Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(picture alliance) Eurokritiker Hans-Olaf Henkel

Hans-Olaf Henkel - „Wir brauchen ein Fukushima beim Euro“

Was ist konservativ? CICERO ONLINE fragte den früheren Industrieboss und heutigen Eurokritiker Hans-Olaf Henkel, wie er diesen Begriff versteht. Im Interview bewertet er die Gesinnungen von Merkel, Gauck sowie den Piraten – und spricht über Szenarien, wie Deutschlands aus dem Euro aussteigen könnte

Hans-Olaf Henkel (71) war von 1995 bis 2000 Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Im vergangenen Jahr warnte er in dem Buch „Rettet unser Geld“ vor einem Zusammenbruch des Euro. Henkel ist Honorarprofessor am Lehrstuhl Internationales Management der Universität Mannheim.

 

Herr Henkel, was bedeutet für Sie der Begriff „konservativ“?
Das Gegenteil dessen, wofür ich stehe.

Das müssen Sie erklären.
Konservativ – das ergibt sich aus dem Begriff – heißt, dass man etwas „konservieren“ und „erhalten“ will. Ich dagegen stehe für Reformen und Veränderung.

„Konservativ“ heißt also: Status quo, Stillstand?
Ja. Das ist für mich irgendwie nicht positiv belegt, sondern negativ. Konservativ war Helmut Kohl, weil er nichts verändert hat. Und die Konservativen von heute, das sind die Kims aus Nordkorea oder Raúl Castros aus Kuba.

Warum ist der Begriff so negativ konnotiert?
Es gibt zwei Interpretationen. Im negativen Sinn sind alle Reformverhinderer gemeint, die an ihrer Macht festhalten. Die gibt es in der Demokratie genauso wie in Diktaturen. Und dann gibt es die positive Auslegung, wonach Konservative alte Tugenden und Werte nicht einfach über Bord werfen, nur weil es gerade dem Zeitgeist entspricht. In diesem Sinne bin ich konservativ.

„Die FDP hat sich versündigt“

Meinen Sie mit diesen „alten“ Tugenden etwa bürgerliche Werte?
Ich habe immer gefordert, den Begriff der Nachhaltigkeit auf alle Politikbereiche zu übertragen – und nicht nur auf den Umweltschutz. Wir müssen unseren Kindern die gleiche, möglicherweise sogar eine bessere Welt hinterlassen.

Im Wort „Nachhaltigkeit“ steckt das Verb „erhalten“. Das ist die exakte Übersetzung des lateinischen Wortes „conservare“. Hat also Konservatismus mit Nachhaltigkeit zu tun?
Ja, jetzt bin ich bei der positiven Interpretation, absolut. Der Gedanke ist einfach: Man braucht nachhaltige Sozialversicherungssysteme, Umweltschutz und Bildungspolitik. Und das ewige Schuldenmachen ist das Gegenteil von Konservieren, denn Sie schaffen keine Konserven, sondern Sie futtern Sie auf. [gallery:Was ist heute konservativ?]

Wer ist denn im Moment der schlimmste Wegfutterer?
Wenn Sie sich die FDP anschauen, die sagt etwa in Nordrhein-Westfalen: „Wir wollen neue Wahlen und keine neuen Schulden.“ Aber die FDP hat sich genau wie alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien versündigt. Sie hält an dieser absurden Einheits-Euro-Politik fest, die genau das Gegenteil einer nachhaltigen Politik darstellt. Das ist für mich – vorsichtig ausgedrückt – waghalsig.

Die Euro-Frage ist ja Ihr Steckenpferd...
...im Augenblick bin ich anscheinend der Einzige, der sagt: Ich war mal für den Euro und bin heute dagegen.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie Henkels konservatives Europa aussieht

Was heißt denn konservatives, also nachhaltiges, Denken in der Euro- und Europapolitik?
Dass man alles tut, ein gedeihliches Zusammenleben in Europa zu ermöglichen. Das ist das Ziel, für das sich bereits Mitterrand und Kohl sowie, noch früher, Adenauer und Schumann einsetzten. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass Deutschland einmal das am meisten gehasste Land in Griechenland sein würde. Wir waren früher das beliebteste. Ich hätte mir auch nicht vorstellen können, dass sich der Graben zwischen den 17 Euroländern und den zehn Nicht-Euro-Ländern immer mehr verbreitert. Die letzten Umfragen der Europäischen Kommission zeigen, dass von den zehn Nicht-Euro-Ländern nur noch die rumänische Bevölkerung den Euro will.

