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(picture alliance) Bald wieder ist es soweit, der Pfingstsonntag der Demokratie: Umbauarbeiten im Plenarsaal des Bundestages für die Bundesversammlung

Bundesversammlung vor Präsidentenkür - Von Postkerlen und Partygängern

Noch wird im Plenarsaal des Bundestags geschraubt und gehämmert, doch schon am Sonntag wird hier die Bundesversammlung Gauck zum Präsidenten küren. Die Wahl war stets eine der größten Sausen der Demokratie. Die Fraktionschefs zitterten – und mancher Prominente stürzte ab

Es sagt sich leicht: „Die Bundesversammlung tritt zusammen und wählt den Bundespräsidenten.“ Am kommenden Sonntag wird das wieder so sein. Doch tatsächlich ist die Bundesversammlung Deutschlands merkwürdigstes Gremium. Ein Parlament für wenige Stunden und eine berauschende Nacht für alle Wahlmänner und Wahlfrauen in der Hauptstadt. Es tagt in seiner Zusammensetzung nur ein einziges Mal. Formal ging es bisher immer um die Präsidentenwahl. Doch der wahre Höhepunkt war stets der Vorabend. Die Fraktionschefs zitterten – und mancher Prominente stürzte ab.

Alle fünf Jahre wieder sollte es so sein: Die Wahl des Bundespräsidenten war jedes Mal eine Art Pfingstsonntag der Demokratie – inklusive Kirche und Kirmes. Allerdings lief dieser höchste Wahl-Feiertag bisher meistens in umgekehrter Reihenfolge ab: Erst Kirmes, und erst danach Kirche. Genau wegen dieser Reihenfolge hätte die Geschichte der Bundesrepublik anders verlaufen können. [gallery:Joachim Gauck, der Bürgerpräsident]

So herrschte am sonnenklaren Morgen des 5. März 1969 in der SPD Alarm. Beim Zählappell am Wahltag fehlte Kurt Gscheidle. Der stellvertretende Vorsitzende der Postgewerkschaft, Wahlmann der SPD, war zur Bundespräsidentenwahl aus Bonn nach Berlin gekommen. Bei der innerfraktionellen Probeabstimmung aber war er einfach nicht zu finden.

Dabei wusste doch jeder der Genossen, wie knapp es aussah für den Präsidentschaftskandidaten Gustav Heinemann. Der brauchte jede Stimme seiner Partei, um der erste sozialdemokratische Präsident der Bundesrepublik zu werden. Sechs Mitglieder der SPD-Fraktion in der Bundesversammlung waren bereits als „transportunfähig erkrankt“ gemeldet. Und nun war dieser Postkerl weg!

Der Schwabe Gscheidle war in der Nacht zuvor ins Krankenhaus gebracht worden – nachdem man ihn im Rotlichtkiez am Stuttgarter Platz blutend und bewusstlos aufgefunden habe, wie es hieß. Fünfhundert Mark Bargeld hätten ihm gefehlt. „Wichtige Körperteile sind nicht betroffen“, urteilte der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner mitleidlos und ließ den späteren Bundespostminister im Rollstuhl und mit Kopfverband in die Bundesversammlung schieben – wahlfähig.

Seite 2: Die Scharen aus der Provinz machten in Berlin gern eine Sause

Die „Geschichte Gscheidle“ ging in die Bundesannalen ein und machte vor jeder Präsidentenwahl die Runde. Dabei ist so etwas kein Einzelfall. Kurz vor der Abstimmung ließ damals Hans-Dietrich Genscher, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, alle Hotelzimmer seiner liberalen Delegierten im „Europäischen Hof“ öffnen. Genscher fand seinen vermissten Wahlmann gerade noch rechtzeitig - fest schlafend in der Badewanne. Gustav Heinemann wurde mit knapper Mehrheit im dritten Wahlgang gewählt. Doch es hätte leicht anders kommen können.

