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Illustrationen Susann Stefanizen

Von wegen Volkspartei - Warum das Zeitalter der Grünen vorbei ist

Seit der Bundestagswahl wirken die Grünen kraftlos. Veggie-Day-Desaster? Personalprobleme? Nein, die Krise reicht tief. Die Partei hat sich zu Tode gesiegt. Und das politische Koordinatensystem hat sich so verändert, dass sie künftig allenfalls eine Randpartei sein werden

Autoreninfo

Paul Nolte lehrt Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Im März erscheint „Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart“.

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Mehr als drei Jahrzehnte gehören die Grünen zur politischen Grundausstattung der Bundesrepublik, aber in den vergangenen drei Jahren haben sich ihre Aussichten so einschneidend verändert wie selten zuvor – und der Pfeil zeigt nach unten.

Nach Fukushima schien die Partei zu ganz neuen Horizonten aufzubrechen. Bei der baden-württembergischen Landtagswahl erreichten die Grünen 2011 mehr als 24 Prozent und ließen die SPD hinter sich, aus deren Rippe sie, jedenfalls was die Wähler angeht, einst entstanden waren. Endlich der Ausbruch aus dem 10-Prozent-Türmchen; ein grüner Ministerpräsident; beinahe nichts schien mehr unmöglich; sogar über einen grünen Kanzlerkandidaten wurde debattiert. Spätestens am Abend der Bundestagswahl im September 2013 hatten Ernüchterung und Enttäuschung Platz gegriffen. Gut 2 Prozentpunkte Verlust; Jürgen Trittin und Claudia Roth mochten nicht mehr weitermachen. Tief verunsichert ließen die Grünen sogar die Chance einer Regierungsbeteiligung im Bund fahren. Seither stolpern sie durch die politische Landschaft.

Zu Tode gesiegt
 

Nein, ein Veggie-Day-Desaster vermag die neue Traurigkeit der Grünen ebenso wenig zu erklären wie Personalprobleme im generationellen Übergang. Die Krise reicht tiefer. Ralf Dahrendorf verkündete 1983 das „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“. Inzwischen kündigt sich das Ende des grünen Zeitalters an. Und wie in der Diagnose des liberalen Soziologen muss das nicht das Verschwinden der Partei bedeuten, wohl aber das Ende ihrer kulturellen Hegemonie.

Die Grünen haben sich zu Tode gesiegt. Wesentliche Forderungen sind erfüllt; der Mainstream von Gesellschaft und Kultur der Bundesrepublik ist kräftig durch den grünen Farbbottich geschwenkt worden. Dagegen wehrt sich bloß noch, in einem kulturkämpferisch letzten Gefecht, die AfD. Aber zugleich hat sich – und auch das meinte die Dahrendorf-These – das politische Koordinatensystem so verschoben, dass grünes Weltbild und grüne Antworten häufig am Rande liegen bleiben oder sich von den Antworten der anderen schlicht nicht mehr unterscheiden, auch weil viele von der Konkurrenz aufgenommen wurden.

Die Sozialdemokratie traf es als eine über hundert Jahre alte, gesamteuropäische Bewegung. Die Grünen dagegen sind nicht nur parteipolitisch, sondern auch kulturell weithin ein deutscher Sonderweg geblieben. So könnte es sein, dass die deutsche Ökopartei schlicht in die Normalität zurücktritt, in den europäischen Durchschnitt einer Rand- oder Splitterpartei.

Vom Dosenpfand bis zum Atomausstieg, von der Anerkennung gesellschaftlicher Vielfalt in Kulturen und Lebensformen bis zum Mantra der Nachhaltigkeit: Das grüne Programm ist weit über die rot-grüne Koalition von Schröder und Fischer hinaus zur normaldeutschen Selbstverständlichkeit geworden. Mission fulfilled. Nur schwer ließe sich argumentieren, die Deutschen hätten die Grünen besonders nötig, weil sie ökologisch hinten dran sind. Im Gegenteil, auch unter CDU-geführten Regierungen steht Deutschland in Naturschutz, Klimapolitik, Energiewende an der Spitze. Die Mahnungen, wir täten aber bei weitem noch nicht genug, wirken etwas lahm, wenn bei unsern Nachbarn munter Atomstrom produziert wird – oder ist das vielleicht doch besonders klimafreundlich? – und die „Energiewende“ der USA in einer Fracking-Revolution besteht, die ein zweites fossiles Zeitalter im 21. Jahrhundert eröffnet.

