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(picture alliance) Rösler, Merkel, Seehofer - für jeden etwas mit dabei.

Koalitionsgipfel - Was taugen die Kompromisse?

Union und FDP haben sich geeinigt. Vorher hatten sie monatelang über Rente, Betreuungsgeld und Praxisgebühr gestritten. Eine Analyse der Ergebnisse

PRAXISGEBÜHR

Am schnellsten geht es mit der ungeliebten Praxisgebühr. Die zehn Euro pro Quartal – eingeführt unter Rot-Grün mit Zustimmung der Union im Jahr 2004 – werden bereits zum Jahreswechsel ersatzlos abgeschafft. Damit erfüllt die Koalition der FDP einen Herzenswunsch, die im Wahljahr ganz dringend einen populären Handlungsnachweis benötigt und auch wieder bei ihrer ärztlichen Stammklientel punkten muss. Im Gegenzug ließen sich die Liberalen ihre Zustimmung zum Betreuungsgeld abkaufen, der Handel war im Wesentlichen bereits vor dem Koalitionsgipfel eingetütet.

Den Krankenkassen entgehen durch den Wegfall der Eintrittsgebühr pro Jahr rund 2,1 Milliarden Euro an Einnahmen, die sie allerdings „dauerhaft“ und vollständig aus dem Gesundheitsfonds erstattet bekommen sollen. Die Geldsammelstelle der Kassen muss deshalb nicht darben, sie verfügte zuletzt über eine Rücklage von stolzen 12,7 Milliarden Euro. Und weil der Bund nicht einsieht, dass der staatlich mitgepäppelte Fonds zur Sparkasse wird, will er dort zusätzlich sparen. Er kürzt dem Fonds, der die Krankenkassen mit den Beitragsgeldern versorgt, seinen Zuschuss im kommenden Jahr um 500 Millionen und 2014 um zwei Milliarden Euro. Es sei schließlich, so heißt es zur Begründung, „nicht angedacht“ gewesen, dass im Gesundheitsfonds „ungenutzte Milliarden-Finanzpolster entstehen, die auch durch Steuerzuschüsse finanziert werden“.

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Ob die Streichung der Gebühr auch höhere Gesundheitskosten produziert, weil dann wieder mehr Patienten zum Arzt gehen, ist ungewiss. Es war ja gerade eines der Argumente für die Abschaffung, dass eine „Steuerungswirkung“ nicht zu beobachten sei. Allerdings ist damit zu rechnen, dass viele Patienten ihren Arztbesuch vom letzten Quartal 2012 auf das erste Quartal 2013 verschieben werden, um sich die zehn Euro Eintritt zu sparen. Der Kieler Gesundheitsforscher Thomas Drabinski etwa rechnet fürs kommende Jahr mit einem Anstieg der Patientenzahl um rund zehn Prozent.

Eine Senkung der Krankenkassenbeiträge, wie von der Union ins Spiel gebracht, wurde dagegen nicht beschlossen – sehr zur Freude von Gesundheitsminister Daniel Bahr. Klamme Versicherer, die womöglich noch vor der Bundestagswahl wieder Zusatzbeiträge in Aussicht stellen, kann der FDP-Politiker und mit ihm die Koalition gar nicht gebrauchen. Die sind nämlich womöglich noch unbeliebter als die nun mühsam abgeschaffte Praxisgebühr.

Die Grünen, eigentlich inzwischen auch Gegner der Gebühr, sehen diese Gefahr bereits durch den Koalitionsbeschluss. Die Abschaffung werde sich für die Versicherten als „vergiftetes Geschenk“ erweisen, orakelt ihre Gesundheitsexpertin Biggi Bender. Das derzeitige Kassenplus sei angesichts der Ausgabenentwicklung und der unsicheren Konjunkturaussichten nämlich „nur ein Übergangsphänomen“, sagt sie. Schon 2014 würden die ersten Kassen mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht mehr auskommen. „Dann werden sie Zusatzbeiträge verlangen müssen.“ Dass es ohne eine erneute Rechtsänderung zu diesen „kleinen Kopfpauschalen“ komme, sei „so sicher wie das Amen in der Kirche“.

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RENTE

Dass die Renteneinigung für die Koalitionäre das inhaltlich komplizierteste Verhandlungsthema war, zeigte sich noch am Tag danach. Es gab nämlich erhebliche Unstimmigkeiten darüber, worauf man sich bei der frisch erfundenen „Lebensleistungsrente“ wirklich geeinigt hatte. Klar ist, dass die Renten von Geringverdienern, die mindestens 40 Jahre lang in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt und gleichzeitig noch privat fürs Alter vorgesorgt haben, so weit aufgestockt werden sollen, dass sie „knapp oberhalb“ der staatlichen Grundsicherung liegen. Doch um wie viel genau, darauf legten sich die Koalitionsoberen vorsichtshalber nicht fest.