Nur zur Hälfte besteht die Bundesversammlung aus den gut 600 Mitgliedern des Bundestags. Die andere Hälfte wird von den Länderparlamenten bestimmt – kommt also aus der Ferne nach Berlin für diesen einen Wahltag. Bayern entsendet mit weit über 100 die meisten Delegierten, Bremen nur eine Handvoll. Etliche von diesen Delegierten waren stets Helfer, Gönner, Freunde der Parteien oder verdiente Mitglieder, die aber noch nie in irgendeinem Parlament saßen. Nun dürfen sie für einen Tag Abgeordnete sein mit allen Rechten: Immunität, Aufwandsentschädigung, Fahrservice, freier Zugang zum Hohen Haus und geheime Wahl.

Sie können mit der Kanzlerin, Ministern und anderen Prominenten am Biertisch stehen. Sie treffen jede Menge weiterer Neulinge in diesem einmaligen Nationalkonvent namens Bundesversammlung. Manch einem stieg die Ehre schon zu Kopf. Die Scharen aus der Provinz nutzten ihren Ausflug in die Hauptstadt bisweilen gern, um eine Sause zu machen.

Das quälte vor allem die Parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagsfraktionen, denn sie sind verantwortlich für die möglichen Stimmen für ihren jeweiligen Kandidaten, sie müssen ihre Schäfchen zählen und zusammenhalten. Aber von der Hälfte aller Wahlleute kennen sie kaum das Gesicht und schon gar nicht deren Zuverlässigkeit.

Seite 3: „The Times“ war enttäuscht von fehlender Noblesse und Vornehmheit

So klagen sie bei der Union noch heute darüber, dass 2004 ihre Wahlfrau Gloria von Thurn und Taxis nicht, wie gedacht und abgemacht, für den von Union und FDP aufgestellten Horst Köhler stimmte, sondern kurzerhand für die sozialdemokratische Gegenkandidatin Gesine Schwan. Daraus hatte eigentlich die Lehre gezogen worden sein sollen, nur noch absolut parteiloyale Delegierte zu entsenden. Doch Nordrhein-Westfalens CDU setzt diesmal trotzdem auf Alice Schwarzer – obwohl wieder eine Frau als Gegenkandidatin antritt.

Immer schon waren es Prominente aller Sparten, die von den jeweiligen Landesparteien zur Mitwahl des Bundespräsidenten auserkoren wurden. Denn dieser Wahltag wurde zugleich als Werbe- und Wahlkampftag genutzt. Die Parteien wollen sich da mit den vermeintlich Angesagten schmücken. 1989 war Pierre Littbarski einer der Stars für die Union, der Kabarettist Dieter Hildebrandt war es für die SPD – und beide stimmten für Richard von Weizsäcker. Eine solche Form der großen Koalition gab es bislang dreimal bei Bundespräsidentenwahlen: 1954 als Theodor Heuss wiedergewählt wurde; 1964 bei der Wiederwahl Heinrich Lübkes und eben 1989 für Weizsäckers zweite Amtszeit. Joachim Gauck ist damit der vierte gemeinsame Bundespräsidentschaftskandidat von Regierung und Opposition.

„Die Wahl des ersten Präsidenten der deutschen Bundesrepublik hätte eine feierliche, offizielle und würdige Angelegenheit sein müssen“, beobachtete enttäuscht das mit Krönungspomp verwöhnte britische Blatt „The Times“ bei der allerersten Bundespräsidentenwahl am 12. September 1949. Sie vermisste die Vornehmheit, die Noblesse auch der Verlierer. Heuss war gewählt, doch nur jene applaudierten, die rechts im nagelneuen Plenarsaal des Bundestages saßen. Links blieben sie mit verschränkten Armen sitzen.

Die FDP hatte einst beantragt, dass Bundespräsidentenwahlen ab 1954 in Berlin stattfinden sollten – als Zeichen der Verbundenheit mit der Mauerstadt. Als letzter wurde Heinemann dort in der Ostpreußenhalle am Funkturm gewählt. Dann wurde wieder Bonn als Ort der Bundesversammlung bestimmt. Seit 1994 wird das Gremium wieder nach Berlin berufen. Und dort können die Wahlleute es nun am kommenden Samstag richtig krachen lassen, denn eines ist für diesen Wahl-Sonntag sehr sicher: die Mehrheit für den künftigen Bundespräsidenten Joachim Gauck.

In der ersten Fassung des Textes befand sich ein Fehler. Theodor Heuss wurde natürlich nicht 1994, sondern 1954 wiedergewählt.

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