Gemeinwohl sind nicht identisch

Kisslers Konter: Das Gemeinwohl wächst, wo der Staat sich heraushält. Die Debatte um Steuerbetrug und Steuergerechtigkeit zeigt indes, dass die Deutschen dies nicht begreifen. Denn ihr einziger Gott ist der Staat

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Über eine Million Euro lässt die „Bundesministerin für Arbeit und Soziales“ es sich kosten, um für den größten anzunehmenden Anschlag auf die Generationengerechtigkeit zu werben. 1 Million und 150.000 Euro teuer war die Plakatkampagne der Andrea Nahles für „Das neue Rentenpaket“. Das Amt der Verantwortlichen steht unten links, der Hinweis auf eine Webseite ihres Ministeriums unten rechts, über beiden prangt sehr groß ein knallrotes Päckchen. Der Bund der Steuerzahler sieht in dieser PR-Aktion zu Recht eine Zweckentfremdung von Steuermitteln. Denn natürlich öffnete Andrea Nahles nicht ihre Privatschatulle, sondern bediente sich im noch nie so prall wie jetzt gefüllten Staatssäckel - beim Geld also anderer Leute.

Wo der Staat schweigt, wächst das Gemeinwohl


Ich sah das skandalöse Plakat in derselben Woche, da die Debatte um Steuermoral, Steuerbetrug und Steuergerechtigkeit eskalierte. Die Politikerin Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Grüne) hatte im Fernsehen ausgesprochen, was derzeit Allgemeingut ist: „Man nimmt dem Gemeinwohl das Geld weg“, wenn man Steuern hinterzieht. Der Politiker Ralf Stegner (SPD) erklärte, „Schaden am Gemeinwohl“ richteten die Steuerbetrüger an. Und die Evangelische Kirche in Deutschland erinnerte unter der Überschrift „Das Gemeinwohl leidet, wenn die Steuermoral sinkt“ an eine Denkschrift von 2009.

Natürlich muss der Bürger sich gesetzeskonform verhalten. Natürlich hat der Staat das Recht, Steuern zu erheben. Natürlich gibt es hoheitliche Aufgaben, die nur er wahrnehmen kann und zu deren Finanzierung er auf Steuern angewiesen ist: Landesverteidigung etwa, öffentliche Sicherheit, Straßenbau, weite Teile des Gesundheits- und Bildungswesens. Staat und Gemeinwohl sind aber nicht identisch. Zum Gemeinwohl gehört mehr, als der Staat sich herausnehmen darf.

Am stärksten wächst das Gemeinwohl, wo der Staat ganz schweigt: beim Ehrenamt, im solidarischen Miteinander von Familien, Gemeinden, Vereinen, durch jedes Augenpaar, das nicht wegschaut, durch jede Hand, die hilft, wenn das Schlimme geschieht und das Elend wächst. Vielleicht hat sogar Montesquieu Recht, der davon ausging, dass „jeder zum Gemeinwohl beiträgt, auch wenn er glaubt, nur seine Sonderinteressen zu verfolgen.“

Der einzige Gott der Deutschen ist der Staat


Die Deutschen wollen das nicht wahrhaben. Bei ihnen ist der Staat der einzige Gott, der keine anderen Götter neben sich dulden darf. Der linke Historiker Hans-Ulrich Wehler sprach im „Handelsblatt“ von der „auf Hegel zurückgehenden Staats-Metaphysik“. Diese „wirklich deutsche Eigenart“ sei hier „unglaublich weit verbreitet“, in anderen Ländern kenne man sie nicht. Der fatale deutsche Sonderweg hält aber keiner Überprüfung stand.

Geldverschwendung und Machtanmaßung sind dem deutschen Staat tief eingeschrieben. Man lese nur das alljährlich bizarrer sich füllende „Schwarzbuch“ der Verschwendung, man denke an das Milliardengrab namens Hauptstadtflughafen BER, an die finanziell völlig aus dem Ruder laufende Hamburger Elbphilharmonie, an sinnlose Bauprojekte zuhauf oder an die energiepolitisch gewünschte „EEG-Umlage“, die wenig mehr ist als eine weitere Umverteilung privater Gelder in den Staatsaushalt. Der Staat drapiert seine eigenen Interessen oft als Allgemeinwohl.

Der Staat hat keine Gewissensfunktion


Die staatsgläubigen Deutschen machen es ihm derart leicht, dass keine Aussicht auf Besserung besteht. Selbst Rekordeinnahmen versteht der Staat als Blankoscheck für weitere Bedürfnisse. Der „nostalgische Etatismus“ (Wehler) von Nahles und Co. ist quicklebendig und mästet seine Kinder.

Staat muss sein, Steuern müssen sein, doch das Gemeinwohl wächst eher, wenn der Staat zurückgedrängt wird, als wenn er sich ausdehnt ins Uferlose. Er hat, so Lord Acton, „dort nichts zu suchen, wo er nicht beweisen kann, dass etwas seine Aufgabe ist“. Und schon gar nicht – so abermals der liberale britische Historiker des 19. Jahrhunderts – hat der Staat „die Funktion des Gewissens inne. (…) Menschen können vom Staat nicht zum Guten erzogen werden, aber sie können leicht zum Schlechten verführt werden.“

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