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(picture alliance) „Soll der Bundespräsident die Krisenpolitik der Kanzlerin in Sachen Europa ‚erklären‘? Aus mehreren Gründen sollte er das nicht“

Joachim Gauck - Was der Bundespräsident jetzt tun sollte

Zwei Mal hat Gesine Schwan, von der SPD nominiert, für das höchste Amt im Staate kandidiert. Jetzt lässt es sich die engagierte Bürgerin nicht nehmen, kritische Anmerkungen zur Amtsführung Joachim Gaucks zu machen

Wir leben in politisch unübersichtlichen Zeiten. Vielleicht war es nie anders. Jedenfalls spüren viele Menschen seit der Banken- und Schuldenkrise eine besondere Unsicherheit, die unsere europäischen Nachbarn persönlich noch viel heftiger erreicht hat als uns Deutsche. Woran sollen wir uns in dieser Krise halten?

Orientierung erwarten viele von „der“ Politik. Wer kann sie geben? Seit dem Sommerinterview von Bundespräsident Gauck wird die Frage nach der Rollenverteilung zwischen Bundeskanzlerin und Bundespräsident – allgemeiner: zwischen den entscheidenden Politikerinnen und Politikern und dem Bundespräsidenten – diskutiert. Soll er die Krisenpolitik der Kanzlerin in Sachen Europa „erklären“? Aus mehreren Gründen sollte er das nicht.

Schon weil er jenseits der Parteien steht, also auch nicht im Dienst der Regierung. Umgekehrt sollte er auch nicht in deren Geschäfte eingreifen. Ebenso ist eine direkte Kritik an Regierungsentscheidungen für sein Amt nicht vorgesehen. Darüber hinaus würde „erklären“ eine Lehrerrolle des Bundespräsidenten voraussetzen, die mündigen Bürgern gegenüber nicht angemessen ist. Aber er soll doch qua Amt „Orientierung geben“. Wie geht das angesichts der Tatsache, dass er nicht der Oberlehrer mündiger Bürger ist, sondern im Gegenteil von ihnen (wenn auch durch indirekte Wahl) sein Mandat erhalten hat?

Sein Amt verweist ihn nicht nur auf die genannten Grenzen, sondern bietet vor allem auch ungewöhnliche Chancen. Denn was er sagt, wird öffentlich in hohem Maße beachtet, und er verfügt über schier unendliche Ressourcen, um sich ein differenziertes eigenes Urteil zu bilden. Vor allem kann er seine Einsichten, in den Grenzen der Verfassung, ohne Rücksicht auf bevorstehende Wahlen, öffentlich vertreten. Die täglich handelnde Politik steht hier vor viel schwierigeren Herausforderungen, weil sie in Deutschland angesichts des Föderalismus praktisch unaufhörlich im (Vor-) Wahlkampf steht.

Ehrlichkeit fällt also im Amt des Bundespräsidenten erheblich leichter. Damit verbessert sich seine Möglichkeit, das für die Demokratie so notwendige Vertrauen, das durch wahltaktisches Sprechen unterminiert wird, zu stärken. Er könnte zum Beispiel die Logiken ebenso wie die Voraussetzungen und die langfristigen Implikationen unterschiedlicher politischer Positionen verdeutlichen. Damit würde er, ohne Partei zu ergreifen, das Terrain der öffentlichen Debatte klären helfen, sodass die taktischen und strategischen Absichten öffentlicher Positionen transparenter würden. Das wäre ein hilfreicher Beitrag zur argumentativen Erhellung der anstehenden Entscheidungen. Denn so würden deren Tragweite (die nicht auf Anhieb erkennbar ist), ihre Vielschichtigkeit, ihre oft unvermeidbare Unsicherheit oder Schwierigkeit, bei denen die Politik zuweilen zwischen Pest und Cholera wählen muss, erkennbar.

Dadurch würde den mündigen Bürgern, die nicht den ganzen Tag mit detaillierter politischer Analyse verbringen können, ermöglicht, sich ihrerseits eigenständiger zu orientieren. Gleichzeitig trüge der Bundespräsident zu einem Vertrauenszuwachs zwischen Wählern und Gewählten bei, weil Verzerrungen der Kommunikation eingedämmt würden.

Das erfordert ein ständiges Einarbeiten in komplizierte politische Streitfragen – und nicht zuletzt eine Urteilskraft, die zwischen Sachzusammenhängen und politischen Präferenzen zu unterscheiden weiß. Dazu gehört auch, behauptete Sachzwänge auf ihre impliziten politischen Wertungen zu durchleuchten und politische Präferenzen mit sachlichen Herausforderungen zu konfrontieren. Allerdings braucht es dazu einen gehörigen Mut, denn die Verantwortung und das Gewicht präsidialer Aussagen sind erheblich. Zum Teil ist das alles auch die Aufgabe der Medien, die aber häufig aus verschiedenen Gründen hinter ihren demokratiepolitischen Obliegenheiten zurückbleiben und meist auch nicht über die Ressourcen des Bundespräsidenten verfügen.

