Porträtbild von Roger Willemsen.
„Er war ein Kritiker, aber kein Zyniker” / picture alliance

Roger Willemsen - „Er hatte einen Blick für die eigentlichen Geschichten“

Im Februar verstarb Roger Willemsen. Die Literaturkritikerin Insa Wilke bringt nun sein letztes Buch heraus. Darin schlägt der Universalgelehrte einen ungewohnt melancholischen und ernsten Ton an

Autoreninfo

Björn Eenboom ist Filmkritiker, Journalist und Autor und lebt im Rhein-Main-Gebiet.

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Frau Wilke, Sie sind die Herausgeberin von Roger Willemsens letztem Buch „Wer wir waren“. Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Dem Buch liegt Roger Willemsens letzter Text zugrunde. Es ist die längere schriftliche Fassung einer Rede über die Zukunft, die er im Sommer 2015 gehalten hat. Zu dieser Zeit arbeitete er intensiv an einem neuen Buch, das den Titel „Wer wir waren“ tragen sollte. Als er krank wurde, stellte er die Arbeit an diesem Projekt ein. Wir werden also das eigentliche Buch nie lesen können. Die Rede gibt aber einen Eindruck davon, welche Gedanken ihn für „Wer wir waren“ umgetrieben haben.

Sie waren eng mit Willemsen befreundet und sind auch seine Nachlassverwalterin. Gab es Gespräche darüber, wie dieses Buch ausgesehen hätte?

Wenn er geschrieben hat, arbeitete er immer sehr konzentriert, sehr für sich, bis er ein Problem gelöst hat. Wir haben viel über die Form des Buches zu „Wer wir waren“ gesprochen. Die Perspektive der Nachzeitigkeit war für ihn ja mehr als ein Trick.   

Gab es denn noch einen Austausch über diese nun vorliegende Fassung des Buches?

Porträt Insa Wilke.
Insa Wilke / © Frank Mälder

Nein, die Veröffentlichung der Rede in Buchform ist tatsächlich meine Entscheidung gewesen. Ich weiß, wie ernst es ihm mit dieser Rede war. Es hat ihn sehr beschäftigt, ob die Leute das auch verstehen, als er sie im vergangenen Sommer gehalten hat. Das war für mich ein Grund, diese Rede, die ja sein letzter Text ist, zugänglich zu machen. Nach seinem Tod haben außerdem viele Leute Briefe geschickt, an den Verlag oder den Afghanischen Frauenverein, dessen Schirmherr er war, und gefragt, ob er sich noch zur aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation geäußert habe. Ich glaube, dass dieser Text nicht konkret, aber doch in grundlegender Weise darauf reagiert. Auch darum ist es mir so wichtig gewesen, ihn zu veröffentlichen. Vielleicht ist diese Rede denen, die Roger Willemsens Scharfsinn, Mut und Humor vermissen, ein kleiner Trost. Ich glaube, er wäre damit einverstanden gewesen, sie zu veröffentlichen.

Wer sind wir denn in seinen Augen gewesen?

Wenn ich jetzt als Leserin seines Textes mit einem Zitat antworten darf, dann sind wir „jene die wussten, aber nicht verstanden. Voller Informationen, aber ohne Erkenntnis. Randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir von uns selbst nicht aufgehalten.“ Um diese fatale Doppelung geht es immer wieder in seiner Rede. Um dieses „Wir“, das sich selbst nicht aufhält, obwohl es weiß, dass es sich doch unbedingt aufhalten müsste.

Worum ging es Willemsen konkret?

Darum, die Welt, also uns, zu beschreiben. Ein Feld, das in der Rede zum Beispiel wichtig ist: die ökologische Katastrophe. Ein anderes: die Veränderung des Bewusstseins im Zuge des technischen Fortschritts. Es kommt ihm dabei jeweils nicht auf eine „kulturpessimistische“ Kritik an, den Begriff des Kulturpessimismus entlarvt er ja als Entlastungsstrategie.

Wie ging er dabei vor?

Roger Willemsen fragt in seiner Rede nach den Konsequenzen für unser Handeln, die wir aus den sozialen, politischen, mentalen und ökologischen Entwicklungen ziehen. Das scheint mir wichtiger zu sein als das Urteil, das mit einer Kritik ja immer verbunden ist. Also eine kritische Haltung, aber eine, die Handlungsspielräume öffnet.

Über den technologischen Fortschritt, etwa die Erfindung des Mobiltelefons sagte Roger Willemsen, dass es unser Bewusstsein neu formatiert habe, das zu verkümmern drohe. Nun ist Technologiekritik kein neues Phänomen. Inwiefern ist seine Kritik da überhaupt berechtigt?

