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(picture alliance) Hart Backbord in den Shitstorm: die Piraten pflegen eine Unkultur des Debattierens

Empörung über Dörings Kritik - Wo die Piraten selbst Tyrannen sind

Die Piratenpartei fördere die „Tyrannei der Masse“: Für diesen Vergleich erntete Patrick Döring im Internet einen Shitstorm. Dabei hat der designierte FDP-Generalsekretär gar nicht so Unrecht: Bei den Piraten ist eine Unkultur des Debattierens herangewachsen

Richtige Worte für den sagenhaften Erfolg der Piraten zu finden, ist für Politiker der etablierten Parteien sicher nicht so einfach: 7,4 Prozent holte die rebellische Randpartei bei den Wahlen im Saarland – und zieht damit nach Berlin in ein weiteres Landesparlament ein. Zwei Erfolge könnten ihnen noch bevorstehen: In Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein liegen sie in Umfragen jeweils über der Fünf-Prozent-Hürde. Wie also reagieren? Hebt man die Vorzüge der politischen Novizen zu sehr hervor, könnte das die Schwächen der eigenen Partei zu sehr betonen, übt man zu stark Kritik, könnte das als beleidigte Schmollreaktion gedeutet werden.

Es war geradezu ein diplomatischer Drahtseilakt, der am Sonntagabend in der Berliner Runde in der ARD zu beobachten war. Caren Lay, Bundesgeschäftsführerin der Linken, entschied sich eher für den ersten Weg, indem sie das „sympathische Auftreten“ der Piraten und deren „politischen Stil der Offenheit“ lobte. Grünen-Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke versuchte es mit einem klugen Ausweichmanöver: „Mir ist jede Stimme, die bei den Piraten landet und dafür nicht zu CDU, FDP und CSU geht, lieb und viel wert.“ [gallery:Die Piratenpartei. Ein Landgang auf Bewährung]

Die FDP dagegen ging in Gestalt ihres designierten Generalsekretärs Patrick Döring auf Konfrontationskurs: „Das Gesellschaftsbild, das Politikbild, das Menschenbild ist manchmal so stark von der Tyrannei der Masse geprägt, dass ich mir das als Liberaler nicht wünsche, dass sich dieses Politikbild durchsetzt.“

Das unglückliche Stichwort griffen nicht nur seine Konkurrentin Lemke, sondern umgehend auch Piraten, Blogger und Netzaktivisten sofort auf. Es war ein Shitstorm, der da auf Döring hereinprasselte. Der entsprechende Beitrag auf Spiegel Online wurde innerhalb weniger Stunden über 200-mal kommentiert, im Twitter wabert die Diskussion unter dem Hashtag #Tyranneidermasse.

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So schimpfte Sukhan K. Strathus: „Für Fatman #Döring ist die #Tyranneidermasse wahrscheinlich die Vorstufe zur Diktatur des Proletariats“, Caesar332 schrieb unter gleichem Betreff an die FDP: „Pferden gibt man den Gnadenschuss“. Wiebke Märcz schrieb: „Nach nur 1,2% denkt sich die FDP: Hauptsache nicht vergessen werden und wirft mit lauter Dummheiten um sich“. Ein Nutzer mit dem Namen Miraculix125 fügte an den Hashtag #Döring sogleich das der #NPD mit an und ergänzte: „Generalsekretär der Herzen“. In den Foren wird sogar schon nach einem T-Shirt mit dem Satz Dörings gefragt, User Mies brachte schon einmal einen Design-Entwurf in die Debatte ein.

Eine Wissenschaftlergruppe hat den Begriff „Shitstorm“ jüngst zum Anglizismus des Jahres 2011 gekürt. Er umschreibt Cyber-Mobbing und Hass-Attacken, bei dem einen die Scheiße regelrecht um die Ohren fliegt.

Seite 2: Bundesvorsitzender Nerz sagt, Döring gehe der „Arsch auf Grundeis“

Dass die Netzgemeinde verärgert reagiert, wenn sie von Politikern herausgeforderte wird, ist nicht unbekannt – und zunächst erst einmal nicht die Schuld der Piraten. So lud Ursula von der Leyen 2009, als sie noch Familienministerin war, den Zorn der Netzwelt auf sich, als sie Sperren für Kinderporno-Seiten im Internet forderte. Die „Zensursula“-Kampagne ist legendär. Ähnliches musste der CDU-Hinterbänkler Ansgar Heveling erfahren, als er der Netzgemeinde in einem Zeitungsbeitrag den Kampf ansagte. Nun hatte der Hinterbänkler mit seiner scharfen Kritik auch bewusst provoziert – und den Shitstorm möglicherweise billigend in Kauf genommen, um in die Presse zu kommen und um die Richtigkeit seiner eigenen Thesen zu demonstrieren.

