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SPD - Wie Sigmar Gabriel Rot-Rot-Grün vorbereitet

Dieser Wahlkampf ist Sigmar Gabriels letzter Kampf für einen anderen. Nach dem 22. September geht es um seine Zukunft. Dafür muss er die absehbare Wahlniederlage der SPD überstehen – und ein Tabu brechen. Rot-Rot-Grün, spätestens 2017. Geschichte einer systematischen Annäherung

Autoreninfo

Georg Löwisch war bis 2015 Textchef bei Cicero. Am liebsten schreibt er Reportagen und Porträts. Zu Cicero kam er von der taz, wo er das Wochenendmagazin sonntaz gründete. Dort kehrte er im Herbst 2015 als Chefredakteur zurück.

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Es ist ein heißer Sommertag in Ahlen, an dem man gute Gründe und einen eisernen Willen haben muss, eine Stadthalle zu betreten, die aussieht, als hätte jemand aus Denkmalschutzgründen den Zweckbau der späten siebziger Jahre konservieren wollen. Draußen brütet eine schwüle, grelle Mittagssonne über der Stadt, drinnen im dunklen Saal ist sehr viel weißes Haupthaar zu sehen. An einem Stand in der Halle ist sinnigerweise ein roter Sonnenschirm aufgebaut, auf dem in weißen Buchstaben SPD steht.

Ahlen, Westfalen. Abgeschieden, aber politisch bedeutsamer Boden. Hier hat sich die CDU 1947 ihr erstes Grundsatzprogramm gegeben, und in dieser Stadthalle hat Johannes Rau am 16. Dezember 1985 für die SPD eine Grundsatzrede gehalten. Genau deswegen ist jetzt auch Sigmar Gabriel hier.

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Es ist wie bei einer Predigt. Pastor Gabriel verliest andächtig Passagen von Raus Rede und erklärt der Gemeinde, was dessen Worte uns heute noch sagen. Dass man Freunden wie den USA nicht nach dem Mund reden muss. Wie Merkel das macht. Dass man keine „verlogene Politik“ betreiben darf. Wie Merkel das tut. Dass man nicht einerseits den arabischen Frühling besingen kann und andererseits so viele Panzer wie noch nie an die Saudis verkaufen. Wie Merkel. Das alles hat Johannes Rau schon kommen sehen. Die „Anarchie in der Energiewende“, den „Verlustsozialismus“ in der Bankenrettung.
Kurzum: Sigmar Gabriel ist in Fahrt.

Die SPD döst in diesen Wochen ein bisschen in der Sommersonne, im Willy-Brandt-Haus kann man anrufen, wo man will: Urlaub. Die Kampa, die einst legendäre Wahlkampfzentrale der Partei, besetzt zwar im Nordflügel lila leuchtend zwei Stockwerke, entfaltet aber keine Wirkung. Der Kandidat taumelt durch seine Kandidatur und versucht das Straucheln und Stolpern bei den ersten Hürden wenigstens auf den letzten Metern noch in einen Lauf zu verwandeln. Und dann ist da Sigmar Gabriel. Vorsitzender der Partei und freies Radikal. Beides in einem. Von nichts und niemandem zu bändigen, nicht einmal von sich selbst. Er kämpft und kämpft und kämpft. Um seine Chance, seine Option.

Es ist ihm nichts nachzuweisen bei seinen Wahlkampfauftritten. Nicht in Ahlen, nirgendwo. Er preist den Kandidaten. Gabriels Kampf gebührt Peer Steinbrück. Aber es ist sein letzter Kampf für einen anderen. Ein bisschen ist es schon ein Kampf für sich selbst. Ein Kampf, dessen heiße Phase am 22. September um 18 Uhr beginnt, wenn sich das Wahlergebnis in bunten Säulen auf den Bildschirmen der Republik abzeichnet.

Dann wird Gabriel nur noch von der Frage geleitet sein, die ihn schon jetzt steuert, die ihn schon immer steuert, die ihn spätestens leitet, seit er vor fast vier Jahren in Dresden mit schwerer Erkältung und einer starken Rede zum SPD-Vorsitzenden gewählt wurde. Heide Simonis, seine Parteifreundin in Schleswig-Holstein, hat diese Frage nach einer verlorenen Wahl einmal so formuliert: „Und was wird aus mir?“

Sigmar Gabriel will Kanzler werden. Nicht gleich. Deshalb hat er Steinbrück den Vortritt gelassen wie einst Angela Merkel Edmund Stoiber beim Frühstück in Wolfratshausen. Denn bis zum 22. September um 17.59 Uhr ist die Zeit noch nicht reif für ihn. Für seine Machtoption. Für Rot-Rot-Grün.