Sicher, die Deutschen könnten ihre globale Öko-Führerschaft noch ausbauen, der Welt mal vormachen, wo es langgeht. Na ja. Dieser Weg lässt sich, was die Grünen betrifft, aber ohnehin nur mit einer kleinen Kernklientel gehen. Die Mehrheit will lieber widersprüchlich leben, gerade in den akademischen Mittelschichten. Das nächste Auto ist ein Hybrid, aber mal schnell für drei Tage zu dieser Konferenz in Chicago fliegen – das kann ich mir doch nicht entgehen lassen! Ebenso wenig wie die Currywurst am Donnerstag.

Schwere Verluste an die Linke
 

Mit der Kernklientel freilich ist es so eine Sache. Denn im eigenen Basismilieu, gerade bei den Jüngeren, haben die Grünen in den vergangenen 15 Jahren schwere Verluste an die Linke hinnehmen müssen. Radikalpazifismus und Antikapitalismus, ein Anti-Establishment-Affekt, wenn nicht sogar jenes mythische Anti-System-Denken, das von der Überwindung einer repressiven Staats- und Wirtschaftsordnung träumt: Bei den Grünen findet das, personifiziert in der Läuterung Joschka Fischers vom Sponti zum Staatsmann, vom Turnschuh zum Dreiteiler, schon längst keine Heimat mehr. Was immer langfristig aus der Linkspartei wird – das kann nicht mehr zurückgeholt werden, zumal im großstädtischen Alternativ- und Protestmilieu. Denn die Ströbeles, die das widerspruchsvoll integrieren, wachsen nicht nach.

Zugleich ist die ökologische Agenda der Grünen in den Hintergrund getreten. Nicht Single-issue-Partei zu bleiben: Das war lange Zeit eine Voraussetzung ihres Erfolgs. Also sind sie zu einer Menschenrechtspartei geworden, zu einer Verbraucherpartei – ein ganz wesentlicher, oft unterschätzter Aspekt ihres Erfolgs in den Mittelschichten! – und zu einer Partei des Nachhaltigkeits-Mainstreamings, nicht zuletzt in antikeynesianischer Steuer- und Finanzpolitik. Ist das noch links? „Nicht links, nicht rechts, sondern vorn“ wollten die Grünen schon in ihrer bewegten Gründungszeit sein, aber die Verortung in der Mitte trifft es, wenn überhaupt, inzwischen besser, auch wenn sich die Identität der Partei dagegen tief und reflexhaft sträubt.

In der Mitte saßen die Grünen im Bundestag schon seit 1983. Seit dem vorläufigen Verschwinden der FDP stellt sich die Frage neu, ob die Grünen die neue liberale Partei sein könnten. Ein grüner „Freiheitskongress“ im September sollte diesen Platz vermessen. Aber wie passt das zu der wieder gesteigerten emotionalen Abscheu, mit der ein Großteil der Parteiführung auf den Gedanken an eine Bundeskoalition mit der liberalisierten Merkel-Union reagiert?

Denn irgendwo müssen die Optionen ja liegen. Die Bilanz der Grünen aus drei Jahrzehnten mag noch darüber hinwegtäuschen, dass inzwischen eine Sackgasse droht. Die Beteiligung an Landesregierungen ist Routine geworden; hier droht das Verhältnis zur SPD eher allzu symbiotisch zu werden: Welcher Abstand liegt zwischen Dachlatten-Börner und Turnschuh-Fischer in Hessen 1985 – und dem nordrhein-westfälischen Kuscheln von Kraft und Löhrmann heute!

Was ist für die Grünen besser? Das gegenwärtige Torkeln kommt jedenfalls auch aus der noch nicht verarbeiteten Einsicht, dass eine zweite rot-grüne Koalition im Bund sich nicht naturgesetzlich wieder einstellen wird, weil die Menschen die neoliberale Merkel-Politik irgendwann satthätten und das Lager des Fortschritts, irgendwie im Sinne des Hegel’schen Weltgeists, doch wieder obsiegen muss. Die Grünen sollten gewarnt sein: Auch die sozialliberale Koalition gab es nur ein einziges Mal. Und der Traum von einer rot-rot-grünen Regierung ist in den letzten Monaten für alle Klarsichtigen bei SPD und Grünen zerplatzt, jedenfalls solange die Linke außenpolitisch handlungsunfähig ist und sich mehrheitlich der simplen Einsicht verweigert, dass die DDR eine Diktatur war. Nicht nur die Anhänger der Grünen haben inzwischen verdrängt, dass es vor einem Jahr eine Alternative zur ungeliebten Elefantenkoalition mit Minimalopposition gegeben hätte. Mit wachsendem Abstand wird noch deutlicher werden, welche historische Chance die Grünen damals fahrlässig verspielt haben.

