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(picture alliance) Gauck, Merkel und die marktkonforme Demokratie. Ein kritischer Blick ist vonnöten.

Merkel und Gauck - Die Demokratie-Lehrlinge

Merkel und Gauck zeigen ein irritierendes Verständnis vom bürgerlichen Staat. Ist es denkbar, dass die leidvollen Erfahrungen in der DDR Merkel und Gauck zu einem unscharfen Staatsbild verführt haben? Ein Kommentar

Wenn eine Aussage zu einer zweiten Aussage gehört, muss man beide zitieren. Hier zunächst die erste Aussage von Angela Merkel: „Eins ist klar: Gauck wird’s nicht.“ Und nun die zweite: „Ein wahrer Demokratielehrer“ sei Joachim Gauck.
Gestern pfui, heute hui – so lassen sich diese zwei Sätze interpretieren. Auf den ersten Blick. Auf den zweiten sieht’s anders aus: Mag die Kanzlerin auch nichts für die Person Gauck übrig haben, wie es ihr Widerwille gegen seine Wahl zum Bundespräsidenten deutlich macht – mit dem Ideologen Gauck herrscht Übereinstimmung.

„Mit dem Ideologen“? Bei dieser Wortwahl klappert die Schere im Kopf, zuckt der Finger schon über die Löschtaste. Mit Kritik am endlich gefundenen großen Geist von Schloss Bellevue macht man sich rasch der „lèse-majesté“ verdächtig.
Joachim Gaucks Freiheitspathos lässt keine Zweifel zu – wie ja Freiheitspathos in Deutschland ganz grundsätzlich über jeden Zweifel erhaben ist, lebten und litten die Deutschen doch allzu lang unter verschiedensten Formen von Unfreiheit – Joachim Gauck rund 50 Jahre seines Lebens. Wer will, wer darf da mäkeln?

Dennoch sei die hochheikle Frage erlaubt: Ist Leben in Unfreiheit und Leiden an der Unterdrückung schon hinreichender Befähigungsnachweis zum „Demokratielehrer“?

Freilich, ein Pastor, der in der DDR gegen Unfreiheit predigte und aufbegehrte, versteht viel von Unfreiheit – auch wenn er seine Opposition in der relativ geschützten Werkstatt der Kirche betrieb. Auf jeden Fall versteht Joachim Gauck mehr von Unfreiheit als ein westdeutscher Bundesbürger nach 60 Jahren im Freiraum des Grundgesetzes. Und natürlich versteht er noch viel mehr als ein von jahrhundertelanger Freiheitstradition behüteter Schweizer Journalist.
Was Unfreiheit betrifft, ist Joachim Gauck fürwahr ein wichtiger Lehrer; in seinem neuen Amt dürfte er sogar einer der wichtigsten werden.

Aber lernt man in der Diktatur auch die Freiheit kennen? Man lernt sie lieben. Von ganzem Herzen. Und doch: Erfahren, sinnlich erfahren lässt sich die Freiheit nur in der Freiheit.
Also verfügen viele westdeutsche Bundesbürger und auch freiheitsbehütete Schweizer Journalisten – je nach Alter – über längere Erfahrung mit der Freiheit als ehemalige DDR-Bürger.

Man darf sogar getrost behaupten: Die westdeutsche Bürgerschaft ist eine freiheitsbewährte Bürgerschaft. Sie hat Freiheit gelernt im Auf und Ab politisch bewegter Zeiten, in denen immer wieder die Frage nach der Freiheit auf der Tagesordnung stand: Adenauers Restauration und Westintegration, die Wiederbewaffnung ebenso wie die Spiegel-Affäre, Willy Brandts Ostpolitik, die Revolte der 68er, heute die Machtanmaßung der Märkte – und in den 60 Jahren Demokratie immer und immer wieder die Auseinandersetzung mit Deutschlands dunkler Vergangenheit.

Die Auseinandersetzung mit der Freiheit in der Freiheit war nichts Pathetisches, sondern Aufbruch, Orientierung, auch mal Verirrung freier Bürger, also demokratischer Alltag, also einfach nur Demokratie-Arbeit im Weinberg der Freiheit.

