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(picture alliance) Frank Bsirske greift gegen die Kirchen in die Klassenkampfkiste

Verdi-Chef - Bsirske im Arbeitskampf mit der Kirche

Wer für die Kirche arbeitet, darf nicht streiken und hat eingeschränkte Arbeitsrechte. Das wollen die Gewerkschaften nun für die 1,2 Millionen Mitarbeiter der Kirchen kippen. Der Konflikt eskaliert in Niedersachsen – gegen das Interesse vieler Beschäftigter

Verdi-Chef Frank Bsirske greift tief in die Klassenkampfkiste. „Ihr schreibt Geschichte!“, ruft er einigen Hundert Angestellten aus mehreren Kliniken und anderen Sozialeinrichtungen der evangelischen Kirche in Hannover zu, die in einen Warnstreik getreten sind. Schließlich gehe es hier, proklamiert der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft, um etwas sehr Grundsätzliches: das „Menschenrecht auf Streik“ und das im Grundgesetz geschützte Grundrecht, Tarifverträge auszuhandeln – auch für Kirchenmitarbeiter.

Dafür ist Bsirske an diesem Sommertag extra aus Berlin angereist. Denn es ist ein besonderer Tarifkonflikt, der seit mehr als einem Jahr in Niedersachsen als Pilotbezirk tobt. Es geht nicht nur um viele potenzielle neue Verdi-Mitglieder. Und es geht auch nicht nur um ein paar Prozent mehr Gehalt, sondern um das historische Sonderrecht der Kirchen, das aus der Weimarer Verfassung unverändert ins Grundgesetz übernommen wurde: das Recht der Kirchen, ihre inneren Angelegenheiten ohne Einmischung von außen regeln zu dürfen.

Dieses Selbstbestimmungsrecht beinhaltet nach Ansicht der evangelischen wie der katholischen Kirche die Möglichkeit, als größter Arbeitgeber in Deutschland Bezahlung und Arbeitsbedingungen ihrer 1,2 Millionen Erzieherinnen, Sozialarbeiter, Krankenschwestern oder Ärzte in paritätischen Kommissionen mit Mitarbeitervertretern direkt auszuhandeln – ohne Gewerkschaftsbeteiligung. Und vor allem ohne Streiks. „Mit unserem diakonischen Auftrag und dem partnerschaftlichen Verhältnis zu den Mitarbeitern ist ein Arbeitskampf unvereinbar“, sagt der Hannoveraner Landesbischof Ralf Meister.

Dieser sogenannte dritte Weg, auf dem sich die kirchlichen Mitarbeiter und ihre Dienstherren gleichberechtigt bewegen sollen, ist Verdi schon lange ein Dorn im Auge. „Die kirchlichen Unternehmen verhalten sich genauso wie andere Arbeitgeber“, sagt Bsirske, „zum Teil behandeln sie ihre Mitarbeiter noch schlimmer!“ Deshalb versucht Verdi jetzt in Niedersachsen Tarifverträge zu erzwingen. Sobald die ersten Bastionen fallen, kalkuliert Bsirske, ist die Sonderstellung der kirchlichen Arbeitgeber bundesweit kaum mehr zu halten. Die Kirchenoberen beider Konfessionen verfolgen diesen Stellvertreterkrieg argwöhnisch.

In einem gemeinsamen Positionspapier von Caritas und Diakonie heißt es dazu: „Der dritte Weg ermöglicht den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden, die religiöse Dimension ihres Wirkens nach innen wie nach außen auch in der Form des Arbeitsrechts zu leben.“

Seite 2: Inzwischen zahlen die Kirchen schlechter

Tatsächlich bezahlten die Kirchen ihre Mitarbeiter lange Zeit besser als die nichtkirchlichen Träger. Seit Mitte der neunziger Jahre hat aber der Kostendruck auf alle sozialen Einrichtungen in Deutschland drastisch zugenommen. Das betrifft auch die Kirchen, weil sie die Gelder für ihre Kliniken, Pflegeheime, Jugend- und Sozialhelfer wie andere Wohlfahrtsverbände und private Heimbetreiber fast vollständig von den Sozialkassen und der öffentlichen Hand erhalten.