Seite 2: Warum nur hinter vorgehaltener Hand zugegeben wird, dass Europa längst eine Haftungs- und Transferunion darstellt

Zum „Kerngeschäft“ des Bundespräsidenten gehört schließlich, auf eigene geistige Rechnung neuralgische Probleme der Gesellschaft oder längerfristige Zukunftsperspektiven zur Debatte zu stellen, vielleicht sogar Lösungen vorzuschlagen. Darauf konzentriert sich in der Regel weniger die handelnde Politik, obwohl Parteien, die in der Verfassung zwischen Staat und Gesellschaft angesiedelt sind, dazu auch einen Beitrag leisten sollten. Die „großen Linien“ eines Zukunftsentwurfs oder auch einer Geschichtsbetrachtung könnten im Übrigen indirekt Alternativen zur aktuellen Politik und damit implizit Kritik an ihr formulieren, aber eben indirekt und ausgewiesen durch die Leistung eines eigenen begründeten Entwurfs. Richard von Weizsäcker war ein Meister darin, solche Alternativen zur Sprache zu bringen.

Nehmen wir zur Illustration dieser Überlegungen die gegenwärtige Schulden- und Bankenkrise in Europa. Hinter vorgehaltener Hand geben alle politisch Eingeweihten zu, dass Europa längst eine Haftungs- und Transferunion darstellt. Schon weil wir alle ökonomisch viel zu sehr voneinander abhängen. Politiker, die sich nicht mehr zur Wahl stellen wollen (wie Gerhard Schröder), sagen das auch öffentlich. Andere bemänteln es oder behaupten das Gegenteil, weil sie um ihre Wiederwahl fürchten. Sie vermuten, dass die Deutschen nicht bereit sind zu haften, weil eine gegebenenfalls zu zahlende Haftungssumme ihre Vorstellungskraft übersteigt.

Vor allem aber wurde den Deutschen seit Beginn der Schuldenkrise eine Geschichte erzählt, der zufolge diese nicht aus der vorangegangenen Bankenkrise, sondern allein oder vornehmlich aus unverantwortlicher Politik hervorgegangen sei, an der sie selbst keinen Anteil trügen; die europäischen Nachbarn, vor allem im Süden, seien an ihrem Unglück selbst schuld und würden im Falle eines solidarischen Entgegenkommens nur mit dem alten unverantwortlichen Schlendrian fortfahren. Im Übrigen könnten die Deutschen ohnehin auf keinen Fall für alle anderen haften.

So fest hat sich diese (deutsche!) Geschichte über Europa etabliert, dass es schier unmöglich scheint, gegenüber den deutschen Wählern öffentlich eine konsistente Position zugunsten des Euro zu vertreten, die die gemeinsame Haftung und auch gegebenenfalls Transferleistungen (sei es bei einem europäischen Bankenverbund, sei es beim Bürgen für Eurobonds, um die Zinsen südlicher Staatsanleihen bezahlbar zu halten) selbstverständlich einschließt – wie immer sie konkret geregelt werden.

Aber dass die logische Alternative zu Haftung und Transfer das Zerbrechen der Währungsunion oder den Ausstieg Griechenlands, Spaniens, Italiens (beziehungsweise umgekehrt auch Deutschlands) aus der gemeinsamen Währung bedeutete, wird den Bürgern langsam bewusst. Die das auch wollen, proklamieren das Ende des Euro nicht ausdrücklich, polemisieren aber seit langem gegen ihn ebenso wie gegen Haftung und Transfer und behaupten, dass Europa den Euro nicht brauche. Eigentlich meinen sie, dass Deutschland Europa nicht (mehr) braucht. Exportieren kann man auch nach Asien.

Seite 3: Das Spiel mit verdeckten Karten zerstört zunehmend das Vertrauen der Bürger

Die Kanzlerin dagegen hat erkannt, dass Deutschland für seine Wirtschaft den Euro und Europa braucht, und dass der Verlust des Euro, nachdem er einmal eingeführt ist, die Europäische Union schwer beschädigen würde. So versucht sie, gemeinsame Haftung und möglichen Transfer „unter der Hand“ (und das Gegenteil behauptend) einzuführen, um die öffentliche Debatte darüber und die klare politische Entscheidung zu vermeiden.

Eine dritte Position, die logisch konsistent und klar zugunsten des Euro und der Europäischen Union einschließlich Haftung und möglichem Transfer argumentierte, bleibt zurzeit aus Angst vor den deutschen Wählern öffentlich auf der Strecke. Sie müsste, um schnell zu wirken, mit einem Vertrauensvorschuss gegenüber den europäischen Nachbarn beginnen und mit einem konzeptionellen Entwurf europäischer Willensbildung und Kontrolle einhergehen.