Dass eine ganze Netzgemeinde nun aber einer politischen Partei beispringt, ist neu. Es zeigt, dass da eine Kraft herangewachsen ist, die unsichtbar ist, gewaltig und – bedrohlich. Jeder falsche Satz, jede überzogene Kritik der Gegenseite ist Nahrung für sie, treibt ihr neue Anhänger, Wähler, Mitglieder zu. Umso mehr, als die Vertreter dieser Partei selbst als Teil der Netzgemeinde handeln. So schrieb der Bundesvorsitzende der Piraten, Sebastian Nerz, über Döring, inklusive Rechtschreibfehlern: „Dem geht der Arsch auf Grundeis und er flüchtet sich in Enttäuschuns-Polemik. Eigentlich tragisch.“  [gallery:Tod einer Minderheitsregierung: zwei Jahre Rot-Grün in NRW]

Damit bestätigte Nerz geradezu das, was Döring zuvor in der TV-Runde über das Netz gesagt hatte: dass es dort eine sich „hoch unflätig äußernde Masse“ gebe. Es zeigt, dass die Piraten und das Internet beinahe eins geworden sind. Zugleich zeigt das Zitat aber auch, dass der FDP-Politiker mit seiner Forderung nach Klarnamen im Netz irrt: Denn Spitzenpolitiker der Piraten scheuen sich nicht, ihre Kritik offen zu äußern – einerseits mutig, andererseits fragwürdig. Denn wer würde im realen Leben, etwa vor laufender Kamera, solche Schimpfworte in den Mund nehmen? Gelten die Regeln des guten Diskurses – der laut dem Philosoph Jürgen Habermas von Rationalität, Authentizität und der Freiheit von Herrschaft gekennzeichnet ist – im Internet etwa nicht? Glauben die Piraten, mit dem Internet sei die Debattenkultur in eine neue Ära gekommen?

Julia Schramm, die sich beim Bundesparteitag Ende April um den Bundesvorsitz bewirbt, schrieb als Antwort auf Döring: „Sie.lernen.es.einfach.nicht.“ Wen sie damit meinte, ließ sie offen. „Sie“ – sind das die Liberalen? Die nicht ganz so Netzaffinen? Oder gar die Piratenkritiker? Und was sollen sie eigentlich lernen? Dass man lieber den Mund hält, wenn es um ihre Themen geht? Dass rückständig und ungebildet ist, wer sich gegen den Netzmainstream stellt?

Wenn ja, dann ist es viel eher eine Unkultur, die in dieser Bewegung grassiert – und nicht einmal vor Kritik an den eigenen Mitgliedern Halt macht.

Das musste etwa der frühere Bundesvorsitzende Jens Seipenbusch erfahren. Er gründete jüngst die „Gruppe 42“, um die digitalen Themen der Partei zu schärfen. Die Piraten fassten das als Affront auf: Eine „radikale, neue Abspaltung“ wurde diese im Netz genannt, eine „Machterlangungstruppe“. Als Cicero Online einmal den Berliner Abgeordneten Christopher Lauer porträtierte, schrieb ein Pirat, Lauer sei „nicht nur ein schlechter Verlierer sondern auch ein strippen Zieher, Seilschaftler und Nicht-Teamspieler. Kurzerhand widerspricht er den meisten unserer Zeile und ist einfach faktisch ein Machtpolitiker - Wir lehnen so etwas etabliertes ab!“

Seite 3: „Der Shitstorm gehört bei den Piraten zur Folklore.“

Der Berliner Parteivorsitzende Hartmut Semken sagte einmal: „Der Shitstorm gehört bei den Piraten zur Folklore.“  Während bei anderen Parteien Bierzeltauftritte, Fabrikbesuche oder Anti-Atomkraft-Demos zum Repertoire gehören, halten die Piraten dann also digitales Lästern, Neiden und Beleidigen für zünftige Parteienkultur?

Döring hatte in der Sendung keine Zeit, seine Worte weiter auszuformulieren, weshalb sie höchst missverständlich waren. Doch aus dem Satz, die Piraten förderten eine „Tyrannei der Masse“ ableiten zu wollen, Döring sei undemokratisch oder fordere gar eine Diktatur, ist absurd. Die Wurzeln der Liberalen sind durch und durch demokratisch, im 19. Jahrhunderts kämpften sie gegen das Fürstentum, für demokratische Verfassungen und für Bürgerrechte. Und auch die Basisdemokratie ist bei der FDP nicht unbekannt: Bei der Frage der Euro-Rettung waren die  Freien Demokratien die einzige Partei, die ihre Basis befragte. [gallery:Cicero Online präsentiert die besten Verschwörungstheorien]

Die Piraten halten sich für die basisdemokratischste Partei Deutschlands. Doch ob sie das wirklich sind, muss sich erst beweisen. Ihr System „Liquid Feedback“, das die Basis in Entscheidungen einbinden soll, nutzen gerade mal ein Drittel aller Mitglieder. Die grüne Bundesgeschäftsführerin Lemke sagte jüngst in einem Cicero-Online-Interview: „Bei basisdemokratischen Entscheidungen müssen übrigens auch Mitglieder Zugang haben, die nicht permanent online sind.“ Diese Personen zu integrieren, gelingt den Piraten bislang nur schwer.

Der amerikanische Philosoph Alexander Hamilton – der die „Demokratie“ in seiner Begrifflichkeit allerdings als Abart der guten „Republik“ verstand – sagte im 18. Jahrhundert einmal, dass ungezügelter Ehrgeiz sowie Leidenschaft im Volk schnell zu einer „Tyrannei der Mehrheit“ werden könnten. John Locke, der 100 Jahre früher lebte, sagte, Tyrannei beginne da, wo jemand das Gesetz zum Schaden eines anderen überschreite.

Wer Polizisten beleidigt, merkt übrigens ganz schnell, wo diese Grenze erreicht ist. Warum wollen die Piraten das einfach nicht lernen?

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