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Interview mit EU-Währungskommissar Moscovici - „Es gibt keine nationale Antwort auf diese Herausforderungen“

Die Europäische Union steht vor zahlreichen Problemen: Flüchtlingskrise, drohender Brexit und Vormarsch der Nationalisten, um nur einige zu nennen. Währungskommissar Pierre Moscovici schlägt angesichts dessen einen europäischen Finanzminister und Anleihen für Flüchtlinge vor

Autoreninfo

Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Europa steckt in der Krise. Nach dem Schuldenstreit mit Griechenland und den ungelösten Problemen mit den Flüchtlingen droht nun auch noch der Brexit, also der Austritt Großbritanniens aus der EU. Wie wollen Sie diesem Teufelskreis entkommen?
Als Jean-Claude Juncker 2014 zum Präsidenten der EU-Kommission ernannt wurde, hat er gesagt, dies sei die „Kommission der letzten Chance“. Manch einer meinte damals, dass das eine etwas zu dramatische Formulierung sei. Doch nun sehen wir, dass sie noch untertrieben war. Wir sind nicht nur die Kommission der letzten Chance, sondern auch die Kommission der Krisen. Juncker spricht von einer „Polykrise“. Wenn wir uns umschauen, sehen wir zahlreiche Herausforderungen: die Flüchtlingskrise, der Kampf gegen den Terrorismus, die sozialen Verwerfungen, die die Wirtschaftskrise hinterlassen hat, der Vormarsch der Populisten, die Krise in Griechenland. Und nun auch noch die Frage, wie wir Großbritannien in der EU halten können, ohne unsere Prinzipien und Werte aufzugeben…

Wie wollen sie diese „Polykrise“ in den Griff bekommen? Gibt es noch Grund zur Hoffnung?
Was mich optimistisch stimmt, ist Folgendes: Die Krisen heizen zwar den Populismus an. Aber gleichzeitig wird den Bürgern mehr denn je bewusst, dass es nur europäische Lösungen geben kann. Ich bin davon überzeugt, dass der europäische Gedanke am Ende triumphieren wird, denn es gibt keine nationale Antwort auf diese Herausforderungen. Man kann die Flüchtlingskrise nicht auf nationaler Ebene lösen, man kann den Terrorismus nicht nur in einem Land bekämpfen, man kann den Euro per definitionem nicht im Alleingang auf eine solidere Basis stellen. All diese Herausforderungen rufen ohne Zweifel nach einer neuen Definition der EU, nach einem anderen Europa − aber bestimmt nicht nach weniger Europa und schon gar nicht nach einem Abschied von Europa. 

Sie sagen, dass Sie nicht weniger Europa wollen − doch genau das vereinbart die EU doch gerade mit dem britischen Premier Cameron. London wird noch mehr von Europa abrücken, wir verabschieden uns von der „immer engeren Union“ im EU-Vertrag…
Was mit Herrn Cameron vereinbart wurde, kann ohne Vertragsänderung realisiert werden. Wir bleiben also im Rahmen unserer Union. Hinzu kommt, dass das Vereinigte Königreich schon immer eine Sonderbeziehung mit der EU gehabt hat. Es ist nicht Mitglied der Eurozone, macht nicht bei Schengen mit, und hat deshalb seine eigene Währung und seine eigenen Grenzen. Auch beim EU-Budget haben die Briten immer eine besondere Haltung eingenommen. Wir brauchen Großbritannien in der EU. London ist politisch wichtig, aber auch wirtschaftlich. Aber wir bleiben bei unserer Philosophie, bei der europäischen Idee.

Wie sieht es mit der Eurozone aus? Kann sie weiter vertieft und gestärkt werden − trotz der Zugeständnisse an die Briten?
Davon bin ich zutiefst überzeugt. Was wir mit den Briten ausgehandelt haben, bremst die Fortschritte in der Eurozone nicht aus. Es geht lediglich darum, zu garantieren, dass die Länder, die außerhalb der Eurozone bleiben, ihre eigene Identität behalten können − allerdings ohne Vetorecht zu Entscheidungen der Eurozone.

Wie stellen Sie sich denn Fortschritte in der Eurozone vor? Bisher bewegt sich wenig, Deutschland hat den Reformbericht der fünf EU-Präsidenten in die Schublade gelegt…
Wir brauchen eine effizientere und demokratischere Regierungsführung. Ich denke, dass der Fünf-Präsidenten-Bericht eine interessante Grundlage darstellt. Natürlich ist mir klar, dass es wegen des britischen Referendums und der Wahlen in Frankreich und Deutschland schwierig wird, vor Ende 2017 ehrgeizige Reformen anzugehen. Aber wir müssen das Terrain bereiten. Ich glaube immer noch, dass wir ein europäisches Schatzamt brauchen, einen europäischen Finanzminister, demokratischere Debatten sowohl in den nationalen Parlamenten als auch im Europaparlament, eine bessere Integration der Eurozone, und eine Finanzkapazität − zum Beispiel für eine komplementäre Arbeitslosenversicherung. Wir müssen diese Debatte in Ruhe führen, aber auch entschieden.

Aber wann? Können wir wirklich bis Ende 2018 warten?
Der Bericht der fünf Präsidenten sieht zwei Phasen vor. Die erste hat schon begonnen und ich hoffe, dass sie zum Ziel führt − einschließlich der gemeinsamen Einlagensicherung im Rahmen der Bankenunion. Ich weiß, dass dies ein schwieriges Thema für die Deutschen ist, aber man muss ergebnisoffen und mit dem Willen zur Einigung verhandeln. Die zweite Phase wird 2017 beginnen, aber wir müssen sie schon jetzt vorbereiten. Deshalb finde ich auch, dass politische und intellektuelle Debatten zu diesen Themen nicht verboten sind. Ganz im Gegenteil, sie sind dringend nötig!

Kann in der Zwischenzeit die Eurokrise wieder ausbrechen? Portugal hat ja schon wieder Probleme an den Finanzmärkten…
Mehrere Länder − und zwar nicht die wenigsten − hatten in der Vergangenheit Budgetprobleme. Italien, Frankreich und Belgien waren vor einem Jahr im Fokus, heute sind es Spanien, Portugal und vielleicht erneut Italien, die uns Sorgen bereiten. Aber wir haben Werkzeuge, um mit diesen Problemen umzugehen: das Two Pack und das Six Pack (während der Eurokrise beschlossene Regeln und Verfahren, Anmk. d. Red.). Das hat es uns erlaubt, konstruktiv mit der portugiesischen Regierung zu verhandeln. Ich würde nicht von „business as usual“ sprechen − aber das sind Mechanismen, die uns zusammenschweißen.

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