Von da an läuft Gabriels Uhr für diese Option. Spätestens 2017, vielleicht auch früher, muss er zugreifen, wenn er ganz nach oben will. Er muss das Schisma beenden. Franz Müntefering hat schon zu Bonner Zeiten in ruhigen Momenten über den Urfehler der SPD geredet, die PDS nicht aufgenommen zu haben wie die CDU ihr DDR-Blockflötenpendant. An diesem strategischen Wettbewerbsnachteil knabbert die SPD seither bei jeder Wahl: Es gibt eine linke Mehrheit, aber wegen des Tabus nur auf dem Papier. Diese Mehrheit zu nutzen, diesen Schatz endlich heben zu dürfen, das ist Gabriels Strategie, das ist sein Plan, der sich lange abzeichnet, wenn man genau hinschaut. Er muss natürlich noch die Balkendiagramme vom 22. September überleben. Das ist das Nadelöhr. Da kann er hängen bleiben. Danach ist er durch. Dann darf er das Bündnis vorbereiten, das ihn ganz nach oben bringen kann.

Die Szenarien für 2013 sind überschaubar. Eine Große Koalition wird ihn stabilisieren, denn dann muss die SPD einigermaßen geschlossen in die Verhandlungen gehen. Es gäbe genügend Ämter in Regierung und Fraktion, Gabriel könnte Vizekanzler werden oder Fraktionschef. Er wartet ab, bis Merkel ihren Zenit überschritten hat und die Leere in der Union zutage tritt. Dann treibt er die SPD zur Opposition in der Koalition – um sie für 2017 zu profilieren: Das wäre eh nach seinem Geschmack. Oder er lässt Schwarz-Rot zum geeigneten Zeitpunkt platzen und sich – je nach Mehrheitsverhältnissen – in der laufenden Legislatur zum rot-rot-grünen Kanzler wählen.

Schafft es Schwarz-Gelb am 22. September noch einmal, kann Gabriel eine Brachialopposition aufbauen: kein staatsmännischer Steinmeier-Stil mehr, sondern kantige Konfrontation. Im Bundestag, im rot-rot-grünen Bundesrat, im Dauerwahlkampf gegen eine Angela Merkel in ihrer Spätphase.

Schwarz-Grün würde die Dinge bei den Grünen etwas unübersichtlich machen, es gäbe Konflikte. Aber der grüne Streit würde die SPD päppeln und ihren Vorsitzenden stark machen.

Das sind Gabriels Varianten. Aber jetzt, im Wahlkampf, muss er alles kaschieren. Muss sagen, er halte „nichts davon, die Stabilität Deutschlands aufs Spiel zu setzen, nur um mit einer absolut unkalkulierbaren Partei ins Kanzleramt zu kommen“. Mit den Ostlern ginge es ja noch, aber nicht mit den „Spinnern“ und Sektierern der Westlinken. Die meisten in der SPD beten seine Gebete nach, damit die Union im Wahlkampf nicht Rot-Rot-Grün als Mobilisierungsthema hat. Kaum jemand traut sich zu sagen, was die SPD-Parteilinke Hilde Mattheis vor ein paar Wochen in der taz auf die Frage „Wie stehen Sie eigentlich zu Rot-Rot-Grün?“ gesagt hat: „Ich glaube, dass uns da eine Offenheit guttäte.“

In Wahrheit glauben dies viele Sozialdemokraten. Der „Transformationsprozess“ müsse weitergehen, heißt es da. Transformation heißt: Weg mit dem Erbe Schröder-Clement-Müntefering. Gabriel selbst hat aufseiten der SPD die Blockaden abgebaut, wo und wie es nur ging. Er hat die Agenda 2010, Gerhard Schröders Hinterlassenschaft, das „geht gar nicht“ der Linken, scheinbar gelobt und faktisch geschleift. Er hat die Aufbauten von damals zum Abriss freigegeben: die Niedriglöhne, die billige Leiharbeit? Waren „falsch“, sagt Gabriel.

Die Rente mit 67, noch so ein Klotz im Weg, als faktische Rentenkürzung weggeräumt: „Niemand, der sein Leben lang rentenversichert war und über viele Jahrzehnte gearbeitet hat, darf im Rentenalter auf Sozialniveau kommen, nur weil er unverschuldet arbeitslos war oder in den Niedriglohnsektor gedrückt wurde.“ Beim Mindestlohn hätte die SPD mit 8,50 Euro zur Linken aufgeschlossen, wenn die nicht noch mal auf zehn Euro erhöht hätte.

