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(picture alliance) Werden Islam und Judentum durch ein Gesetz zur Beschneidung ins Zwielicht gesetzt?

Beschnittene Grundrechte - Was die Politik tun sollte

Die Kriminalisierung der Beschneidung ist kein juristischer Betriebsunfall: Bleibt es bei der Entscheidung des Kölner Landgerichts, stünden Judentum und Islam im Zwielicht – doch das ist nicht der Ort, den ihnen das Grundgesetz zuweist, argumentiert Strafrechtler Alexander Ignor

Die Frage Gretchens an Faust, wie er es mit der Religion halte, stellt sich immer wieder neu und manchmal unverhofft. Die umstrittene Entscheidung des Landgerichts Köln zur religiös motivierten Knabenbeschneidung hat deutlich gemacht, dass sie auch eine Rechtsfrage ersten Ranges ist und dass die Meinungen darüber weit auseinander gehen.

Nun hat die Bundesregierung angekündigt, den religiösen Brauch per Gesetz straffrei stellen zu wollen. Die Bundesregierung wolle muslimisches und jüdisches Leben in Deutschland, heißt es. Diese Mitteilung wird – vielleicht – die politische Diskussion etwas beruhigen. Die rechtliche Diskussion ist damit noch lange nicht zu Ende und die Bundesregierung wird nicht umhin kommen, sich in diesem Streit zu positionieren.

Relativ unstreitig ist unter den Juristen allein, dass die Beschneidung (Zirkumzision) den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Sie ist indes nicht rechtswidrig und deshalb nicht strafbar, wenn eine rechtfertigende Einwilligung vorliegt. Bei einem einwilligungsunfähigen Kind entscheiden darüber die Eltern, die ihre Entscheidung am Kindeswohl auszurichten haben.

Gemäß dem Kölner Urteil, das sich auf eine mehr oder weniger verbreitete Auffassung in der juristischen Literatur stützt, ist die allein religiös motivierte Einwilligung der Eltern rechtswidrig und damit unwirksam. Die Grundrechte des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung würden dem Erziehungsrecht der Eltern eine unverrückbare Grenze setzen. Der Körper des Kindes werde durch eine Zirkumzision irreparabel verändert, was seinem Interesse widerspreche, später selbst über seine Religionszugehörigkeit bestimmen zu können. Dies liege nicht im Wohl des Kindes.

Das ist eine in sich schlüssige Argumentation. Aber es ist nicht die Sichtweise eines religiösen Menschen, dem es Bedürfnis und Pflicht ist, seine Kinder zu ihrem Wohl so zu erziehen, wie seine Religion dies vorschreibt. Das Kölner Urteil greift tief in das Sorgerecht der Eltern und in das Recht auf ungestörte Religionsausübung ein und beschneidet im Ergebnis beide. Am intensivsten stellt sich dieser Eingriff gläubigen Juden dar, aus deren Sicht das Urteil bereits den Zugang zum Judentum beeinträchtigt. Die Beschneidung acht Tage nach der Geburt hat hierfür eine konstitutive Bedeutung. Es verwundert daher nicht, dass von jüdischer Seite die schärfsten Proteste gegen das Urteil erhoben werden.

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Die Kriminalisierung des religiösen Brauchs ist kein juristischer Betriebsunfall. Im Urteil der Strafbarkeit manifestiert sich vielmehr eine konsequent säkulare Weltsicht, die die Religionen an ihrer Elle misst. Eine Weltsicht, die zunehmend das moderne Denken beherrscht.

Das zeigt sehr deutlich die Art und Weise, wie die juristischen Wegbereiter und Befürworter des Urteils die betroffenen Grundrechte gegeneinander abwägen: einerseits das Persönlichkeitsrecht des Kindes und sein Recht auf körperliche Unversehrtheit – andererseits das Grundrecht auf ungestörte Religionsausübung und das Grundrecht der Eltern auf Pflege und Erziehung der Kinder.

Diese Abwägung erfolgt nach Art einer Kosten-Nutzen-Analyse. Bringt die Beschneidung dem Kind insgesamt mehr Vorteile oder mehr Nachteile? In diesem Abgleich ist die religiöse Relevanz nur ein Faktor von vielen, der es mit einer Fülle von Gesichtspunkten aufnehmen muss, für die Rationalität reklamiert wird: physisches und psychisches Wohlbefinden, Sexualität, soziale Akzeptanz. Verglichen damit fallen der religiöse Symbolgehalt und die Bedeutung für die religiöse Identitätsstiftung kaum ins Gewicht; denn das Ritual als solches erscheint der säkularen Vernunft als archaisch und irrational. Folglich kann es keine Rechtmäßigkeit beanspruchen.