Es gibt in dem Text diese schöne Passage, wo Roger Willemsen die Fehldeutungen der Zukunft aufzählt. Er hat ganz sicher ein Bewusstsein dafür gehabt, dass er in Traditionen der Gesellschaftskritik schreibt. Aber der Punkt ist doch, dass aus diesen Analysen so selten Konsequenzen gezogen werden. Es liegt alles auf dem Tisch, aber wir tun so, als könnten wir nichts tun, als wären wir machtlos. Das heißt, er muss Dinge aufzählen, die wir schon wissen. Originell wird es durch die Art, wie er das tut. Es sind wieder so kluge, witzige und treffende Formulierungen in diesem Text zu finden, für die er immer so geliebt und verehrt wurde. Ich saß mal bei einer von Rogers Veranstaltungen im Publikum neben einem Herrn, der seinem Begleiter am Ende zugeflüstert hat: „Ich habe es dir doch gesagt, hinterher sieht man mehr.“

Roger Willemsen machte weniger die Ignoranz, sondern die Ironie verantwortlich, mit der wir die Entwicklungen abtun.

Ja, das ist ein ganz wichtiges Argument. Er war ein Kritiker, aber kein Zyniker. Und diese Differenz zwischen Ignoranz und Ironie ist wesentlich. Die Ironie ist eine problematische Haltung, weil wir es uns mit ihr so leicht machen können. Er sagt dazu, dass von den bewusstseinsbildenden Prozessen der Kultur nicht gesprochen werden kann, ohne zu fragen, unter welchen Bedingungen Bewusstsein heute überhaupt zustande kommt. Er sagt nicht, wir hätten weniger Bewusstsein als vorher, oder ein irgendwie schlechteres Bewussteins, sondern er fragt nach den Bedingungen, und die will er beschreiben.  

Über Literatur sagte er beispielsweise, dass der Roman wie ein Mammut sei, der eigentlich nicht in unsere Zeit passe...

...weil er zu viel Lebenszeit kostet, weil man sich mehrere Tage hinsetzen muss, um ihn zu lesen. Und doch ist es die erfolgreichste Form der Literatur. Der Widerspruch macht ja auch schon wieder etwas Hoffnung, oder?

Können Sie das konkretisieren?

Ich meine, dass die Widersprüche des Textes absichtlich Lücken im scheinbar festgefügten Welt- und Zukunftsentwurf öffnen. Das ist kein Zufall. Neben dem Gefühl des tiefen Ernstes und des Entsetzens steckt gleichzeitig auch Hoffnung in dieser Schrift: Ihr entschiedener Appell. Roger Willemsen fragt: Wollen wir das wirklich? Und er sagt: Nutzt eure Möglichkeiten. Das ist der Staffelstab, den er an die nächste Generation übergibt.

War Roger Willemsen selbst auch aus der Zeit gefallen wie der Roman?

Ja und nein. Das ist ja das Verrückte mit ihm. Er war so vieles und immer überraschend. Mit seiner Liebe zur Kunst, mit seinem Wissen war er ein Universalgelehrter, den man vielleicht nicht unbedingt im 21. Jahrhundert verorten würde. Zugleich war er stark an der Populärkultur interessiert . Mit niemandem hat es solchen Spaß gemacht, Fernsehen zu schauen.

Können Sie so eine Szene einmal beschreiben?

Sportsendungen waren ein großes Spektakel mit ihm. Er hat sich dann immer beschwert über die Kommentatoren, weil die die eigentlichen Geschichten nicht gesehen haben: „Guck doch mal, guck doch mal. Was der jetzt gerade am Spielfeldrand gemacht hat. Warum zeigen sie ihn jetzt nicht, wenn er gerade das Tor verschossen hat?!“ Er hatte einen Blick für die eigentlichen Geschichten, die einen Moment besonders machen. Er war auch immer up to date, nicht nur, was den Sport betrifft, auch was den Klatsch angeht oder was die neuesten Trends in der elektronischen Musik sind. Und das Wichtigste: Er konnte mit einem Wimpernschlag die Zusammenhänge zwischen all diesen Bereichen herstellen.

Roger Willemsen und Techno? Ich dachte, er sei in der Klassik und im Jazz zuhause gewesen.

Er hätte es bestimmt nicht selbst gehört, aber ihn hat das Phänomen interessiert. Und er hat Leute verstanden, die eine Leidenschaft für etwas haben.

Sie sagen, diese Rede sei sein Vermächtnis.