Die Konsequenz daraus ist ein teilweise ruinöser Wettbewerb. Besonders drastisch ist die Lage in der Altenpflege und hier wiederum am eklatantesten in Niedersachsen. Denn die Pflegeversicherungen und die übrigen öffentlichen und staatlichen Kostenträger diktieren die Pflegesätze jeweils in Landeskommissionen. Und in Niedersachsen, angeführt von der schwarz-gelben Landesregierung, rühmen sie sich damit, die niedrigsten Sätze von allen Bundesländern zu zahlen.

Das hat dazu geführt, dass diakonische Werke Gehälter gesenkt, Arbeitszeiten verlängert und Personal abgebaut haben. Sie beschäftigen jetzt Billigkräfte als Leiharbeiter oder gliedern Tochterfirmen aus, für die der Kirchentarif nicht gilt. Bei den Sozialverbänden ist es allerdings teilweise noch schlimmer. So hat die Arbeiterwohlfahrt ihren bundesweiten Tarifvertrag schon vor Jahren gekündigt. Auch hier zahlen die einzelnen Einrichtungen ihre Mitarbeiter jetzt je nach Finanzlage und jeweils geltendem Haustarif. Oder ganz ohne Tarif. Von den Privaten, die inzwischen in Niedersachsen 60 Prozent der Altenheime betreiben, ganz zu schweigen.

Die Kirchen sind jedoch Verdis bevorzugtes Feindbild. Und Bsirske hat sich bewusst die evangelische vorgenommen. Anders als die katholische Kirche sind die Protestanten dezentral organisiert und in Niedersachsen auch noch in fünf Landeskirchen aufgeteilt. So kann der Geschäftsführer jeder diakonischen Einrichtung, auch wenn er formal an die kirchlichen Vereinbarungen gebunden ist, faktisch selber entscheiden, ob er sich daran hält. Verdi spricht deshalb gezielt Diakonieeinrichtungen an, in denen die Finanznot und die Unzufriedenheit der Mitarbeiter besonders groß sind. Gemeinsam mit der Ärztegewerkschaft Marburger Bund konnte man in Oldenburg bereits ein evangelisches Krankenhaus aus dem kirchlichen Tarifverbund herausbrechen. Die Klinik fand keine Ärzte mehr, weil die woanders mehr verdienen konnten. Nach wochenlangem Streik des medizinischen Personals gab die Klinik­leitung schließlich nach und schloss den ersten Tarifvertrag eines diakonischen Trägers mit einer Gewerkschaft.

Nach diesem Vorbild versucht Verdi nun, Haustarifverträge auch in den drei evangelischen Krankenhäusern in der Landeshauptstadt zu erzwingen. Ihr Problem allerdings: Die Streikbereitschaft des Klinikpersonals ist gering. Bei den Mitarbeitern von Alten- und Pflegeheimen ist der Organisationsgrad noch viel niedriger. Nur wenige der meist weiblichen Teilzeitpflegekräfte sind in der Gewerkschaft. Und selbst wenn, können sie die Arbeit nicht niederlegen, ohne die Versorgung der alten Menschen zu gefährden.

Seite 2: Die Kirchen meinen, Streit sei ein Relikt der Vergangenheit

Die Möglichkeiten der Gewerkschaft, Druck auf die kirchlichen Arbeitgeber auszuüben, ist deshalb im Moment gering. Das bestreitet Verdi-Chef Bsirske auch gar nicht. Er geht aber davon aus, dass der Unmut unter den rund 50 000 Diakonie-Beschäftigten in Niedersachsen wächst, weil es für die große Mehrheit von ihnen seit 2010 keine Gehaltserhöhung gegeben hat. Im Frühjahr 2011 scheiterten die Lohnverhandlungen im Rahmen des dritten Weges. Bsirske hofft, dass sich die evangelischen Arbeitgeber spätestens am Ende des Jahres mit den Mitarbeitervertretern und Verdi an den Verhandlungstisch setzen. Aufgrund des erhöhten Wettbewerbsdrucks ist inzwischen auch bei Kirchenleitung und Diakonie die Bereitschaft gestiegen, sich auf einen alten Vorschlag von Verdi einzulassen: einen Flächentarifvertrag für alle sozialen Träger in Deutschland, einschließlich Awo, Deutschem Roten Kreuz und Paritätischem Wohlfahrtsverband, abzuschließen. „Das würde den ruinösen Wettbewerb mit Dumpinglöhnen beenden“, hofft Bischof Meister.