Im Bürgertum angekommen
 

Die Grünen sind aus den Bewegungen gewachsen und im Bürgertum längst angekommen. Den Spagat zwischen diesen beiden Polen haben sie lange und eindrucksvoll gehalten: Chapeau, wie sie seit den achtziger Jahren zu der Partei der neuen, moralisch-sozialen Mittelklasse in der Bundesrepublik geworden sind. Auch das spricht dafür, dass die einstige Milieupartei zu einer Volkspartei geworden ist.

Aber die sozialen Distanzen lassen sich nicht beliebig überbrücken. Berlin-Zehlendorf und Friedrichshain, Bremen-Oberneuland und -Viertel, die SUV-Mama mit Ökogewissen und die linke Studentin mit autonomen Sympathien: Das übersteigt noch die Spannweite der beiden wesentlich größeren Volksparteien. Es kann auf Dauer nicht gut gehen.

Ähnliches gilt für die vertikale Ebene der Grünen. Dass sich die Gesinnung der Mitglieder, des aktiven Kerns von derjenigen der Wähler unterscheidet und in der Regel dezidierter und „strammer“ ist, findet man auch bei SPD und CDU. Aber nirgendwo sind die Diskrepanzen zwischen den Ebenen so groß wie bei den Grünen und ihrem charakteristischen Dreieck aus pragmatischer Führung, bewegter Basis und bürgerlicher Wählerschaft.

Fast überall in der westlichen Welt sind Parteien wie die Grünen entstanden, aber fast nur in Deutschland sind sie groß geworden. Nach mehr als drei Jahrzehnten ist klar: Das ist nicht bloß zeitliche Verzögerung, sondern bleibt ein Strukturunterschied. Ausnahmen bilden der deutsche Sprach- und Kulturraum, vor allem Österreich, sowie Frankreich und Schweden. Dabei sind die deutschen Grünen ohne den Grenzgänger Daniel Cohn-Bendit viel leichter vorstellbar als die französischen.

Was ist der gemeinsame Nenner Frankreichs, Schwedens und Deutschlands? Gewiss keine große Ähnlichkeit in der ökologischen Kultur, auch nicht im Profil der linken und alternativen Bewegungen. Eher ist es das Ideal eines fürsorglichen Staates, die Präferenz für einen sozialpolitischen Etatismus, eine Neigung zum rousseauistischen Demokratieideal: Es muss da doch dieses moralisch überwölbende Gemeinwohl geben, das den Willen und die Vorstellungskraft des Einzelnen übersteigt! So gesehen ist es kein Zufall, dass die Grünen nicht nur im übrigen Europa weithin, man kann es nicht anders sagen, eine Splitterpartei geblieben sind, sondern vor allem in den neuen Demokratien Ostmitteleuropas keine Wurzeln geschlagen haben. Die Erben von Opposition und Bürgerrechtsbewegung haben sich dort parteipolitisch anders formiert – und sich, wie in Polen, nicht als Marginalisierte verstanden, sondern als zentrale Akteure von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft.

Umgekehrt zeigt das Beispiel der USA, dass ökologische und andere „grüne“ Ideen wie Menschenrechte und Konsumentenschutz parteipolitisch auch anders andocken können. In Amerika stehen sie unter dem weiten Schirm der Demokraten. Sie finden sich dort gewiss am linken Flügel und häufig in Dissidenz und zuletzt immer unzufriedener mit Obama. Aber auch das funktioniert, obwohl (oder gerade weil) die USA die Alternativ- und Ökobewegungen überhaupt erst hervorgebracht haben, die global ohne die Bürgerrechtsbewegung ebenso wenig denkbar sind wie ohne die frühe Konsumentenorientierung der amerikanischen Gesellschaft. (Ja, die Chlorhühnchen sind nicht alles!) Also war die Abspaltung der Anhängerschaft von der SPD doch nicht so schicksalhaft, wie die Sozialdemokraten seit langem selber zu glauben scheinen?