Ja, und jetzt müssen wir weitermachen. Das ist der Auftrag, ohne dass er den Auftrag gegeben hat. Es ist der Auftrag, den wir uns selber geben, wenn wir seine Rede lesen.

Buchcover: Wer wir waren Wer wir waren. Zukunftsrede, S. Fischer Verlag 2016, 64 Seiten, 12 Euro.

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Bernhard K. Kopp | Di., 29. November 2016 - 17:14

Bei aller Sympathie für Roger Willemsen und grossem Respekt für sein Andenken erscheint die Bezeichnung 'Universalgelehrter' doch sehr hochgestochen. Möglicherweise wäre sie ihm selbst nicht ernsthaft recht gewesen.

Bernd Windisch | Di., 29. November 2016 - 19:29

„Jene die wussten, aber nicht verstanden. Voller Informationen, aber ohne Erkenntnis. Randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir von uns selbst nicht aufgehalten.“ Besser kann man so glaube ich die aktuelle Ratlosigkeit in unserer Gesellschaft nicht beschreiben. Roger Willemsen hat mit diesen Sätzen vielleicht schon zum großen Teil unsere nähere Zukunft vorweggenommen. Ob wir nun unseren Wohlstand und den Frieden in Europa wieder verspielen oder aber unsere weitere Entwicklung von Erkenntnis geleitet in eine gerechtere und in eine für möglichst viele Menschen bessere Zukunft münden lassen hängt ganz entscheidend davon ab, ob wir über eine ausreichende Zahl an pragmatischen Universalgelehrten verfügen , die unser Zusammenleben in Europa hinreichend kenntnis- und erfolgreich managen können. Dies ist keine Fürsprache für eine weiterhin naive und unkontrollierte Zuwanderung. Im Gegenteil. Ja, und jetzt müssen wir weitermachen! Danke Roger Willemsen!!!

Danke für ihre wohlgesetzten Worte. Wiewohl ich mich selber für gut informiert und gebildet erachte, war R.W. trotzdem immer wieder ein Ideengeber, der überraschte und neue Perspektiven aufzeigte. Ein Intellektueller, den ich stets respektierte und dessen Meinung ich hoch schätzte, insbesondere seinen durch Vernunft begründeten Atheismus. Ein moderner Philosoph - Universalgelehrter hin oder her - der nicht im Elfenbeinturm saß, sondern auch mit dir und mir auf Augenhöhe saß und argumentierte. Dabei kam und kommt es nicht darauf an, ob er mit meiner Meinung übereinstimmt, sondern, dass er mich inspirierte. Ganz ehrlich: wieviele Autoren oder Gesprächspartner kennen sie, die das können?

ps Ganz besonders ihre nachdenklichen Worte, Herr Windisch, zum Scheideweg auf dem Europa sich bez. seiner Zukunft befindet, sind hervorzuheben. Die sog. AfD ist für mich nach der devoten Grußadresse an Trump nicht mehr wählbar. Ein Mann aus dem Gulli als Anführer der freien Welt? Igitt...

Bernhard Jasper | Di., 29. November 2016 - 20:22

Als Rezipient erschien er mir immer als ein sympathischer Zeitgenosse, obwohl ich persönlich nicht zum medialen Betrieb gehöre. Er schien eine andere Wahrnehmung zu haben, interessierte sich für Phänomene.

Und „Kunst“ kann ja bekanntlich auch trösten und erheben. Die Ausdrucksformen der Generationen ändern sich jedoch. Beispielsweise wäre ich persönlich niemals ohne meinen Sohn auf die interessante Musik von „Kobosil“ gestoßen, obwohl ich natürlich die deutsche Gruppe „Kraftwerk“ kenne und schätze. Ein Lebensgefühl wird ausgedrückt. Die junge Generation zog sich schon immer die „Um-Welt“ an, oder wurde davon imprägniert. Sie nutzen ihre Möglichkeiten und das ist gut so.

Hörprobe (die ist jedoch endlos)

Kobosil Boiler Room Berlin 5th Birthday DJ Set
https://youtu.be/C93Fb4PC4fo

Michaela Diederichs | Mi., 30. November 2016 - 01:32

Habe ich richtig gelesen: Universalgenie? Roger Willemsen war ein sensibler, wunderbarer, kunstsinniger, nachdenklicher Mensch, Philosoph und Entertainer. So will und werde ich ihn auch in Erinnerung behalten. Ihn in einem Atemzug mit Leonardo da Vinci zu setzen, halte ich für überzogen. Wo hat er sich auf dem Bereich der Naturwissenschaften und der Mathematik hervorgetan? Dieses Interview wird verklärt von einem Geisteswissenschaftler, der die Geisteswissenschaften deutlich überhöht. Das Buch werde ich weder kaufen noch lesen. Frau Seebacher-Brandt oder Frau Maike Kohl-Richter würden bei mir auch nicht auf der Liste der Frauen stehen, die ihre Männer bzw. deren Welt postmortem erklären. Menschen, die genau wissen, wie der Verstorbene getickt, was er gemeint hat oder uns noch mit auf den Weg geben möchte, sind mir suspekt. In der Regel wollen sie Kapital daraus schlagen bzw. kämpfen um ihr eigenes Überleben - oder sie finden einen neuen Prominenten. 64 Seiten für € 12 sagen alles.