Es war dann erst einmal die Rede von einer Differenz zwischen zehn und 15 Euro gegenüber der Grundsicherung, also dem Anspruch derer, die nie groß gearbeitet haben. Dieser Anspruch liegt derzeit im Schnitt bei monatlich 688 Euro – und SPD-Chef Sigmar Gabriel bezichtigte die Regierenden angesichts des offensichtlich so überaus geringen finanziellen Vorteils für langjährige Beitragszahler sogleich des „Zynismus“. Allerdings stellte Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wenig später klar, dass die Aufstockung für viele deutlich höher ausfallen könne. Zu rechnen sei, so sagte sie, mit einem Rentenbetrag von etwa 830 bis 850 Euro – so wie bereits in ihrem Ursprungskonzept einer „Zuschussrente“ vorgesehen. Was die Sache teurer macht, als offenbar von manchem in der Koalition angenommen.

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Auslöser der Verwirrung ist die Tatsache, dass die Zahlbeträge zur Grundsicherung in Deutschland je nach Wohnort sehr unterschiedlich sind. In wohlhabenden Regionen oder Großstädten wird den Bedürftigen, wegen der höheren Wohn- und Lebenskosten, deutlich mehr gewährt als etwa im Thüringer Wald. Die Lebensleistungsrente aber müsse einheitlich sein und „oberhalb des höchsten durchschnittlichen Grundsicherungsanspruchs liegen“, stellte ein Ministeriumssprecher klar. Eine regional unterschiedlich bemessene Aufstockung wäre ein „Bürokratiemonster“ und „nicht administrierbar“, hieß es. Schließlich seien dafür dann ja nicht mehr die Kommunen, sondern die Rentenversicherer zuständig.

Beim Verhandlungspartner FDP schienen sie am Montag von dieser Interpretation gelinde gesagt etwas überrascht – und womöglich wird es wegen der höheren Kosten darüber auch noch politischen Streit geben. Dabei profitiert von der Aufstockung, die Mitte 2013 Gesetz werden soll, zu Beginn nur eine sehr überschaubare Zahl von Menschen. Sie liege, weil Altersarmut bislang noch kaum ein Thema sei, im „zweistelligen Tausenderbereich“, sagte Leyen. Im Jahr 2030 allerdings kämen die Verbesserungen bereits mehr als einer Million Rentnern zugute. Dies zeige, wie notwendig es sei, „die Weichen jetzt zu stellen“.

Dass von der Rentenaufstockung anfangs kaum jemand profitieren wird, hängt freilich auch mit den Zugangsvoraussetzungen zusammen. 40 Beitragsjahre plus Privatvorsorge sind deutlich mehr, als Leyen ursprünglich wollte. Allerdings, so betonte sie, würden künftig auch Erziehung und Pflege bei den Beitragszeiten deutlich besser bewertet. Für Frauen, die sich zu Hause diesen Aufgaben gewidmet haben, wird es folglich leichter, die geforderte Mindestbeitragsdauer zu erreichen.

Offen ließ die Koalition, wie viel Privatvorsorge nötig ist, um in den Genuss der „Lebensleistungsrente“ zu gelangen. Das sei noch zu diskutieren, sagt die Ministerin. Entscheidend für sie ist aber das doppelte Signal. Erstens: Es lohnt sich, möglichst lange sozialversicherungspflichtig zu arbeiten. Und zweitens: Es lohnt sich auch für Geringverdiener, privat vorzusorgen. Das auf diese Weise Ersparte nämlich werde bei der „Lebensleistungsrente“ nicht verrechnet, sondern komme immer in voller Höhe „oben drauf“.

Nicht durchsetzen konnten sich die Unionsfrauen mit der Forderung, ältere Frauen für die Kindererziehung in der Rente generell besser zu stellen. Hier wurde nur ein Prüfauftrag beschlossen – was bedeutet, dass in dieser Legislatur nichts mehr passiert. Mütter, deren Kinder nach 1992 geboren sind, erhalten bislang für ihre Rente drei Erziehungsjahre angerechnet, ältere Mütter nur eines. Aus Koalitionskreisen hieß es, man habe im Wahljahr eine Debatte vermeiden wollen, bei welchen Jahrgängen die Grenze gezogen werden müsse. Und alle Mütter rückwirkend besser zu stellen, sei finanziell nicht möglich.

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BETREUUNGSGELD

Dass das politisch heftig umstrittene Betreuungsgeld beschlossen würde, war nach den monatelangen Raufereien und Festlegungen bereits vor dem Koalitionsgipfel klar – zumal die FDP der CSU mit der Praxisgebühr etwas politisch Gleichwertiges zum Abkaufen anzubieten hatte. Die Neuigkeit ist, dass die Prämie fürs Kinder-Zuhause-Lassen nochmal später kommt als erwartet. Die Koalitionäre verschoben das Projekt um ein halbes Jahr nach hinten, das Geld fließt nach Beschlusslage jetzt erst zum August 2013. Allerdings soll das Lieblingsprojekt der Christsozialen bereits in dieser Woche vom Bundestag beschlossen werden. Bis Ende Juli 2014 werden dann allen Familien, die von den staatlich angebotenen Kita-Plätzen für ihre ein- und zweijährigen Kinder keinen Gebrauch machen, 100 Euro im Monat gezahlt. Danach sollen es 150 Euro sein.

