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Ja zur Wahlpflicht - Nichtwähler sind narzisstische Selbstüberschätzer

Das Wahlrecht wird in Deutschland zunehmend von der Mittel- und Oberschicht wahrgenommen. Mit einer Wahlpflicht käme man dem Ziel näher, auch die Interessen der Unterschicht abzubilden. Intellektuelle Nichtwähler, die mit ihrem Verhalten protestieren wollen, überschätzen sich

Autoreninfo

Prof. Dr. Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin und Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Zu den Signaturen des politischen Diskurses in Deutschland gehört schon lange die Parteienverachtung. Verbrieft ist sie bei Kaiser Wilhelm II., erheblichen Schaden hat sie in der Weimarer Republik angerichtet. Oswald Spengler, Ernst Jünger, Carl Schmitt und ihre vordemokratischen Mitstreiter der „konservativen Revolution“ machten nie einen Hehl daraus, dass Parteien in das Elend der plebejischen Interessenvertretung parlamentarischer Demokratien geführt haben. Sie monopolisierten den Zugang zum Parlament und machten es zu einer „Schwatzbude“, in der geschwätzt, aber nicht entschieden wird. Exekutive Dezision, nicht demokratische Deliberation kennzeichne das wahre Politische.

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Der Gestus der Wahl- und Parteienverachtung ist nicht auf die Weimarer Republik und ihr demokratieverachtendes Denken rechtskonservativer Intellektueller beschränkt. Er hat sich 80 Jahre später in Deutschland in das linksliberale Lager hineingeschoben. Nicht, dass von Stahlgewittern und dem Untergang des Abendlandes noch die Rede wäre, aber mit herablassender Verachtung rümpfen Intellektuelle öffentlichkeitswirksam die Nase über die Niederungen des Parteien- und Wahldiskurses. Die eigentlichen Weltprobleme kämen dort nicht zur Sprache, findet Harald Welzer. Die Wahlprogramme seien zu einem diffusen Amalgam der Belanglosigkeiten verdünnt worden. Mit dem überlegenen Gestus der Einsicht in das „eigentlich Politische“ wird zur Wahlenthaltung aufgerufen. Stets auf der Jagd nach einer schicken Paradoxie: das Unpolitische wird zum Politischen, die Wahlenthaltung zum rebellischen Akt der wirklichen Demokraten. Welch Hybris, welch narzisstische Selbstüberschätzung.

Die politischen Fakten gehen im intellektuellen Populismus unter

Das unpolitische Raunen mag unmittelbar wenig politische Folgen haben. Es bleibt aber nicht innerhalb der eng eingezäunten Sphäre des wahlnumerisch unbedeutenden Intellektualismus. Vielmehr liefert es dem sich ausbreitenden „lethargokratischen“ Politikphlegma (Sloterdijk) der unteren Schichten und der jungen Generation legitimierenden Flankenschutz.

Dem modischen Diskurs der Welzers und Sloterdijks zu eigen ist die großzügige Vernachlässigung der Fakten. Zunächst: Wer in den Wahlprogrammen von FDP und der Linken oder den Grünen keine Unterschiede in der Steuerpolitik zu erkennen vermag, ist politisch ignorant. Wer den Unterschied in der Familienpolitik der CDU/CSU zur SPD und den Grünen nicht zur Kenntnis nimmt, kann die Wahlprogramme, in welcher Kurzform auch immer, nicht zur Kenntnis genommen haben. Wer die europapolitische Differenz zwischen AfD und SPD nicht sieht, stellt sich außerhalb jeder vernünftigen Debatte. Wer den unterschiedlichen sozialpolitischen Standpunkt zwischen der Linken und der FDP gering schätzt, dem scheint es zu gut zu gehen. Programme? Ach was! Von Werbefachleuten und Demoskopen ausgeheckt, hätten sie schlicht keine Relevanz für die reale Politik.