Lorenz Kaspar | Mi., 30. November 2016 - 08:31

Ich kenne den Begriff "Universalgelehrter" im Zusammenhang mit Leibniz. Jetzt benutzt die Autorin Wilke ihn schon, um einen Autor und Fernsehmoderator zu beschreiben - eine Form von begrifflicher Inflation, ähnlich wie man ihn beim Elitebegriff beobachten kann, den Journalisten immer häufiger für Ihre Zunft in Anspruch nehmen.

Joachim Baumeister | Mi., 30. November 2016 - 13:47

Roger Willemsen hatte für mich immer etwas von einem altklugen Hagestolz, der seine Intellektualität und sein Wissen gerne vor sich her trug. Gelegentlich wurde dann auch mal deutlich, dass er - wie einmal bei einer Jazz-Veranstaltung - in seinen Analysen daneben lag. Er war durchaus ein geistreicher Mann, aber doch kein Universalgelehrter. Aber diese Bezeichnung hier, ist wieder einmal ein Beweis für die mediale Übertreibung allenthalben. Ein unrühmliches Zeichen unserer Zeit. Man nimmt es eben nicht mehr so genau.

Gerhard Mack | Mi., 30. November 2016 - 17:55

Wer sein Bild über Roger Willemsen ergänzen möchte, dem empfehle ich auf youtube: Charlotte Roche - Wahrheit oder Pflicht. Aber Vorsicht - es kann durchaus sein, dass von dem von der Autorin so geschätzten "Universalgelehrten" nicht mehr viel übrig bleibt.

Anna Görner | Do., 1. Dezember 2016 - 04:25

ist der Begriff "Universalgelehrter" zwar als Ehrung für diesen vielseitig interessierten und begabten Menschen mehr als Ehrung gedacht, als eine treffende Charakterisierung. Aber die vielseitige Interessenlage und der Wunsch sich selbst einen Überblick zu verschaffen, zeugen vom Mut, sich eine eigene Meinung über Zeitphänomene zu bilden und sie zur Debatte zu stellen. Mag da bei der Analyse von Musikphänomenen mehr die Lust am Projektieren und am Entwickeln von humanen Visionen zu Grunde gelegen haben, als die Verpflichtung zur wissenschaftlichen Analyse. Aber Roger Willemsen war ein Autor und seine Sicht die eines Literaten. Wenn Cyrano de Bergerac die Erkenntnisse seiner Zeit in Visionen fasste, sind wir doch fasziniert, wieviel Wahrheit in Irrtümern stecken kann. Die Rede von Roger Willemsen enthält meiner Ansicht nach einen Berg an Wahrheit und es muss anstrengend gewesen sein, sich das Dilemma unserer Tage im Vergrösserungsglas zu betrachten, um es aufzuschreiben. Danke, Roger!

Anton Gruber | Sa., 10. Dezember 2016 - 16:36

Es ist recht beschränkt, dieses Attribut nur auf historische, klassische Persönlichkeiten anwenden zu wollen. Ein Universalgelehrter, so wurde es uns Zeigenossen gelehrt, hat ein Mensch vergangener Jahrhunderte zu sein, dem das gesamte Wissen seiner Zeit gegenwärtig war. Die Bezeichnung muß selbstverständlich auf die Gegenwart transponiert werden um ihr auch heute noch den vollen Sinn zuzugestehen.
Eine wichtige Aussage ist das Zitat "„jene die wussten, aber nicht verstanden. Voller Informationen, aber ohne Erkenntnis. Randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung...“
Wenigen gelingt es heute aus erschlagendem Umfang an Information das Wesentliche, die Essenz, die Konsequenzen heraus zu destillieren; Erkenntnis zu beziehen! Das möchte vielleicht den heutigen Universalgelehrten definieren und auszeichnen. Einer, der den Wald trotz lauter Bäumen sieht. Das ist die Kunst und Gelehrtheit, die die Hinterlassenschaft des tiefen Denkers an die Nachkommen sein möchte. Ehre wem Ehre gebührt!