Zusammen beschäftigen Kirchen und Wohlfahrtsverbände noch 60 Prozent des Personals in den Pflegeberufen. Ein bundesweiter „Tarifvertrag Soziales“ könnte deshalb von der Bundesregierung für allgemeinverbindlich erklärt werden und gälte dann auch für die privatwirtschaftliche Konkurrenz.

Es gibt aber noch einen Haken aus Sicht der Gewerkschaft: Die Kirche möchte den Flächentarifvertrag bisher nur für die anderen Träger – und ihn dann für sich übernehmen. Dafür müsste der Bundestag das Tarifvertragsgesetz ändern. Und die Kirchenbeschäftigten hätten dann weiterhin kein Streikrecht. Aus Sicht der Kirche kein Nachteil: „Streik ist ein Relikt alter Industriekultur und passt nicht ins 21. Jahrhundert. Da gibt es heute andere Wege“, sagt Christoph Künkel, Leiter der Diakonie Niedersachsen.

So haben sich beide Seiten vorerst ideologisch eingegraben. Und werfen sich gegenseitig vor, einen „Machtkampf auf dem Rücken der Beschäftigten“ auszutragen. Verdi wolle in Wahrheit nur ihren Einflussbereich ausdehnen und Mitglieder gewinnen, argumentieren die Kirchenvertreter. Tatsächlich hat die Dienstleistungsgewerkschaft seit ihrer Gründung eine Million Mitglieder verloren. „Die Kirchen wollen einen Dammbruch verhindern und mauern sich ein“, hält Bsirske dagegen und wirft ihnen bigottes Verhalten vor.

Die Beschäftigten selber werden kaum gefragt. Lothar Germer, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeitervertretungen in der niedersächsischen Diakonie und Verdi-Mitglied, argumentiert wie die Gewerkschaft: „Lohnfragen sind Machtfragen. Ohne Streikrecht haben wir keine Macht.“ Sabine Meyer, die als Förderlehrerin in einer großen kirchlichen Jugend- und Behindertenstiftung in Burgwedel bei Hannover mit fast 400 Mitarbeitern arbeitet und die dortigen Kollegen vertritt, ist dagegen, die Gewerkschaft reinzuholen und einen Tarifvertrag zu schließen. „Wir sind mit dem dritten Weg immer gut gefahren. Die Gehälter sind in Ordnung, die Mitarbeiter sind zufrieden.“

Sie weiß dabei die Mehrheit ihrer Kollegen hinter sich. Ein Ende des Kirchen-Tarifkampfs ist vorerst nicht zu erwarten. Beide Seiten warten jetzt erst einmal auf das Bundesarbeitsgericht. Das will am 20. November entscheiden, ob die Diakonie-Mitarbeiter streiken dürfen oder ob die Kirchen sich zu Recht auf ihre Sonderstellung berufen. Die unterlegene Seite wird danach vors Bundesverfassungsgericht ziehen, Verdi will den Streit notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte tragen.

Hans-Peter Hoppe, Vorsitzender des Diakonischen Dienstgeberverbands in Niedersachsen, verzweifelt langsam. Als junger Pfarrer war er in den achtziger Jahren selber in der ÖTV, bevor die in Verdi aufging. „Dass ich als Spät-68er heute als Arbeitgebervertreter unser Dienstrecht gegen eine völlige Zersplitterung der Tariflandschaft verteidigen muss, gegen meine eigene frühere Gewerkschaft“, stöhnt er, „das hätte ich mir nie träumen lassen.“ 

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