Corona-Maßnahmen - Die Stunde der Exekutive ist vorbei

In Bayern, Hamburg und im Saarland haben Gerichte die Corona-Beschränkungen für rechtswidrig erklärt. Man wisse viel zu wenig über das Virus, um derart massiv Freiheiten einzuschränken. Gut so. Es wird Zeit, die Exekutive an das Grundgesetz zu erinnern.

Proteste gegen die Einschränkungen der Grundrechte in Baden-Württemberg / dpa
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Dreimal haben jüngst Gerichte über die Corona-Maßnahmen von Landesregierungen geurteilt, und dreimal setzte es eine Ohrfeige für die Exekutive. In Hamburg, Saarbrücken und München stellten die Richter ein unterschiedlich großes Stoppschild auf, immer mit der Mahnung: So geht es nicht! Das muss sich ändern!

Neben vielen beunruhigenden Nachrichten hält die Corona-Zeit auch eine tröstliche Botschaft bereit: Die Gewaltenteilung funktioniert, die Gerichte sind unabhängig, der Entzug von Grundrechten ist keine Lappalie und bleibt begründungspflichtig. Die Stunde der Exekutive scheint wieder vorbei zu sein, die Parlamente und die Gerichte kommen in Tritt, die Kontrolle funktioniert, das Grundgesetz gilt. Das ist wirklich gut so – und kann nicht ohne Folgen bleiben für die Bundespolitik.

Mitleidlose Klarheit

Liest man sich die drei Urteile durch, dann war die Watschen in Saarbrücken am lautesten. Dem Ministerpräsidenten müssen noch die Ohren klingeln. Erst am 16. April hatte Tobias Hans (CDU) in einer Pressekonferenz erklärt, sein Land sei „sehr erfolgreich“ gewesen bei der Eindämmung der Seuche. Da jedoch „diese Pandemie eine Gleichung mit vielen Unbekannten“ bleibe, müssten die Ausgangsbeschränkungen bis zum 3. Mai aufrechterhalten werden. Bis dahin brauche „triftige Gründe“, wer sein Haus verlassen möchte.

Diesen Fahrplan hat der Verfassungsgerichtshof des Saarlands am 28. April kassiert. Ab sofort seien die Ausgangssperren aufzuheben. In mitleidloser Klarheit schreiben die Richter: „Der Verlust des Grundrechts der Freiheit der Person ist Tag für Tag der Freiheitsbeschränkung ein endgültiger Nachteil. Er kann für die verstreichende Zeit nicht wieder ausgeglichen werden.“ Es handele sich bei der Corona-Pandemie, heißt es vielleicht in Anspielung auf den Satz von Hans, um ein fundamental unbekanntes, ja unbegriffenes Phänomen.

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Unwissen ist keine Basis

Die Richter konstatieren die „völlige, auch unter virologischen Sachverständigen offenbar vorhandene Unklarheit, wie das Virus konkret wirkt und welche Maßnahmen auf welche konkrete Weise wirklich geeignet sind, seine Ausbreitung zu vermindern oder ihr entgegenzutreten.“ Vielfältiges Unwissen aber sei eine schwache Basis, um derart massiv die Freiheit der Person einzuschränken. Die „begleitende Rechtfertigungskontrolle“ habe versagt. Die Regierung konnte nicht überzeugend darlegen, dass durch Ausgangsverbote der Gesundheitsschutz wirklich steige.

Der Vergleich mit den Zahlen anderer Bundesländer gebe eine solche Annahme nicht her. Und dann bringen die Saarbrücker Richter manche Zahlengläubigkeit, die aus den Verlautbarungen des Robert-Koch-Instituts ebenso spricht wie aus den Statements der Kanzlerin, zu Fall: „Absolute Zahlen einer Zunahme von Infektionen mit dem Sars-Cov2-Virus belegen nichts außer der Zunahme selbst. Sie sind (…) aussageleer. Steigt die Zahl der Infizierten, kann das auf vielerlei Gründen beruhen: Die Zahl der Infizierten und Kranken wird von den Gesundheitsbehörden derzeit in kein Verhältnis zur Zahl der Getesteten und Nichtgetesteten gesetzt. Die Zahl der Verstorbenen lässt nicht erkennen, ob Menschen an der Virusinfektion oder gelegentlich der Virusinfektion verstorben sind.“

Die Bevölkerung unter „Generalverdacht“

Die Verfassungsrichter folgen damit einer Position, die bisher nicht mehrheitstauglich war. Sie kündigen die Überzeugung von den „Corona-Toten“ auf, indem sie die Differenz benennen zwischen Todesursache und Todeszeitpunkt. Man kann mit einem Virus sterben, ohne an diesem gestorben zu sein. Auch Letalität ist eine „Gleichung mit vielen Unbekannten“ (Hans).