Und sogar im Kompetenzteam eines Peer Steinbrück sind Sozialdemokraten vertreten, die zu der Transformation passen, Karl Lauterbach zum Beispiel oder Florian Pronold oder Klaus Wiesehügel. Links, linker, superlinks.

Eine Zusammenarbeit zwischen SPD und Linkspartei erleichtert auch die Tatsache, dass Oskar Lafontaine abtritt, das personifizierte Zerwürfnis.

Manchmal fügt sich ein Bild erst in der Rückschau. Wie bei einem Puzzle. Die ersten Teile passen zwar, aber man kann noch nicht alles erkennen. Heute zum Beispiel wird es noch deutlicher als vor knapp zwei Jahren, am 13. Oktober 2011, als Sigmar Gabriel eine Erkältung plagte. Er hatte sich fit geschluckt mit Aspirin für diese Tage in Dresden und hat eine Rede als angehender Parteivorsitzender gehalten, die im Kern alles enthielt, was sich seither entfaltet.

Sie steht noch heute auf seiner Homepage zum Nachlesen. Die SPD müsse das Wahlergebnis „annehmen“, ihre Politik habe „manchmal aseptisch und durchgestylt gewirkt“. Nun müsse die Partei da hin, „wo das Leben ist, das anstrengende Leben, da hin, wo es riecht und gelegentlich auch stinkt“. Das war die Kampfansage an die Brioni-Cohiba-SPD, deren arroganter Duft den nach Gabriels Einschätzung wichtigen Truppen der SPD gestunken hatte. Wieder und wieder hat er auf dem Parteitag und in Interviews von den zehn Millionen geredet, die der SPD als Wähler seit dem Sieg von 1998 den Rücken gekehrt hätten. Alles war seiner Meinung nach weg: die Glaubwürdigkeit, das Profil und damit auch diese zehn Millionen Wähler.

Die Mitte, mit der Schröder eine Verschiebung der SPD nach rechts begründet hatte, definierte Gabriel wieder in die andere Richtung. Er berief sich auf Willy Brandt: Dessen Mitte sei links gewesen.

Rot-Rot-Grün ist keine leichte Übung in Deutschland. In das Verhältnis zwischen Rot und Dunkelrot spielen alte Konflikte hinein, die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei, die Identität ostdeutscher Bürgerrechtler unter den Sozialdemokraten. Dass Oskar Lafontaine und etliche Abtrünnige der SPD gemeinsam mit der PDS die Linke aufgebaut haben, hat Aggressionen erzeugt, die sich nur langsam abbauen.

Auch zwischen roten SED-Nachfolgern und grünen Ost-Bürgerrechtlern steht die DDR-Geschichte. Kein Wunder, dass es eine ordentliche rot-rot-grüne Regierung mit Ministern aus allen drei Parteien bisher nicht einmal auf Landesebene gegeben hat. Wenn die drei zusammenarbeiteten, wurden Sonderkonstruktionen ausgetüftelt. Die erste war das „Magdeburger Modell“, 1994 erfunden von Reinhard Höppner: Seine SPD und die Grünen stellten die Regierung. Die PDS stimmte für den Haushalt und wichtige Gesetze. Ihr Vorteil: Sie konnte sich nach außen in Oppositionsmanier entrüsten, zugleich aber über den Landtag Macht ausüben.

Höppner hoffte, der CDU weniger Angriffsfläche zu bieten, wenn die PDS nicht richtig mitregierte. Doch die Union schlachtete sein Modell gekonnt aus. Im selben Jahr mobilisierte sie im Bundestagswahlkampf. Die SPD hat bis heute Angst vor dem Mobilisierungseffekt. Rote Socken! Kommunisten! Linksfront!

Klaus Wowereit kratzte die CDU nicht, als er 2001 die Große Koalition in Berlin aufkündigte und sich mit einer rot-rot-grünen Mehrheit zum Bürgermeister der Hauptstadt wählen ließ. Er amtierte erst mit Rot-Grün, die PDS tolerierte seine Regierung. Nach der nächsten Wahl schaltete Wowereit auf Rot-Rot um, fast neun Jahre lang regierte er so. In Mecklenburg-Vorpommern gab es acht rot-rote Jahre. Der Mobilisierungseffekt für die Union nutzte sich ab – zumal im Osten. Dass Rot-Rot in Brandenburg regiert, bringt keinen CDU-Ortsverein mehr in Wallung.