Wahr ist, dass es in der Tat den spektakulären Bruch von Wahlversprechen immer wieder gegeben hat. In Deutschland, den USA und anderswo. Das ist nicht zu beschönigen. Wahlen bieten allerdings gerade die Möglichkeit, falsche Wahlversprechen zu bestrafen. Tatsache ist übrigens auch, dass ein systematischer Abgleich von Wahlprogrammen und realen politischen Entscheidungen, untersucht über viele Wahlperioden und Länder hinweg, eine viel höhere Übereinstimmung zwischen beiden Sphären nachweist, als dies der intellektuelle Populismus wahrnehmen will. Aber das sind nur die Niederungen der Empirie – Pech für die Fakten.

Fakt ist, dass Deutschland in Westeuropa von 1990-2012 eine überdurchschnittliche Wahlbeteiligung aufwies. Mit 76,7 Prozent lag sie leicht über dem hohen Gesamtdurchschnitt in Westeuropa. In den alten Demokratien der USA oder der Schweiz blieb sie bei 43,7 bzw. 44,8 Prozent. Dies ist problematisch, löst aber gerade nicht die Debatten aus, die die öffentlichen Wahlverweigerer auslösen möchten. Überdies ist die Wahlenthaltung kein intellektuelles Phänomen, sie ist vielmehr zum politischen Signum der bildungsfernen Schichten geworden. Diese steigen zunehmend aus der politischen Beteiligung aus. Deutschland ist auf dem Weg in die „Zwei-Drittel-Demokratie“. Die soziale Apartheit bei politischen Wahlen in den USA und in der Schweiz mit ihren durchschnittlichen Wahlbeteiligungen von 50 Prozent oder weniger ist das Menetekel. Der Aufruf zur Wahlenthaltung ist nichts als ein Brandbeschleuniger.

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An ein weiteres Faktum darf erinnert werden. Der Großteil der Wähler befindet sich gerade in konsolidierten Demokratien in der Mitte und ist glücklicherweise nicht wie in der Spätzeit der Weimarer Republik auf die extremen Flügel ausgewichen. Kann man es den beiden Großparteien dann übelnehmen, dass sie um die überwiegende Mehrheit der Wähler in ihrer Demokratie kämpfen? Ist es nicht geradezu ein demokratischer Imperativ, die Interessen einer möglichst großen Zahl der Wähler möglichst gut zu repräsentieren? Auf der anderen Seite müssen demokratische Wahlen die deutlich wahrnehmbare Möglichkeit eröffnen, zwischen Alternativen wählen zu können. Die Tatsache, dass in Deutschland zwei Volksparteien innerhalb eines Mehrparteiensystems existieren, sorgt dafür, dass diese in die Mitte des Parteiensystems drängen, wo die meisten Wähler zu finden sind. Die Konsequenz ist eine Verwässerung der programmatischen Profile. Das ist das Wesen von Volksparteien.

Was wäre eine Wahlpflicht gegenüber Steuerpflicht oder Wehrdienst?

Das mag man beklagen. Ob aber eine weitere Erosion der Volksparteien für unsere Demokratie und die politische Integrationsfähigkeit gegenüber einer zunehmend heterogener werdenden Gesellschaft wünschenswert ist, mag man mit guten Gründen bezweifeln. Das Mittlere, die mittleren Schichten, ja die für Intellektuelle schwer zu verdauende Mittelmäßigkeit, gehören zu den notwendigen Bestandsgarantien funktionierender Demokratien. Darauf empört oder enttäuscht mit der öffentlich gemachten Wahlenthaltung zu reagieren, zeigt die intellektuelle Ungeduld mit der Demokratie, wenn nicht eine gewisse Unwissenheit über elementare Funktionsweisen der Demokratie.

