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Schleichende De-Industrialisierung - Ist Deutschland bald außer Betrieb?

Deutschland geht es gut. Noch!, warnt Hugo Müller-Vogg in seinem neuen Buch „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient!“. Deutschland investiere zu wenig, die Infrastruktur sei marode, doch die Große Koalition setze allenfalls auf dem Papier die richtigen Prioritäten. Ein Plädoyer für Investitionen

Autoreninfo

Hugo Müller-Vogg ist freier Journalist und Buchautor. Er publizierte mehrere Gesprächs-Bände, u. a. „Mein Weg" mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel sowie „Offen will ich sein und notfalls unbequem“ mit Bundespräsidenten Horst Köhler. Im April 2014 erschien sein Interview-Buch mit Rainer Brüderle „Jetzt rede ich!“. War von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der FAZ

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Kein Zweifel: Deutschland ist besser als andere Länder durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen. Dies darf aber nicht den Blick auf Deutschlands größte Schwäche verstellen: Wir investieren zu wenig. Der Anteil der Investitionen am Bruttoinlandsprodukt ist in den vergangenen 15 Jahren von 20 auf 17 Prozent gesunken. Industrieunternehmen mit hohem Energiebedarf investieren bereits weniger als sie abschreiben. Das heißt, hier wird nicht einmal mehr der Bestand erhalten. Die Unsicherheit über die Kosten der Energiewende lähmt die Investitionsneigung. Viele Unternehmen erstellen neue Produktionsstätten lieber im Ausland. Die öffentlichen Investitionen gehen ebenfalls zurück, wenn man einmal vom Bildungsbereich absieht. Das alles läuft, wenn es nicht zu einer Trendwende kommt, auf eine schleichende De-Industrialisierung hinaus.

Das Schlimme und Gefährliche an unterlassenen Investitionen – in der Wirtschaft wie beim Staat – besteht darin, dass man davon längere Zeit nichts merkt. Bis es eines Tages fast zu spät ist. Der Staat hat seit den 90er Jahren in der alten Bundesrepublik zu wenig in die Infrastruktur investiert, insbesondere in Straßen und Bahnstrecken. Nach 1990 hatte zunächst der »Aufbau Ost« Vorrang, dann musste überall gespart werden. Und gespart wurde eben bei den Investitionen, nicht beim Konsum.

Marode Infrastruktur
 

Ein bundesweites Symbol für unterlassene Investitionen ist beispielsweise die Rheinbrücke bei Leverkusen, ein Teilstück der A 1. Sie ist ein wichtiger Knotenpunkt in der Region Köln-Leverkusen und im europäischen Fernstraßennetz. Auf ihr rollt der Verkehr sechsspurig über den Rhein. Über sie fahren, besser: fuhren täglich mehr als 120 000 Fahrzeuge. Seit November 2012 wird das Bauwerk immer wieder für Schwerlaster gesperrt, weil die 50 Jahre alte Brücke schwere Schäden aufweist. Für Spediteure bedeutet das einen 37 Kilometer langen Umweg über Düsseldorf mit entsprechenden Kosten und volkswirtschaftlichen Schäden. Schon vor zehn Jahren hätte diese Brücke saniert werden müssen. Doch an dieser – falschen – Stelle hat der Staat gespart. Jetzt muss das Bauwerk ständig repariert werden, damit es bis zu einem Neubau im Jahr 2020 wenigstens mit Einschränkungen noch befahren werden kann.

Diese Brücke ist kein Einzelfall. Unsere Infrastruktur ist immer noch besser als in vielen anderen Ländern – aber sie ist marode und zerfällt allmählich. Die Zahlen sind erschreckend: 20 Prozent der Autobahnen und 40 Prozent der Bundesstraßen müssen dringend saniert werden. In einem beklagenswerten Zustand befinden sich auch viele kommunale Straßen. Von 25 000 Eisenbahnbrücken sind 9000 älter als hundert Jahre; bei 1400 besteht ein dringender Sanierungsbedarf. Insgesamt schiebt die Bahn beim Schienennetz einen Reparaturbedarf von gut 30 Milliarden Euro vor sich her. 10 000 der knapp 67 000 kommunalen Brücken sind in einem so schlechten Zustand, dass eigentlich nur Abriss und Neubau infrage kommen. Geschätzte Kosten: Elf Milliarden Euro.

Hier geht es nicht um Schönheitsreparaturen, sondern um das Fundament des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Die Kosten sind beachtlich. Um das bestehende Verkehrsnetz zu erhalten und um unterlassene Erweiterungen nachzuholen, sind nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) jährlich »mindestens 6,5 Milliarden Euro« erforderlich. Und wie reagiert die Große Koalition auf diese Herausforderung? Mit einem kleinen Schritt: 1,25 Milliarden Euro pro Jahr oder insgesamt fünf Milliarden bis 2017. Von der Pkw-Maut verspricht sich Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU), sofern sein Modell überhaupt durchsetzbar ist, jährlich weitere 625 Millionen Euro, die ebenfalls in die Infrastruktur fließen sollen.