Wie sollte konservative Politik in Europa dann aussehen?
Sie sollte die Vielfalt Europas bewahren. Das, was jetzt unter dem Stichwort „Harmonisierung“ verkauft wird, heißt doch das Ausradieren der Vielfalt. Manchmal ist Harmonisierung sinnvoll, etwa bei den Mehrwertsteuersätzen, der Außen- oder der europäischen Verteidigungspolitiken. Ich wäre ein begeisterter Anhänger einer europäischen Armee.

„Beim ESM türmt sich eine Ablehnungsmauer“

Da sprechen Sie drei Politikfelder an, die auch die glühendsten Verfechter einer weiteren EU-Integration harmonisieren wollen: Außenpolitik, Wirtschaft, Verteidigungspolitik.
Nein, ich habe nicht von harmonisierter Wirtschaft, sondern von den Mehrwertsteuersätzen gesprochen. Ein Fiskalpakt, der alle Europäer zwingt, das gleiche zu tun, ist kontraproduktiv. Ich bin ein Anhänger der Vielfalt und des Wettbewerbs. Wenn jetzt aber alle das gleiche machen sollen, wie uns das die Euromantiker beim ESM (Europäischen Stabilitätsmechanismus) vorschreiben wollen… [gallery:Griechenland: Jahre des Leidens]

...was droht uns dann?
Sehen Sie, keiner der 603 Abgeordneten wird den ESM-Vertrag gelesen haben, das ist das Drama. Aber ich habe ihn gelesen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Da türmt sich eine Ablehnungsmauer aus verschiedenen Regierungen vor uns auf, von ganz links, der Mitte, rechts, von Ökonomen! Da wird der Bundestag überhaupt nicht mehr gefragt.

Und jetzt frage ich Herrn Henkel.
Eine konservative Europapolitik sollte drei wichtige Prinzipien umfassen: erstens, ein Europa der Vaterländer, wie es der erste französische Präsident Charles de Gaulle formulierte. Zweitens, ein Europa der Subsidiarität, das heißt, dass die Verantwortung für die Lösung eines Problems möglichst nah am Problem angesiedelt werden muss. Der Subsidiaritätsbegriff steht übrigens auch im Lissabon-Vertrag. Drittens: Selbstverantwortung. Erst, wenn es das Individuum selbst nicht kann, soll man ihm helfen. In Europa passiert durch die Vergemeinschaftung der Schulden genau das Gegenteil. Wir sind verantwortlich für einen Großteil der griechischen, portugiesischen und irischen Schulden.

Lesen Sie auf der dritten Seite, wie konservativ Merkel ist

Sie haben mal gesagt, es brauche mehr Geradeausdenker. Ist denn Frau Merkel so jemand?
Merkel geht gewisse Risiken, die für die Gesellschaft nötig wären, nicht ein. Sie reagiert auf Stimmungen und nicht auf Notwendigkeiten. Sie hat die Nase im Wind – wo weht der Zeitgeist her? – und setzt sich gerade noch rechtzeitig an die Spitze der Bewegung. Nehmen Sie Fukushima, ein typisches Beispiel für diese Gesinnungsänderungen.
Übrigens komme ich nochmals auf den Euro zurück: Merkel hat im Mai 2010 den großen Fehler gemacht, die Brandmauer zwischen dem deutschen Steuerzahler und ausgabefreudigen Politikern in anderen Ländern einzureißen. Seitdem ist sie auf einem glitschigen abschüssigen Weg.

Jetzt sprechen Sie schon wieder über den Euro…
…wenn wir vielleicht einen Fukushima-Effekt beim Euro kriegen, ist die Kanzlerin ruck-zuck da und fordert einen Nordeuro oder die Wiedereinführung der D-Mark. Aber früher nicht. Wir brauchen ein Fukushima beim Euro.