Im Westen war das 2008 noch einmal anders, als Andrea Ypsilanti nach der Macht in Hessen griff. Sie wollte Rot-Grün wie einst Höppner von den Linken tolerieren lassen. Hybris, Wortbruch, Koch-Kampagne und Intrigen – Ypsilantis Projekt der „solidarischen Moderne“ detonierte.

An Hessen kann man sehen, wie eine Zusammenarbeit mit der Linken die Sozialdemokraten spalten kann. Verfügt ein Sigmar Gabriel über die Überzeugungskraft, sie an den Gedanken zu gewöhnen? Wäre er stark genug, sie zusammenzuhalten?

Die Antwort auf die Hessen-Frage lautet in der SPD oft: Nordrhein-Westfalen. 2010 schickten dort die Sozialdemokratin Hannelore Kraft und die Grüne Sylvia Löhrmann den CDU-Mann Jürgen Rüttgers in Pension – ohne eigene Mehrheit im Parlament.

Rot-Rot-Grün? Sylvia Löhrmann, heute stellvertretende Ministerpräsidentin und Schulministerin, antwortet gleich mit einem Understatement, und das ist typisch. „Dass es in Düsseldorf Rot-Rot-Grün gegeben hätte, ist eine Mär“, sagt sie. Die Regierung habe sich jeweils Mehrheiten gesucht. Schulkonsens – mit der CDU. Abschaffung der Studiengebühren – mit der Linken. Stärkung der Stadtfinanzen – mit der FDP. Man sieht an der Antwort: In NRW lief es auf eine geduldige, stille Weise. Und die Wahl der Regierungs­chefin? Wegen der Landesverfassung konnten sich Kraft und Löhrmann um die Frage herummogeln. Für die Wahl der Ministerpräsidentin reicht in Düsseldorf ab dem zweiten Wahlgang eine einfache Mehrheit, die Linke enthielt sich vornehm.

Seit der Landtagswahl von 2012 regieren SPD und Grüne in Nordrhein-Westfalen ohne Sperenzchen. Mehrheit satt. Dieses Ziel erreichten Kraft und Löhrmann zwar auch auf rot-rot-grünen Pfaden. Aber sie haben sich nicht von der Linken abhängig gemacht. Ihren Weg zur Macht gingen sie leise und behutsam. Keine Ausschlusserklärungen, kein Gerede von rot-grünen Projekten. „Nie die Dinge überhöhen“, sagt Löhrmann auch jetzt über Rot-Grün. „Politik muss leidenschaftlich sein, aber sie muss nüchtern agieren.“

Wie passt so ein Rezept zu Sigmar Gabriel? Wenn er es einmal mit Rot-Rot-Grün probieren sollte, sähe es anders aus. Ihm liegt das Spektakel mehr als die Behutsamkeit. Rot-Rot-Grün? Ein Coup würde das wohl, mit lautstarker Begründung, epochal aufgeladen. Aber wenn jemand in der SPD sich nicht vor einer Konfrontation mit der Union fürchtet, dann ist das Gabriel.
 

Die Junge Union in Altenberge, einem kleinen Ort unweit von Münster, hat ihr Büro direkt am Marktplatz – was ganz praktisch ist, wo doch die Altenberger SPD an diesem frühen Abend ihren Wahlkreiskandidaten Ulrich Hampel von dort auf die Reise in seinem Wohnmobil schicken möchte. Es ist wieder heiß wie in Ahlen, auf dem Platz stehen viele bärtige Männer herum, die einen an frühere Deutschlehrer erinnern, wie Gabriel auch mal einer war. Eine nach SPD aussehende Band älterer Herren covert Songs von Chuck Berry, den Beatles und den Rolling Stones. Der Leadgitarrist wagt sich sogar an „Hey Joe“ von Jimi Hendrix und „Mary had a little Lamb“ von Stevie Ray Vaughan – das muss man sich als Gitarrist erst mal trauen, aber hier in Nordrhein-Westfalen traut sich die SPD auch wieder was. „Wir sind die Kraft“, haben manche auf dem Marktplatz auf ihrem T-Shirt-Bauch stehen.