Benötigt der Weinberg dringend einen höchsten „Demokratielehrer“? Was steckt hinter dem Begriff, mit dem Merkel den Mann in aller Eile salbte, den sie nur Stunden zuvor auf gar keinen Fall zum Bundespräsidenten gewählt sehen wollte?

Was meint die Kanzlerin überhaupt mit Demokratie? Kürzlich war sie selber hilfreich bei der Klärung dieser Frage, als sie ihren Wunsch nach einer „marktkonformen Demokratie“ zum Ausdruck brachte.

Eine knappere Formel für ein monumentales Missverständnis ist kaum vorstellbar: Die Demokratie soll sich nach den Märkten richten – die gerade dabei sind, die Demokratie nachhaltig zu beschädigen.

Angela Merkels Formel war kein Versprecher. Schon am 18. Januar 2005 lobte sie in der Financial Times Friedrich August von Hayek (1899 bis 1992), den wohl größten Propheten mächtiger Märkte: Er habe „die geistigen Grundlagen der freiheitlichen Gesellschaft im Kampf gegen staatlichen Interventionismus und Diktatur herausgearbeitet“.

Wie aber hält es von Hayek, der offensichtlich zu Merkels Freiheits- und Demokratielehrern zählt, mit der Demokratie? Sie ist für den neoliberalen Meisterdenker „ein durch das Erpressungs- und Korruptionssystem der Politik hervorgebrachtes System“ – nichts als ein „Wortfetisch“.

Angela Merkels „marktkonforme Demokratie“ – Allmacht der Märkte?

Für von Hayek ist deshalb auch das demokratische Prinzip „one man, one vote“ ein Ärgernis: „Es kann vernünftigerweise argumentiert werden, dass den Idealen der Demokratie besser gedient wäre, wenn alle Staatsangestellten oder alle Empfänger von öffentlichen Unterstützungen vom Wahlrecht ausgeschlossen wären.“

Kein Wahlrecht für Beamte, Hartz-IV-Bedürftige und Rentner: Wer hat, der soll auch das Sagen haben – von Hayeks Demokratie-Utopie.

Die Bundeskanzlerin pries in ihrer Eloge auf den Demokratieverächter auch dessen Aktualität: „In der Globalisierungsdebatte sind seine Ideen hochaktuell.“

Leider: Der global entfesselte Finanzkapitalismus drängt die demokratisch legitimierte Staatsmacht seit der ersten Finanzkrise 2008 immer weiter in die Defensive. Die Kanzlerin hetzt von Gipfel zu Gipfel, um das Feuer zu löschen, das Brandstifter im Geiste von Hayeks entfacht haben.

Warum Gaucks Urteil über die Occupy-Bewegung falsch ist

Und wie kommentiert Joachim Gauck, neuester Demokratielehrer der Kanzlerin, die entgrenzte Macht der Märkte? Er hält, wie Spiegel Online zu berichten wusste, die Finanzmarktdebatte für „unsäglich albern“.

Kann man über Menschen, die sich gegen die Übermacht von Banken und Börsen auflehnen, verächtlicher den Stab brechen?

Der Pastor kanzelt die Occupy-Bewegung mit routiniertem Freiheitspathos ab: „Ich habe in einem Land gelebt, in dem die Banken besetzt waren.“

So simpel ist das: Wer zur Besetzung von Banken aufruft, macht sich jüngster Geschichtsvergessenheit schuldig. Wie kurz der Gottesmann springt!

Ähnlich kurz wie einst die Gründerväter des Neoliberalismus: Sie hatten nach dem Zweiten Weltkrieg den untergegangenen nazistischen Führerstaat, vor allem aber den kommunistischen Einparteienstaat vor Augen. Freiheitsbeseelt erdachten sie einen Marktradikalismus, der die Gesellschaft gegen totalitäre „Ismen“ immunisieren sollte: Marktismus gegen Marxismus, wie Kreuz und Knoblauch gegen Vampire.

Dabei verwechselten die damaligen Markt-Theoretiker den totalitär usurpierten Staat mit dem bürgerlichen Staat, mit dem viele von ihnen noch gar keine Erfahrung gemacht hatten, wurzelten sie doch geistig tief in der autoritären und antibürgerlichen deutschen Kultur.