Gegenüber dem großartigen Gestus der Wahlenthaltung aus einem weltgeistlichem Durchblick heraus ließen sich durchaus demokratietheoretische Überlegungen einer Wahlpflicht diskutieren, wenn nicht gar begründen. Bürgerrechte könnten ja auch mit Bürgerpflichten korrespondieren. Im Vergleich zur Steuerpflicht wäre die Wahlpflicht sicherlich eine wenig beträchtliche Zumutung. Was wäre zu gewinnen, was zu verlieren, wenn wir eine Wahlpflicht nach dem Muster Australiens, Belgiens und anderer Demokratien einführen würden? Der hauptsächliche Einwand aus der libertären Tradition beklagt einen illegitimen Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte.

Der Eingriff bedeutet etwa in Deutschland einen „Freiheitsentzug“ von fünfzehn Minuten. Solange dürfte der Gang um die Ecke ins Wahllokal dauern. Wieviel unendlich größer sind da 18 oder 15 Monate Wehr- oder Zivildienst gewesen, die die bundesdeutsche Demokratie jahrzehntelang von ihren männlichen Bürgern verlangt hat. Sie haben das Gemeinwesen eher gestärkt als geschwächt. Um wieviel tiefer greift der Staat in die Eigentumsrechte ein, wenn er zur Erfüllung notwendiger Gemeinschaftsaufgaben Steuern erhebt? Im Übrigen könnten die 15 Minuten Freiheitsentzug auch vollends ihren angeblich nötigenden Charakter verlieren, wenn auf dem Stimmzettel die Extra-Kategorie eingeführt würde „keine von allen Parteien“. Erst dann ließe sich der Protest gegen die Parteien wirklich identifizieren und der Stimmzettel würde zum Denkzettel.

Was aber wäre zu gewinnen mit der Wahlpflicht? Sie wäre sicherlich nicht die Lösung aller Malaisen der Partizipation und Repräsentation, die unsere modernen Demokratien plagen. Sie würde nicht die Herausforderung der Globalisierung mindern. Aber sie könnte den anschwellenden Exodus der unteren Schichten aus unserem demokratischen Gemeinwesen stoppen. Sie könnte auch Politikverdrossene anregen, über Politik und Parteien nachzudenken, deren Entscheidungen durchaus in ihre Lebenschancen eingreifen. Protestwählen können sie ja immer noch. Längerfristig könnte die Wahlpflicht verhindern, dass die Mittel- und Oberschichten alleine darüber befinden, wer uns regiert.

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Mittelschichten sind in der demokratischen Politik erheblich überrepräsentiert: Sie gehen überproportional zur Wahl, bevölkern Parteien, Parlamente und Regierungen, gehen zu Referenden, als Wutbürger auf die Straße und wenn sie jung sind, zu NGOs wie Amnesty International, Transparency, Menschenrechts- und Umweltorganisationen. Das alleine ist nicht zu kritisieren. Dominieren die mittleren Schichten aber zunehmend die Politik, während die unteren Schichten wegbrechen, sollten wir nicht mehr von der Demokratie als Herrschaft „des“ Volkes, sondern von der Herrschaft einer Schrumpfversion des Volkes sprechen, also einer Mittelschichtsdemokratie oder einer Zwei-Drittel- oder 50-Prozent-Demokratie sprechen.

Die Probleme der Demokratie sind heute zu gravierend, als dass man sie der stetigen Wiederkehr des Gleichen überlassen könnte. „Geistig öde, ethisch verlogen, ästhetisch roh: das ist die Signatur, die unser politisches Leben offensichtlich von Tag zu Tag mehr annimmt“ hat Werner Sombart, ganz offensichtlich die Stimme Nietzsches im Genick, schon 1907 im Berliner Morgen geschrieben. Welzer und Sloterdijk sind gut 100 Jahre später alles andere als originell. Friedrich Naumann hat Sombarts unpolitisches Pathos der Distanz zur Politik als einer Sphäre des Trivialen zu Recht kritisiert. Ein Jahrhundert später reibt man sich verwundert die Augen, dass der urdeutsche Gestus der Politikverachtung seine Kleider immer noch nicht gewechselt hat.

 

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