Deutscher Sonderweg
 

Die Grünen markieren einen deutschen Sonderweg – nicht nur des Parteiensystems im engeren Sinne, sondern einer tiefen Prägung politischer Kultur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Was macht diesen Weg aus? Jenseits aller Themen und Flügelkämpfe stehen die Grünen für ein gesinnungsethisches Politikprinzip, das zugleich Ausdruck eines säkularisierten Protestantismus ist: Sie sind groß geworden als Vertreter moralischer Politik, einer Politik des schlechten Gewissens. Wie wohl nirgendwo sonst haben sie – und das ist eine beeindruckende Leistung – das fundamentale, kulturelle Koordinatensystem von Politik verschoben: von einer Politik der Interessen zu einer Politik der Anwaltschaft für Dritte, für die bedrohte Natur, für die noch nicht geborenen Generationen. In Großbritannien, in Italien, auch in Frankreich ist das unvorstellbar, weil Politik dort viel stärker interessengetrieben bleibt, in sozialen Lagen und Klassenkonflikten wurzelt. Unter den größeren, bevölkerungsreichen Ländern verfügen nur die USA über eine „moralische Mittelklasse“ von ähnlicher Durchschlagskraft wie Deutschland. Und nur in Deutschland hat sie ihre Heimat in einer Partei, den Grünen, gefunden.

Dieser deutsche Sonderweg wurzelt in den Erfahrungen der siebziger Jahre. Die Ölkrise, die vom Club of Rome verkündeten „Grenzen des Wachstums“, die sonntäglichen Fahrverbote: Nirgendwo hat das so tiefe Spuren hinterlassen wie in der politischen Kultur der Bundesrepublik. Vom „Ende der Zuversicht“ sprechen die Historiker inzwischen beim Blick auf diese Zäsur. Fortschrittsbewusstsein und Machbarkeitsideen erhielten damals in der ganzen westlichen Welt einen Dämpfer, doch zu einem regelrechten Kulturbruch kam es nur in Westdeutschland. Dieser Bruch nährte die Grünen.

Aber woher kam diese besondere Kehrtwende, in der sich Fortschrittsskepsis mit einem neuen Ethos der Behutsamkeit und treuhänderischen Verantwortung – „wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt“ – verband? Verstehbar ist das – und sind deshalb auch die Grünen in Deutschland – nur als eine Langzeitreaktion auf den Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus war radikalisierte Sachlichkeit bis in den Judenmord hinein, er war radikale Ausblendung von Moral zugunsten von „Sekundärtugenden“, er war die Übersteigerung einer Idee von Moderne, die – darin dem Stalinismus ähnlich – alles realisieren zu können glaubte, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Grünen formulierten für zwei Generationen, von den Achtundsechzigern bis zu den Friedens- und Umweltbewegten der achtziger Jahre, einen Gegenentwurf zu alldem. Nicht zufällig decken sich Aufstieg und Erfolg der Grünen fast exakt mit jener Zeit, in der die Deutschen ein neues Verhältnis zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust fanden. 1979 traten die Grünen bei den ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament erstmals in Erscheinung; 1979 ergriff und verstörte die amerikanische TV-Serie „Holocaust“. 2005 wurde das Denkmal für die ermordeten Juden Europas eröffnet; gleichzeitig ging die rot-grüne Koalition zu Ende.

Vieles ist nicht zu Ende, aber in Normalität überführt. Das macht es den Grünen bereits schwer, Führungspersonal mit ausstrahlungsstarker Biografie zu finden. Sie waren im Westen, mit Kelly, Fischer, Trittin, Roth, in der Achtundsechziger-Bewegung verankert; im Osten, mit Bündnis 90, in der Bürgerrechtsbewegung der DDR. Danach wird es schwierig.

Deutsche Sonderwahrnehmungen bestehen fort, die Empfänglichkeit für moralische Politik und für apokalyptische Ängste. Nur bei uns vermag die Erinnerung an Fukushima den Tod von 16 000 Menschen in den Tsunamiwellen völlig in den Hintergrund zu schieben. Aber solche Haltungen haben sich längst diffus verallgemeinert und von den Grünen abgelöst. Noch bestehen manche ihrer Bastionen fort, etwa der Rückhalt in den akademisch-urbanen Mittelschichten, besonders im Universitätsmilieu. Aber auch hier bröckelt es. Die Grünen haben, auf paradoxe Weise, die kulturelle Hegemonie in Deutschland zugleich gewonnen und wieder verloren. Wir schreiben das Ende des grünen Zeitalters.

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