Für das Betreuungsgeld, das mehr als eine Milliarde Euro im Jahr kostet, dürfen jedoch keine neuen Schulden aufgenommen werden. Dies war eine Bedingung der FDP. Gleichzeitig setzten sich die Liberalen noch mit einem zweiten Ansinnen durch: Eltern, die das Betreuungsgeld nicht stante pede ausgeben, sondern vorausschauend in einen Bildungssparvertrag für ihr Kind einzahlen, werden vom Staat belohnt. Sie erhalten dafür noch einmal einen Zuschuss von 15 Euro.

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Das Gleiche gilt, wenn das Geld in einen Riester-Rentenvertrag der Mutter (oder des erziehenden Vaters) fließt – eine Idee der Unionsfrauen, die sich an anderer Stelle, nämlich bei der Aufstockung des Rentenanspruchs älterer Mütter, nicht durchsetzen konnten. Betreuungsgeld und Elterngeld können allerdings nicht gleichzeitig bezogen werden. Eltern erhalten also bis zu 14 Monate Elterngeld und dann bis zu 22 Monate Betreuungsgeld.
Die Opposition sprach von einem „Kuhhandel“ und kündigte an, gegen das Betreuungsgeld klagen zu wollen. „Ich glaube, das ist mit der Verfassung überhaupt nicht zu vereinbaren. Deswegen wird es da einen erheblichen Widerstand geben“, sagte die Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth. Die Entscheidung, Geld dafür auszugeben, dass Kinder zu Hause bleiben, sei unsinnig und entspreche dem Familienbild der 50er Jahre, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann. Und sein Chef, Sigmar Gabriel, kündigte an, die neue Zahlung für Familien als Erstes rückgängig zu machen, wenn seine Partei nach der Bundestagswahl 2013 an die Macht komme.

Scharfe Kritik übten auch zahlreiche Sozialverbände. „Mit dem Betreuungsgeld erkauft sich die Regierung den Koalitionsfrieden auf Kosten der Familien“, sagte der Bundesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt, Wolfgang Stadler. Der Paritätische Wohlfahrtsverband ärgert sich vor allem über das Bildungssparen. Es handle sich dabei um nichts anderes als ein „dreistes Unterstützungsprogramm für die private Versicherungswirtschaft“, sagte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider. Erstmalig würden Bildungschancen von privater Vorsorge abhängig gemacht. „Das ist der Einstieg in die neoliberale Privatisierung von Bildungsleistungen.“

HAUSHALT
Schon 2014 wollen die Koalitionäre ohne Neuverschuldung auskommen. Dabei bleiben allerdings Einzelmaßnahmen und Transaktionen wie etwa die Finanzierung des Rettungsschirms ESM ausgeklammert. Außerdem gilt der ehrgeizige Vorsatz nur, wenn die weltwirtschaftlichen und europäischen Rahmenbedingungen stabil bleiben. Zu Deutsch: Der Bund darf trotzdem weiter neue Schulden machen. Gleichwohl werden Union und FDP ein Sparpaket von sechs bis sieben Milliarden Euro schnüren müssen. Möglich werden soll das vor allem durch die Kürzung des Bundeszuschusses an den Gesundheitsfonds, den späteren Start des Betreuungsgeldes, die verordnete Gewinnausschüttung seitens der staatlichen Förderbank KfW – und eventuell auch durch Ausnahmen bei der Ökostrom-Finanzierung für die Industrie.

VERKEHR

Richtig Geld herausgeholt hat die CSU mit ihrer Forderung nach zusätzlichen Investitionen für die Verkehrswege. Verkehrsminister Peter Ramsauer soll dafür im kommenden Jahr noch mal 750 Millionen Euro erhalten. Verlangt hatte der CSU-Politiker einen Aufschlag in Höhe von einer Milliarde – allerdings erst auf den letzten Drücker und als sich die FDP nochmals beim Betreuungsgeld quergestellt hatte. Nun ist der Wunsch, mehr in die Verkehrsinfrastruktur zu investieren, in der Regierung aber auch weitgehend Konsens. Bislang waren dafür 2013 gut zehn Milliarden Euro vorgesehen. Das Geld solle „vorrangig für Neubauprojekte“ verwendet und durch Umschichtungen im Haushalt aufgebracht werden, hieß es.

Wie die Mittel auf die Verkehrsträger aufgeteilt werden sollen, ließ er offen. Die Allianz pro Schiene verlangte, dass die Hälfte der 750 Millionen der Bahn zugutekommen sollte. Zu hören war am Montag allerdings anderes: Der Großteil des neuen Geldes werde wohl in Straßen und Wasserwege investiert.

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