Ein Gesetz, das den religiösen Brauch nur „straffrei“ stellt, würde daran nichts ändern, sondern die Situation zulasten der Religionsfreiheit sogar noch verschlechtern. Eltern, Ärzte und Beschneider (Mohel, Sünnetçi) könnten zwar nicht strafrechtlich verfolgt werden, aber der religiöse Brauch selbst wäre ins rechtliche Abseits gestellt. Wird eine Handlung im Strafgesetzbuch lediglich für „nicht strafbar“ erklärt, dann wird ihre Rechtswidrigkeit vorausgesetzt. So verhält es sich beispielsweise beim Schwangerschaftsabbruch nach Beratung während der 13. und 22. Woche nach der Empfängnis (§ 218a, Absatz 4 StGB).

Der Gesetzgeber sollte daher den religiösen Brauch als Ausprägung des elterlichen Sorgerechts und des Rechts auf Religionsausübung anerkennen und ihn im Strafgesetzbuch entweder als „nicht tatbestandmäßig“ im Sinne der Körperverletzung oder als „nicht rechtswidrig“ bezeichnen oder die Einwilligung der Eltern aus religiösen Gründen für wirksam erklären.

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Für eine solche Regulierung spricht der hohe Rang, den die Verfassung sowohl der Religionsfreiheit als auch dem elterlichen Sorgerecht einräumt.

Die Verfassung ist zwar weltanschaulich neutral, aber sie misst der Religionsfreiheit in Artikel 4 Absatz 2 Grundgesetz ein beträchtliches Eigengewicht zu, einen Wert an sich – und nicht nur einen Nutzen im engeren Sinne. „Die ungestörte Religionsausübung“, heißt es dort, „wird gewährleistet.“ Die Knabenbescheidung als religiöses Ritual fällt prima vista in diesen Schutzbereich.

Gleiches gilt für das elterliche Sorgerecht. Nach Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz sind Pflege und Erziehung der Kinder das „natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“. Das heißt: In erster Linie sind die Eltern befugt zu bestimmen, was im Einzelnen dem Wohl des Kindes genügt. Sie haben, juristisch gesprochen, insoweit eine „Einschätzungsprärogative“, und diese schließt die Befugnis ein, das Kind religiös zu erziehen.

Selbstverständlich berechtigen das elterliche Sorgerecht und die Religionsfreiheit die Eltern nicht dazu, die körperliche Unversehrtheit des Kindes aus religiösen Gründen ohne weiteres zu verletzen. Diese steht ja ebenfalls unter dem Schutz der Verfassung. Aber der hohe Wert, der allen betroffenen Grundrechten zukommt, gebietet es, den körperlichen Eingriff angesichts dieser Grundrechte zu bewerten und die jeweiligen Grundrechtsbeeinträchtigungen gegeneinander abzuwägen.

Eine solche Abwägung führt zu folgendem Ergebnis: Der „kleine Schnitt für einen Menschen“ beeinträchtigt dessen Wohlbefinden in einem gewissen Umfang. Es ist jedoch nicht nachgewiesen, dass die Zirkumzision im Regelfall schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen mit sich bringt. Demgegenüber steht fest, dass durch die Kriminalisierung der religiös motivierten Beschneidung das elterliche Sorgerecht und das Recht auf ungestörte Religionsausübung generell und nachhaltig  eingeschränkt werden. Auch die bloße Straflosigkeit würde daran nicht viel ändern. Die Beschneidung wäre definitiv rechtswidrig, Islam und Judentum stünden im Zwielicht. Das ist nicht der Ort, den das Grundgesetz ihnen zuweist.

Der Gesetzgeber sollte daher die religiös motivierte Knabenbeschneidung ausdrücklich als rechtmäßig anerkennen. Fortschritt und Aufklärung würden dadurch nicht beeinträchtigt, Deutschland würde nicht zu einem religiösen Staat. Zur Aufklärung gehört wesentlich die Toleranz, das Aushalten von Auffassungen, die man nicht teilt. Die Grenzen der Toleranz liegen erst dort, wo ihre Voraussetzungen in Frage gestellt werden. Der kleine Schnitt tut das nicht.

Prof. Dr. Dr. Alexander Ignor ist Anwalt für Strafrecht in Berlin. Außerdem lehrt er an der Humboldt-Universität zu Berlin Strafrecht, Strafprozessrecht und mittelalterliche und neuzeitliche Rechtsgeschichte. Er ist Vorsitzender des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer.
 

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