Dieses Spiel mit verdeckten Karten ist kein Beispiel für politischen Mut oder eine gelungene demokratische Kommunikation, denn sie zerstört das Vertrauen der Bürger immer mehr. Sie spüren, dass etwas falsch läuft im öffentlichen Raum, trauen sich selbst aber kein eigenes Urteil zu und hoffen einfach, dass der Kelch der Haftung an ihnen vorübergeht. Und die Regierenden hoffen, dass sie irgendwie durch die Krise kommen.

Wenn der Bundespräsident in dieser Situation von der Bundeskanzlerin fordert, ihr Verhalten ganz genau zu erklären, hat er als „Bürger“ recht, weil die Bürgerinnen und Bürger auf diese Weise Genauigkeit und Glaubwürdigkeit von handelnden Politikern verlangen können. Aber er bleibt damit hinter den Aufgaben und Chancen seines Amtes zurück. Wenn er seinerseits „mehr Europa“ für Deutschland und nicht „mehr Deutschland“ in Europa will, hat er großartige Möglichkeiten, das Argumentationsknäuel in Sachen Banken- und Schuldenkrise, in Sachen Haftung, Solidarität und wirklicher Zahlung zu entwirren. Er könnte mit seiner Amtsautorität klarstellen, dass die Deutschen bisher an ihre verschuldeten Nachbarn nichts gezahlt, dagegen einiges an Zinsen und durch unrealistisch billige Staatsanleihen gewonnen haben. Er könnte Zusammenhänge der gemeinsamen europäischen Verantwortung für die Krise, überhaupt die transnationale Verflechtung und damit auch die Notwendigkeit eines transnationalen Einstehens der ökonomischen Akteure erläutern. Deutsche Banker haben nicht nur in den USA am aufgeblähten Immobiliensektor gut verdient. Leichtsinnige Schuldner haben zuvor leichtsinnige Gläubiger gefunden; vorteilsgierige Gläubiger haben zuweilen gezielt auf den Leichtsinn ihrer Schuldner hingearbeitet. Und solange mit den Schulden der Nachbarn deutsche Exporte bezahlt wurden, haben diese Schulden uns auch nicht besonders gestört.

Seite 4: Die Chancen für den Bundespräsident

Der Bundespräsident könnte überdies auch Positionen unserer europäischen Nachbarn fair erläutern. Damit würde er zu einer Kultur des ehrlichen Argumentierens und des „Gemeinsinns“ beitragen, die Kant in den drei Maximen: „Selbst denken! Jederzeit mit sich einstimmig denken! Jederzeit an der Stelle des anderen denken!“ charakterisiert hat. Wenn wir in widersprüchlichen Positionen verharren und uns darüber hinaus nicht an die Stelle der anderen setzen, werden wir weder für Europa noch für unser globales Zusammenleben eine Zukunft in Demokratie und Wohlstand entwickeln. „Mehr Europa“ verlangt eine andere Geschichte über Europa.

So hätte der Bundespräsident die Chance, mit reicher Expertise versehen eine „eigene“ andere Geschichte über Vergangenheit, aktuelle Krise und die Zukunft Europas sowie die Rolle Deutschlands darin zu erzählen als die öffentlich gängige, die stark durch Wahltaktik bestimmt ist. Es könnte eine ausgewogenere sein, die es den Deutschen plausibler machen würde, nicht nur ihre kurzfristigen nationalen Interessen zu sehen, was jeden gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit zugleich Demokratie und wirtschaftlichen Wohlstand zerstört, auch in Deutschland selbst. Er könnte daran erinnern, dass der Wille zur vertrauensvollen und solidarischen Zusammenarbeit am Anfang der europäischen Einigung stand und allen Europäern unerwarteten Wohlstand und Frieden in Freiheit gebracht hat.

Er könnte Gründe dafür anführen, dass der entschiedene Wille zum solidarischen Zusammenstehen in Europa, gerade von deutscher Seite dokumentiert, die Märkte für Europa zurückgewinnen würde, dass er die Einrichtung transparenter Kontrollen erleichtert und die besten Aussichten bietet, den Ernstfall eines Schuldenausgleichs oder des Eurozusammenbruchs zu vermeiden. Eine Geschichte über die Eurokrise, die Verantwortung, Leichtfertigkeit und Vorteile in der Vergangenheit realistischer zuordnete, würde auch eine europäische Haftungs- und Transferunion für die Zukunft plausibler machen.

Damit würde er die Kanzlerin nicht nur kritisieren, sondern einen eigenen und hoffentlich überzeugenden Vorschlag zur Debatte stellen. Das wäre ein wunderbarer Beitrag zu einer öffentlichen Kommunikation, in der ein fairer Austausch von Argumenten hilft, gemeinsam Orientierung für den bestmöglichen Weg Deutschlands nach „mehr Europa“ zu finden und damit Demokratie wie Vertrauen zu stärken. Welche Chancen für den Bundespräsidenten!

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