Noch einmal meine Ausgangsfrage: Wie konservativ ist Merkel?
Im negativen Sinne ist sie mir zu konservativ. Sie macht Reformen erst, wenn Sozis, Grüne und ein Teil der CDU das wollen.

Sie sagen, sie ist nicht mutig genug?
Ja, absolut.

„Tugenden eines KZ-Wächters“

Hat Merkel auch etwas positiv Konservatives?
Da bin ich bei Tugenden, die Oskar Lafontaine einmal als Tugenden eines KZ-Wächters beschrieben hat: Zuverlässigkeit, Uneitelkeit. Sie kann rechnen.

Sind KZ-Wächter-Tugenden also konservativ?
Das müssen Sie Lafontaine fragen. Der hatte sich mit diesem Vergleich über Helmut Schmidt lustig gemacht. Merkels größter Pluspunkt ist aber ihr weltweites Eintreten für die Menschenrechte.

Wie das?
Anders als die rot-grüne Vorgängerregierung Schröder und Fischer begründet sie ihre Politik nicht nur mit der Wahrung der Interessen der deutschen Industrie. Merkel setzte sich etwa beim US-Präsidenten George Bush für die Freilassung des Bremer Taliban Murnat Kurnaz ein – mit Erfolg. Sie war auch die Erste, die den Dalai Lama empfangen hat.

Kritiker sagen, es gäbe einen Linksruck in der Union.
Völlig richtig. Die gesamte deutsche Gesellschaft drängt immer mehr in Richtung Staatsgläubigkeit. Weg vom Prinzip Verantwortung, in Richtung Versorgung statt Eigenverantwortung, hin zu Gleichheit statt Freiheit.

Nun kam mit Joachim Gauck aber jüngst ein Bundespräsident ins Amt, dessen Leitmotiv die Freiheit ist.
Das ist eigentlich ein Wunder.

Lesen Sie auf der vierten Seite, welche Politiker Henkel überhaupt noch für konservativ hält

Warum?
Weil die Deutschen das eigentlich gar nicht interessiert. Das können Sie an den regelmäßigen Allensbach-Umfragen ablesen: Gefragt nach den Polen Freiheit und Gleichheit, sortieren sich die Deutschen immer mehr in Richtung Gleichheit ein, besonders die Ostdeutschen. Im Jahr 1990 sahen sie sich noch viel mehr als die Westdeutschen bei der Freiheit. Wenn man die Freiheit hat, erscheint sie einem also gar mehr so wichtig.

Ist Gauck denn noch ein Konservativer?
Er ist ein interessanter Testfall. Hier ist seine Lebensgefährtin, die er schon seit 19 Jahren kennt – und auf der anderen Seite seine Ehefrau. Das ist für mich ein hochinteressantes Dilemma. Ist es besser, wenn er seine „Familienverhältnisse ordnet“, wie es ein CSU-Politiker verlangte, oder ist es nicht anständiger, wenn er der Frau, die ihm vier Kinder geboren und großgezogen hat, die Pension als ehemaliger Bundespräsident zukommen lässt?

Und wie sieht es mit seinen Inhalten aus?
Zunächst einmal würde mich interessieren, ob er seiner Überschrift jetzt auch ein Inhaltsverzeichnis folgen lässt. Zur Freiheit gehört auch die Selbstverantwortung. Er hat mich aber in zwei Punkten enttäuscht.

„Dobrindt und Seehofer sind gnadenlose Opportunisten“

Die da wären?
Bei seinem Besuch in Brüssel hat er hat von den „Vereinigten Staaten von Europa“ gesprochen. Genau das Gegenteil dessen, was ein Freiheitsfanatiker eigentlich sagen müsste. Zweitens hat Gauck schon, ohne den ESM-Vertrag zu lesen, gesagt, der europäische Stabilisierungsmechanismus entspreche dem Grundgesetz. Das Bundespräsidialamt engagiert eine Armee von Anwälten, um solche Verträge auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Und es haben sich schon so viele Leute verpflichtet, gegen den ESM zu klagen. Ich nehme an, Gaucks Äußerung war ein Anfängerfehler. [gallery:Joachim Gauck, der Bürgerpräsident]