Aus einem dunklen Wagen steigt ein Mann und geht direkt auf die Jungs von der Jungen Union zu. Sigmar Gabriel. Er macht bei dem Spielchen mit, das die Jungs vorbereitet haben an ihrem Stand und lässt sich mit dem schwarzen T-Shirt fotografieren, das sie ihm in die Hand gedrückt haben. „Cool bleiben und Kanzlerin wählen“, steht auf dem Shirt. „So, Jungs, war nett“, sagt er dann. „Jetzt geh ich euch mal ein bisschen beschimpfen, wenn’s recht ist.“

Gabriel freut sich, dass zwei Gewerkschaften da sind, darunter die IGBCE, der der angehende Camper Ulrich Hampel angehört. Er wolle Ulli beim Kofferpacken helfen, sagt Gabriel, und dann geht es los mit dem Kofferpacken: Gleiches Geld für gleiche Arbeit, ein Lob für die SPD-Regierung in NRW, eine liebevolle Spitze in Richtung Junge Union. Politik von oben? „Das sollen die da drüben machen“, sagt er mit Blick zu den Jungs von der JU. „Politik von unten, für die Menschen, die machen wir.“ Sogar eine Prise Ressentiment gegen Ausländer wird beigemischt wie seinerzeit von Oskar Lafontaine: Man müsse sich „erst mal um die kümmern, die hier sind, und nicht zuallererst gucken, wen wir noch alles zu uns holen“.

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Die zehn Millionen verlorenen SPD-Wähler tauchen wieder auf in der Rede. Sie tauchen immer auf. Das Trauma der SPD.
Angela Merkel? Nicht unsympathisch, nein, nein, aber „eine sympathische Anscheinerweckerin“. Steuererhöhungen? „Nie sexy!“ Aber hierzulande sei bei manchen der „Steuerspartrieb ausgeprägter als der Sexualtrieb!“

Die Jungs von der Union können das eine oder andere Bierchen gebrauchen, als Gabriel abgerauscht ist. Cool sei der schon. So einen wie den, das merkt man, hätten sie auch gerne in NRW, so vom Typ her. Aber sie haben Armin Laschet. So ist das Leben.

Am anderen Ende der Republik, ein paar Tage später, hat es Gregor Gysi wie Sigmar Gabriel auch mit der Gleichheit. Der Hunger in der Welt muss doch abzuschaffen sein, sagt der Chef der Linken im Bundestag. „Mindestens mal das muss doch Politik hinkriegen!“, ruft Gysi von der Bühne des Platzes am Seepark in Sellin auf Rügen. Die Sonne knallt ihm auf die Glatze.

Dietmar Bartsch, Vize der Linksfraktion, ist nicht ganz zufrieden mit der Örtlichkeit dieser Station der Ostsee-Tour mit Gysi: Zu weit weg von der Laufkundschaft, von der Seebrücke sowieso – zweite Reihe, ein Asphaltplatz, auf den gut ein abgehalfterter Zirkus passen würde. Aber die Leute sind gekommen, trotz Ostsee, trotz sengender Sonne.

Gysi ist ein fantastischer Angleicher. Wenn nötig, tänzelt er auch über die Gegensätze zwischen den Parteien hinweg. Gerade gleicht er einige grundlegende Unterschiede der Menschheit an: Ost und West, Männer und Frauen, Alte und Junge. Dietmar Bartsch, der Stratege der Linken, murmelt mit. Das Skript ist von ihm. Er sagt Gysi, welche Schlager er singen soll. „Das ist noch das alte Manuskript mit den alten Zahlen, das sind nicht mehr acht, sondern neun“, raunt er rüber, als Gysi zu Details von Branchenregelungen beim Mindestlohn redet. Bartsch sagt: „Jetzt kommt gleich der Beifall.“ Gysi beendet seinen Satz: „Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung.“ Der Beifall breitet sich auf dem Platz aus. Bartsch guckt wie ein zufriedener Zirkusdirektor. Geht doch.

Dietmar Bartsch ist einerseits einer der Strategen der Linken und andererseits in der Politik über alle Parteigrenzen beliebt. Der Lieblingslinke. Er hat beste Drähte zu Sigmar Gabriel. Die beiden schätzen einander. Bei gebratenem Dorsch in einem Lokal neben dem Festplatz also die Frage: Warum hat die SPD bei Rot-Rot-Grün für 2013 die Schotten dichtgemacht, Herr Bartsch? „Weil die Union erfolgreich war“, sagt Bartsch trocken, es schwingt sogar ein gewisser Respekt mit, mindestens Verständnis für die Vorgehensweise. Die SPD sei über den Stock gesprungen, den die Union hingehalten habe, und jetzt sei der Zug „für dieses Mal“ abgefahren. Er sehe allenfalls „kreative Lösungen“, aber die will er nicht mal im Ansatz verraten.