So war für die frühen Neoliberalen Staat einfach Staat: totalitärer Staat gleich bürgerlicher Staat – nur graduell unterschiedlich in der Machtausübung. Und so erscheint den Neolibs seither auch der demokratisch verfasste Staat als verwerflich, weil stets der autoritären, wenn nicht totalitären Machtanmaßung verdächtig.

Doch der Begriff Staatstotalitarismus trifft bei genauem Hinsehen weder auf den Nazismus noch auf den Kommunismus wirklich zu. Es handelte sich vielmehr um Führer- und Partei-Totalitarismen. Die hatten sich des Staats bemächtigt, um ihn als organisatorisches Gerüst zu missbrauchen. Anstelle des Staats setzten sie Führer und Partei, Partei und Generalsekretär.

Der Staat jedoch, den die marktradikalen Staatsfeinde von heute bekämpfen, ist der bürgerliche Staat: gewaltengeteilt und demokratisch legitimiert.

Zur bürgerlichen politischen Kultur gehört, was gerne als „Zivilgesellschaft“ bezeichnet wird, sinnfälliger aber Bürgerschaft zu nennen wäre: Die Bürgerschaft erfüllt den Staat mit ihrem Leben, mit ihrem freien Geist.

Und die unternehmerischen Bürgerinnen und Bürger wirtschaften im Rahmen dieser selbst garantierten freien Gesellschaft: Denn die Freiheit der Wirtschaft gehört untrennbar zur Freiheit des bürgerlichen Staates.

Ist es denkbar, dass die leidvollen Erfahrungen in der DDR Angela Merkel und Joachim Gauck zu einem falschen, zumindest unscharfen Staatsbild verführt haben? Der bürgerliche Staat ist von grundsätzlich anderer Beschaffenheit als die verflossene DDR.

Denn der bürgerliche Staat ist nicht ein Staat, der bedroht. Er ist ein Staat, der beschützt: Einerseits vor sich selbst, durch Grundgesetz und Verfassungsgericht; andererseits vor Bedrohung und Beschränkung der Freiheit auch durch entfesselte, weil deregulierte Wirtschaftsmacht.

Genau, der bürgerliche Staat ist ein Staat, der befreit, weil zur Freiheit des Bürgers Sicherheit gehört, nicht allein physische, auch soziale. Wie jeder Unternehmer, wenn er etwas unternimmt, bedarf der sozial Schwächere einer materiellen Besicherung, bevor er seine theoretische Freiheit umsetzt in Bürgerengagement – welches ja Joachim Gauck nicht müde wird zu fordern.

Wie begegnet man in diesem Staat Menschen, die genau das tun: zum Beispiel Demonstranten vor Börsen und Banken, zum Beispiel Occupy-Jugendlichen? Blafft man sie an, weil ihre „Montagsdemonstrationen“ in der freien Bundesrepublik mit den legendären Montagsdemonstrationen gegen Honeckers Diktatur nicht verglichen werden können? Ist ihre Art, Demokraten zu sein, nichts wert, weil sie wenig Ahnung davon haben, um wie viel mehr es damals der Demokratiebewegung in der DDR-Diktatur ging?

Richtig, im Reich des Kommunismus brauchte es Mut, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen. Es war ein Kampf, der Helden schuf. Einige Pastoren der DDR dürfen als solche bezeichnet werden. Respekt ist ihnen gewiss. Auf alle Zeiten.
Der bürgerlich-demokratische Rechtsstaat dagegen bedarf keiner Helden. Wer gegen die Verächter der Demokratie kämpft, braucht keinen Mut. Es genügen Zivilcourage – und das Grundgesetz.

Allerdings ist stets eine ausreichende Zahl wachsamer Demokraten vonnöten. Und deren kritischer Blick muss sich nicht nur auf den Staat selber richten, sondern ebenso auf neue Bedrohungen der Freiheit: beispielsweise durch Marktmächte und Finanzmächte, die mit feudaler Selbstverständlichkeit das Schicksal von Nationen, Gesellschaften und Bürgern beeinflussen, sogar bestimmen.

Ja, durchaus: In der aktuellen Auseinandersetzung um demokratiekonforme Märkte oder marktkonforme Demokratie können Demokratielehrer wertvoll sein – vor allem dann, wenn sie bereit sind, immer auch selber Lehrlinge zu bleiben.

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