Wo sehen Sie Politiker, die heute noch Werte wie Subsidiarität oder Freiheit vertreten?
Der CDU-Politiker Oswald Metzger. Wenn so ein Mann Finanzminister von Deutschland würde, dann hätten wir im Jahre 2013 keine Neuverschuldung mehr, das garantiere ich. In der SPD ist Thomas Oppermann eine ausgesprochen erfreuliche Figur. Als niedersächsischer Wissenschaftsminister trat er für Studiengebühren ein – das muss man sich in der SPD mal trauen.

Und aus der FDP?
Frank Schäffler wäre sicher einer... ich mag auch Christian Lindner gern. Sagen wir die drei, lieber Lindner als Schäffler, Oppermann und Metzger. Das sind für mich die Hoffnungsträger.

Und in der CSU? Wo sind da die Konservativen?
Ich möchte zwischen Dobrindt und Seehofer auf der einen und der CSU auf der anderen Seite unterscheiden. Diese beiden sind für mich gnadenlose Opportunisten und Populisten.

Spielen Sie auf die Debatte ums Betreuungsgeld an?
Das ist ein interessantes Beispiel von Freiheit und Bevormundung. Man kann für das Betreuungsgeld eintreten wie die CSU, die jeder Familie die Entscheidung über die Kindesbetreuung selbst überlassen will. Das ist eigentlich eine liberale Position. Ich finde es aber besser, dass möglichst kostenfreie Kindergärten zur Verfügung gestellt werden. Um das zu finanzieren, könnte man lieber Studiengebühren erheben.

Lesen Sie auf der letzten Seite, warum Henkel Platz für eine neue Partei sieht

Hat sich aus Ihrer Sicht eine Nische für eine neue Partei geöffnet?
Ich denke, dass es Platz für eine europafreundliche Partei gebe, die für Selbstverantwortung, Wettbewerb, Subsidiarität und Nachhaltigkeit in Europa steht. Diese Partei hängt wie eine reife Frucht am Baum. Man muss nur gegen den Stamm treten und dann fällt sie runter.

Hätten Sie nicht noch Kraft für diesen Tritt?
Vergessen Sie es. Mit 72! Das hätte man früher machen sollen. Wenn ich auf meinen Veranstaltungen spreche, sage ich immer ganz am Anfang, ich bin für die Mitgliedschaft der Türkei in der EU. Und der ganze Laden denkt „Oh Gott“. Doch am Schluss fressen sie mir aus der Hand. Ich habe genügend Angebote bekommen, interessanterweise von der SPD, auch mehrmals von der FDP.

„Die Piraten sind eine Kostenlos-Partei“

Und wenn ein solches Angebot noch einmal käme?
Nein. Ich eigne mich nicht zur Politik, das ist völlig klar.

Es gibt eine Partei, die zumindest aufgrund ihres Altersprofils an der Schuldenfrage interessiert sein könnte: die Piraten.
Ich habe dem Berliner Abgeordneten Christopher Lauer zweimal vorgeschlagen, meine Position zum Euro vorzutragen. Doch da ist nichts gekommen. Inzwischen habe ich meine Hoffnungen aufgegeben, denn das ist eine Kostenlos-Partei. Und die verträgt sich nun gar nicht mit Nachhaltigkeit. Das erste, was sie jetzt beschlossen haben, ist die Rente ab Geburt. Damit ist diese Partei erledigt.

Der parlamentarische Geschäftsführer in Berlin, Martin Delius, hat einmal gesagt, die Piraten seien auch konservativ, weil sie die Freiheit im Internet bewahren wollen.
Irgendwie ist für mich diese Piratenpartei symptomatisch für unser Land. Eigentlich ein verheerendes Zeichen für die deutsche Politik. Erst einmal müsste diese Partei den Namen ändern: Piraten sind Verbrecher. Ihr Zeichen ist ein Totenkopf mit zwei Knochen. Also: Vergessen Sie‘s.

Herr Henkel, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Petra Sorge. Fotos: picture alliance

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.