Freimütig redet er dagegen von Veranstaltungen, die er mit den Kandidaten der anderen Parteien hier in seiner Heimat absolviert. Immer wieder ergebe sich ein klarer thematischer Graben zwischen Union und FDP auf der einen und den Linken, der SPD und den Grünen auf der anderen Seite. Und „immer wieder fragen uns die Leute: Wenn ihr auf dieser Seite so einig seid, warum macht ihr es nicht zusammen?“

Angela Marquardt fragt sich das auch. Regelmäßig, systematisch, hauptberuflich. Ungefähr alle drei Monate versammelt sie Bundestagsabgeordnete von SPD, Grünen und Linkspartei. Die Runde heißt r2g. Zweimal Rot, einmal Grün. Sie treffen sich gern im „Walden“, einer Kneipe im Berliner Prenzlauer Berg. Die Fassade des Walden ist komplett mit Efeu zugewachsen, 36 Grad, Marquardt sitzt draußen, ein Bier dazu. Sie sagt: „Wir waren von Anfang an ehrlich und offen miteinander.“

Marquardt wurde früher „Gysis Kleene“ genannt. Anfang der Neunziger brauchte Gysi für seine Partei der alten Säcke jemanden, der Lebendigkeit verkörperte. Schwarze Kleidung, gelb-grüne Haare. Lebendiger als mit einer jungen Frau aus der Punkszene ging es nicht. Marquardt tickt schnell, sie redete so frech wie eine Jugendausgabe von Gysi. Sie wurde stellvertretende Bundesvorsitzende, kam in den Bundestag. 2003 trat sie aus, nach einer Parteitagsniederlage der Reformer.

Ein paar Jahre später – sie hatte inzwischen ihr Politikstudium abgeschlossen – wurde Marquardt Mitarbeiterin im Bundestagsbüro der Sozialdemokratin Andrea Nahles. Halbe Stelle. 2007 bekam sie eine weitere halbe Stelle. Linke SPD-Abgeordnete wie Florian Pronold, Dietmar Nietan und Nahles hatten eine „Denkfabrik“ gegründet. Sie suchten sich eine Geschäftsführerin, die Kontakte zur Linkspartei hatte. Angela Marquardt. Sie organisierte 2008 das erste Treffen; es war das Jahr, als Ypsilanti und Koch die Schlacht um Hessen schlugen. Rot-roter Freundeskreis? Die alten SPD-Chefs tobten. Marquardt lud Leute aus ihrer früheren Partei ein, denen sie vertraute: Halina Wawzyniak, Jan Korte, Stefan Liebich. Von der SPD kamen die Leute aus der Denkfabrik.

Sie saßen zusammen und tranken Wein, später kamen Grüne dazu. Es gibt Ähnlichkeiten mit der schwarz-grünen Pizza-Connection, jener Runde junger Christdemokraten und Grüner, die sich in den Neunzigern in Bonn bei einem Italiener trafen. Auch im „Walden“ half das Alter: Die meisten waren damals unter 40. „Wir mussten nicht mehr über die Mauer diskutieren“, sagt Marquardt.
 

2010 luden sie sogar zum rot-rot-grünen Sommerfest in Berlin-Mitte. Am Eingang lag ein rot-rot-grüner Teppich bereit. Aber die Gäste kamen und kamen nicht. An jenem Abend tagte die Bundesversammlung, ein Abstimmungsmarathon:

Schwarz-Gelb für Christian Wulff, Rot-Grün für Joachim Gauck und die Linke für Luc Jochimsen, ihre Außenseiterkandidatin zur Wahl des Staatsoberhaupts. Marquardt wartete mit den Gästen von Attac, von Greenpeace. Doch als endlich die ersten Politiker aus dem Reichstag kamen, war klar: Rot-Rot-Grün hat nichts zu feiern, wenn die Beteiligten sich nicht mal auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten einigen.

Marquardt hat weitergearbeitet. Veranstaltungen, eine Wochenendklausur in Brandenburg mit Professoren und dem Journalisten Jakob Augstein. Zu einem Abend lud sie sogar den Stasi-Akten-Beauftragten Roland Jahn ein. Empfindlichkeiten, Gemeinsamkeiten. Die Idee: r2g soll der Nukleus sein für den Tag x, wenn es doch klappt mit dem Bündnis.