Außerdem heißt es im wahrlich bemerkenswerten Saarbrücker Urteil: „Nachvollziehbar verweist der Beschwerdeführer darauf, dass er sich mit dem Verlassen der eigenen Wohnung unmittelbar einem 'Generalverdacht' aussetzt und jederzeit einen triftigen Grund glaubhaft machen können muss.“ Das ist wahrlich harter Tobak. Die saarländische Regierung unter Tobias Hans hat – im berechtigten Anliegen des Gesundheitsschutzes – weit über das Ziel hinausgeschossen und ihre Bevölkerung unter „Generalverdacht“ gestellt, die Beweislast also umgekehrt.

Bayern gegen das Grundgesetz

Neuer Normalfall sollte der Quarantänebürger sein, Mobilität wurde begründungsbedürftig. Damit muss ab sofort und nicht erst am 3. Mai Schluss sein. Glimpflicher kam Ministerpräsident Markus Söder (CSU) davon. Der bayerische Verwaltungsgerichtshof München urteilte am 27. April, dass es gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße, wenn einige Läden, etwa Buchgeschäfte und Fahrradhandlungen, in beliebiger Größe wieder geöffnet werden dürfen, während andere Geschäfte eine maximale Verkaufsfläche von 800 Quadratmetern aufweisen müssen.

Bayern hat, um die Epidemie einzudämmen, gegen das Grundgesetz verstoßen, gegen Artikel 3, Absatz 1: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Eine Petitesse ist das nicht. Die Staatsregierung kündigte mittlerweile „Korrekturen“ ihrer Bestimmungen an. Man wolle, so Söder, weiterhin die Balance wahren, denn „das Virus ist weitgehend unbekannt. Wir sind gut beraten, einen Gleichklang aus Verantwortung und Wissenschaft zu halten.“

Regeln für das Unbekannte?

Da ist es wieder: Das vollends Unbekannte, das nach der Bekanntgabe eindeutiger Regelungen verlange. Das Virus schert sich nicht um unser Grundgesetz, aber wir müssen es. Einen sehr deutlichen Ton hatte das Hamburger Verwaltungsgericht bereits am 22. April in einem vergleichbaren Fall angeschlagen. Die Beschränkung der zulässigen Verkaufsfläche auf 800 Quadratmeter sei ein nicht gerechtfertigter Eingriff in das „Grundrecht der Berufsfreiheit“.

Geklagt hatte der Betreiber eines Hamburger Sportgeschäfts. Der Senat musste sich vom Gericht belehren lassen, dass es „keine gesicherte Tatsachenbasis“ gebe für „die Annahme, dass von großflächigen Einzelhandelsgeschäften eine hohe Anziehungskraft für potentielle Kunden mit der Folge ausgeht, dass allein deshalb zahlreiche Menschen die Straßen der Innenstadt und die Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs benutzen werden.“

Zwischen Regierung und Recht 

Es komme auf das Warenangebot an und die Lage. Ebenfalls peinlich für die Stadtregierung unter Peter Tschentscher (SPD) ist der richterliche Hinweis, es liege auf der Hand, „dass die für alle (...) geöffneten Verkaufsstellen geltenden spezifischen Vorgaben auch in großflächigen Einzelhandelsgeschäften umsetzbar sind, in denen die Möglichkeiten einer physischen Distanzierung zumindest ebenso gut wie in kleineren Einrichtungen oder sogar besser als dort einzuhalten sind. (…) Die Differenzierung allein anhand des Maßes der Verkaufsfläche ist nicht unmittelbar infektionsschutzrechtlich begründet.“

Was folgt aus den Urteilen von Hamburg, München, Saarbrücken? Regierungen erlassen drakonische Maßnahmen auf schwankendem faktischen Grund. Regierungen werden mit hohen Zustimmungswerten für eine Politik belohnt, die sich am Rand des Zulässigen bewegt und manchmal jenseits dessen. Regierungen werden von Gerichten an den Inhalt des Grundgesetzes erinnert.

Regierung müssen sich sagen lassen, was „auf der Hand liegt“ und was „aussageleer“ ist, wo es eine „Rechtfertigungskontrolle“ braucht und wo ein „endgültiger Nachteil“ entsteht. Der Versuchung zum Durchregieren sollten Regierungen auch in Krisenzeiten widerstehen. Gut, dass die Gerichte ihrer Aufgabe nachkommen. Und besser noch, wenn die Stunde der Exekutive sich dem Ende zuneigt. Ein Land, in dem nur die Regierung herrscht, ist kein Land, in dem Gemeinsinn gedeiht und Gemeinwohl wächst. Auf beide aber wird es mehr denn je ankommen – vor, mit und nach Corona. Vor, in und nach der Rezession.

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