Das alles ist besser als nichts, aber bei weitem nicht genug. Ganz abgesehen davon: Jede heute unterlassene Reparatur und Sanierung kostet morgen deutlich mehr. Die GroKo handelt gleichwohl nach dem rheinischen Grundgesetz »et hätt noch emmer joot jejange«. Aber es geht nicht immer gut, wie gesperrte Brücken und Straßenabschnitte zeigen, die nach unzähligen Reparaturen wie ein Flickenteppich aussehen. Der nordrhein-westfälische Verkehrsminister Michael Groschek (SPD), in dessen Bundesland es um die Infrastruktur besonders schlecht bestellt ist, hat deshalb eine Investitionsoffensive unter der Losung: »Wir reparieren Deutschland « vorgeschlagen. Doch in Berlin rafft sich die Große Koalition nur zu kleinen Reparaturen auf.

Es ist genügend Geld vorhanden
 

Natürlich ist das alles eine Frage des Geldes. Selbst eine Große Koalition kann nicht zaubern. Aber Geld ist ja offenbar da, wie die zusätzlichen Milliardengeschenke für Rentner und Rentnerinnen zeigen. Genau genommen ist auch genügend Geld für den Straßenbau vorhanden. Schließlich nimmt der Staat von den Autofahrern über die Mineralölsteuer, die Kraftfahrzeugsteuer und die Lkw-Maut im Jahr gut 50 Milliarden Euro ein. Die werden aber nicht für die Erhaltung und Erweiterung des Straßennetzes eingesetzt, sondern versickern zum größten Teil im Bundeshaushalt.

Zur Finanzierung einer »Reparatur-Offensive« stünde mittelfristig auch der »Soli« zur Verfügung. Dessen Aufkommen fließt schon heute nur noch teilweise in die neuen Länder. Von 2019 an dürfte er gar nicht mehr erhoben werden. Da die Politik auf diese Einnahmequelle aber sicherlich nicht verzichten wird, könnten diese Mittel in Investitionen in die Infrastruktur umgeleitet werden. Denkbar wären auch PPP-Modelle (Public-Private-Partnership), also eine Kooperation zwischen Staat und privaten Unternehmen bei Erstellung, Finanzierung und gegebenenfalls Betrieb von Infrastruktur-Projekten, wie das bei der A 7 der Fall ist. Aber PPP-Projekte im großen Stil sind für die GroKo offenbar keine Alternative.

Schon heute klagen zwei Drittel aller Betriebe, überlastete Autobahnen, marode Straßen und baufällige Brücken erschwerten ihnen das Geschäft. Doch nicht nur Straße und Schiene bedürfen einer Generalüberholung, Deutschland braucht auch eine leistungsfähigere digitale Infrastruktur. Die Zuständigkeit dafür reklamieren gleich drei GroKo-Minister: Neben Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel noch Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und Alexander Dobrindt, dessen Haus den Namen »Bundesministerium für Verkehr und Digitale Infrastruktur« trägt. Dass Kompetenzrangeleien der Sache nicht dienen, versteht sich von selbst.

Mehr Investitionen
 

Doch es muss gehandelt werden. Bei der Zahl der Breitbandanschlüsse liegt Deutschland in Europa hinter Finnland, Dänemark, den Niederlanden und Großbritannien. Allerdings fehlen vor allem in ländlichen Regionen leistungsfähige Netze, was nachteilig für die dortigen Betriebe ist und selbst die Einrichtung von digitalen Heimarbeitsplätzen behindert. Die Regierung will bis 2018 die flächendeckende Versorgung mit Breitbandnetzen sicherstellen. Vorangekommen ist das Projekt aber noch nicht. Ohnehin ist fraglich, ob »Datenautobahnen « mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von 50 Megabit pro Sekunde nicht bereits wieder zu langsam wären. Manche Experten halten sogar 300 Megabit für notwendig, wenn die deutsche Industrie vor allem mit der asiatischen Konkurrenz mithalten will.

Die Versäumnisse der Vergangenheit kann man der derzeitigen Koalition nicht anlasten. Im Koalitionsvertrag versprechen die Regierungsparteien eine »Hightech- und Innovationsstrategie für Deutschland« und kündigen eine Vielzahl von Initiativen an. Allein: Im Bundeshaushalt sind nicht die notwendigen Mittel bereitgestellt. Für ein flächendeckendes Glasfasernetz wären in den nächsten Jahren Investitionen zwischen 30 und 50 Milliarden Euro notwendig. Zusammen mit dem Investitionsbedarf für die alten Verkehrswege sprechen wir hier also über 80 Milliarden Euro. Um die zu finanzieren, ist vieles denkbar: Einsparungen bei den unzähligen Subventionen für die Wirtschaft, Public-Private- Partnership-Projekte oder die Mobilisierung privaten Kapitals über einen Sonderfonds. Doch den großen Wurf bleibt die Große Koalition bisher schuldig. Alle reden von Investitionen, doch der Staat investiert nicht genug.

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