2013? „Nein. Eine rechnerische Mehrheit bedeutet noch lange keinen Wählerauftrag.“ Marquardt ist ja nicht doof, sie kennt die Sprachregelung ihrer neuen Partei. Was ist mit 2017? Sie überlegt kurz, dann legt sie los. „Wir sind nicht mehr im Kalten Krieg. Ich bin nicht die Generation von Lafontaine und Müntefering. Ich bin nicht 70. Ich will eine politische Perspektive, die Gesellschaft verändert.“

Es ist tatsächlich so: Die Zeit läuft für ein Linksbündnis. Sigmar Gabriel wird diesen September erst 54 Jahre alt. Und Träger von Rot-Rot-Grün könnten vor allem Jungpolitiker sein.

Der grüne Bundestagsabgeordnete Sven-Christian Kindler ist so einer. Er wirkt äußerlich wie das Gegenteil des klassischen Altlinken mit Sandalen und Ströbele-Pulli. Smarter Auftritt, blau-weiß gestreiftes Hemd. Vermutlich stellen sich viele CDU-Kreisvorsitzende so den perfekten Schwiegersohn vor. Gerade hat er mit seiner Freundin eine Küche für die Wohnung in Hannover ausgesucht. Hannover ist sein Wahlkreis, jetzt bestellt er eine Rhabarbersaftschorle im „Café Safran“ in der Calenberger Neustadt. In diesem Viertel bekamen die Grünen bei der Landtagswahl im Januar 30 Prozent.

In den rot-grünen Koalitionsgesprächen gehörte Kindler zu den Unterhändlern der Grünen, bis in die Nacht ging das, er hat die Dinge kalkuliert und durchgeprüft. Denn rechnen, das kann er: duales Studium zum Betriebswirt, Controlling bei Bosch. Im Haushaltsausschuss des Bundestags lässt er sich von den Staatssekretären und Ministern die Budgetposten vortragen. Excel, SAP – und sehr links. Kostprobe? „Primat des Öffentlichen über die Wirtschaft, Umverteilung des Reichtums, sozial-ökologischer Umbau: Ich bin bei den Grünen, weil sie eine emanzipatorische linke Partei sind.“ Auch Kindler gehört zur r2g-Connection. Schwarz-Grün? „Funktioniert nicht“ – er sagt das, als wäre es das Ergebnis einer Matheaufgabe.  

Den rot-rot-grünen Nachwuchs verbinden gemeinsame Erlebnisse. Sie haben in Heiligendamm gegen den G-8-Gipfel protestiert, in Dresden gegen Naziaufmärsche demonstriert und im Wendland den Castor blockiert. „Wir wollen eben die Welt verbessern“, sagt Kindler. „In den nächsten Wochen kämpfen wir für starke Grüne und den Regierungswechsel mit Rot-Grün. Ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen. Die Diskussionen über strategische Mitte-Links-Projekte – auch in einer Dreierkonstellation – werden aber weitergehen.“

Rot-Rot-Grün betreiben beim Grünen-Nachwuchs nicht nur Parteilinke, sondern auch Realos wie die Bundestagsabgeordnete Nicole Maisch oder Malte Spitz, Mitglied des Bundesvorstands. Kommt es zu einem Links-Bündnis, könnten junge Grüne dieses Typs entscheidend sein: als Detailarbeiter und Organisierer. Wenn eine Regierung nicht im Chaos landen soll, helfen Tabellenkalkulationen mehr als Talkshow-Stanzen und Ticker-Erfolge.

Regieren, das ist ein täglich neu erarbeiteter Kompromiss. Die Linke aber ist durch Kompromisslosigkeit groß geworden. Vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. „Die Hürde heißt Nato“, sagt Niels Annen. „Da geht im Moment nichts.“

Eben hat er auf der Straße eine Frau begrüßt: seine Konkurrentin von der Linken im Wahlkreis Hamburg-Eimsbüttel. „Moin“, hat er nett gerufen und hinterher gesagt: „Die ist schon okay.“ Annen arbeitet an seinem Comeback für den Bundestag. 2009 hat ihn die eigene Partei bei der Nominierung abgeschossen. Er blieb im Bundesvorstand, schloss sein Studium ab und machte in Washington noch einen Master in International Public Policy, die Außenpolitik war auch im Bundestag sein Feld. Damals im Parlament störte ihn, dass viele in der SPD auf die Linke aggressiver reagierten als auf CDU, CSU und FDP. Er fand das dumm. „Die Linken durften die Märtyrer spielen“, sagt er. „Die Ausgrenzung hat nicht uns gestärkt, sondern die.“ Er redete mit den Linken. Er habe – Arbeitersohn – die gemeinsamen Wurzeln in der Sozialpolitik gesehen. „Verliebt in Rot-Rot-Grün war ich nie“, schiebt er schnell hinterher, immerhin ist ja Wahlkampf. Aber „prinzipiell und langfristig gilt schon: Je mehr Optionen, desto stärker die Partei“.

Das Parteiprogramm der Linken verlangt die Auflösung der Nato. Deutschland solle aus den militärischen Strukturen des Bündnisses austreten. Kampfeinsätze: nein. Mit UN-Mandat: auch nicht. Annen hat sich mit den Forderungen beschäftigt. Er denkt nicht, dass die Linke so leicht davon runterkommt. Bis zum Kosovo-Krieg mussten SPD und Grüne erst einen Weg zurücklegen. Die SPD führte damals eine Debatte, Schritt für Schritt. Die Grünen hatten in Joschka Fischer einen starken Anführer, der seinen Kurs brachial durchzusetzen vermochte. Beides sieht Annen bei den Linken nicht. Im Gegenteil: Die harte Linie in der Außenpolitik sei Alleinstellungsmerkmal – und der Kitt, der die zerstrittene Partei zusammenhält.

Oder geht da doch was mit der Nato? „Dass wir das nicht durchgesetzt bekommen, wissen wir“, hat Gysi neulich im ZDF über die von seiner Partei geforderte Auflösung des Verteidigungsbündnisses gesagt. „Wir sind doch auch Realisten.“ Im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr sprach er in diesem Interview nur noch von „Kampfeinsätzen“, die die Linke nicht mitmachen könne. Ein feiner Unterschied – und ein Schritt auf die SPD zu. Gysi wieder, der Meister des Angleichens.

Ob die Linkspartei in außen- und sicherheitspolitischen Fragen hart bleibt, wird stark davon abhängen, wie ihre nächste Bundestagsfraktion aussieht. Wegen des neuen Wahlrechts kann man kaum vorhersagen, wie viele ostdeutsche Reformer und wie viele Hardcore-Linke aus dem Westen ins Parlament einziehen werden.

Doch erst einmal steht der 22. September bevor, der Abend der Balkendiagramme. Der rote Balken der Sozialdemokraten könnte mickrig werden. Andrea Nahles leitet offiziell als Generalsekretärin die Wahlkampagne. Sie ist Sigmar Gabriels große Hoffnung. Steinbrück wird sich nach einer Niederlage ins Private verabschieden. Irgendjemand muss den Parteivorsitzenden Gabriel vor der Wucht des Scheiterns schützen. Nahles ist als Prellbock vorgesehen. Das ist die Voraussetzung für den Plan des Sigmar Gabriel. Er braucht Schuldige, um bleiben zu können. Obwohl er selbst den Kandidaten gekürt hat. Steinbrück ist sein Kandidat. Das ist das Lindenblatt auf Gabriels Schulter, da ist er verwundbar.

Nahles hat in der Partei mehr Freunde und Verbündete als Gabriel. Zu viele sind Opfer oder jedenfalls persönlich Leidtragende seiner notorischen Unzuverlässigkeit geworden. Jeder hat so sein eigenes aussagekräftiges und bitteres Sigmar-Erlebnis.

Bleiben noch die beiden Landeschefs Olaf Scholz in Hamburg und vor allem Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen. Die könnte ihre Landtagswahl im Mai 2017 zu einer Vorwahl machen. Gerhard Schröder hat 1997 bekanntlich die Landtagswahl in Niedersachsen genutzt, um sich als Kanzlerkandidat gegen Oskar Lafontaine durchzusetzen.

Die kitzligen Wochen und Monate für Gabriel rücken näher. Hopp oder topp. Kraft darf nicht angreifen, Scholz auch nicht, Nahles darf nicht putschen. Dann wäre der Weg frei für Gabriel. Für seinen Weg zu Rot-Rot-Grün. Für seine Option.

Es wäre die Vollendung des Weges, den er seit seiner Wahl zum Parteichef vor vier Jahren geht. In das Gabriel-Puzzle passt das gültige Grundsatzprogramm von 2007, in dem immer noch dieser Satz steht: „Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist.“

So würde das heute wohl nicht mal mehr Dietmar Bartsch beim Bratdorsch formulieren.

 

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