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(picture alliance) Kachelmann stößt notwendige Debatte an, kann sie aber nicht führen

Kachelmann - Vom Rechtsstaat und der Brücke in die Gesellschaft

Das Buch „Recht und Gerechtigkeit – Ein Märchen aus der Provinz“ von Jörg und Miriam Kachelmann ist kaum lesbar: Viele Plattitüden und ein schlechter Schreibstil. Die notwendige Debatte um das Verhältnis von Rechtsstaat und Gesellschaft droht zu zerfasern

„Oje, nicht schon wieder, werden Sie sagen, nicht schon wieder der Kachelmann.“ So leitet Jörg Kachelmann sein 384 Seiten umfassendes Buch „Recht und Gerechtigkeit – Ein Märchen aus der Provinz“ ein und gibt damit schon den Tenor vor: kokettierend um gesellschaftliche Rehabilitation werben. Er hat es gemeinsam mit seiner Frau Miriam Kachelmann geschrieben, die in mehreren Kapiteln ihre Perspektive in „Miriams Sicht“ darlegen darf.

Das siebte Kapitel des Buches „Was sich ändern muss“, in dem Frau Kachelmann auf 73 Seiten unter anderem die Missstände in der juristischen Ausbildung beschreibt und die Defizite Alice Schwarzers als „Gerichtsreporterin“ der Bild-Zeitung herausarbeitet, gehört mit Abstand zum stärksten Teil. Das liegt aber vor allem daran, dass die übrigen Passagen kaum mehr als voyeuristische Einblicke auf Boulevard-Niveau widerspiegeln. So berichtet Frau Kachelmann an anderer Stelle von ihrer ersten Begegnung mit dem ersten Verteidiger, Reinhard Birkenstock, an einer Autobahnraststätte, „Herr Birkenstock bestellte sich eine große Portion Bratwurst mit Sauerkraut und Kartoffelbrei und Kaffee.“ Wie die Eheleute Kachelmann mit diesem Buch eine ernsthafte Debatte um den Rechtsstaat und sein Spannungsverhältnis zur Gesellschaft anstoßen wollen, bleibt wohl ihr Geheimnis. Zuviel Subjektivität überschattet eine nüchterne Analyse.

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Die Medienmaschine drehen die Kachelmanns indes richtig auf: großes Spiegel-Interview, Frankfurter Buchmesse und am letzten Sonntag dann die Aufwartung bei Günther Jauch. Und weil die Eheleute ausreichend Aufmerksamkeit erzeugt haben, ist die Buchveröffentlichung auch prompt um eine Woche vorgezogen worden. Geschwärzte Passagen und ein Zivilrechtsstreit um die Namensnennung der Nebenklägerin, Claudia D., als Begleitmusik mit der Option, die Auflage zu steigern.

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Dabei spiegelt sich im Fall Kachelmann durchaus ein wichtiges Thema wider. Nicht etwa die ominöse Stiftung, die Opfern von Vergewaltigung und Opfern falscher Verdächtigung von Vergewaltigungsfällen ein gemeinsames Dach geben will –welch absurde Schnapsidee–, sondern das Verhältnis zwischen Rechtsstaat und Gesellschaft. Eine Debatte darüber ist längst überfällig.

Wie soll ein Rechtsstaat dauerhaft überleben, wenn die Gesellschaft, die ihn tragen soll, immer weniger Zugang zu ihm findet?

Der Freispruch Kachelmanns ist dafür ein gutes Beispiel. Juristisch wird zwischen einem Freispruch, bei dem das Gericht von der Unschuld überzeugt ist und einem Freispruch „in dubio pro reo“ nicht unterschieden. Freispruch ist Freispruch. Gesellschaftlich und in den Medien wird jedoch von Freisprüchen „aus Mangel an Beweisen“ bzw. „zweiter Klasse“ gesprochen. Dies impliziert, dass die Beweise, einen Angeklagten zu verurteilen, nicht ausgereicht haben, er es aber eigentlich gewesen ist. Dem Freigesprochenen haftet der Makel an, durchaus der Täter gewesen zu sein. Gesellschaftlich kommt dies einer Verurteilung gleich. Beruflich bedeutet das für Prominente in den allermeisten Fällen das Aus in den Medien.

Dabei definiert die Entscheidungsregel „Im Zweifel für den Angeklagten“ das genaue Gegenteil: Wenn am Ende eines Beweisverfahrens  beim Gericht Zweifel bleiben,dann führt dies im Strafprozess zwingend dazu, dass der Angeklagte unschuldig ist und freigesprochen werden muss. Wie transportiert man dieses rechtsstaatliche Prinzip in die Gesellschaft? Die 5. Große Strafkammer des Landgerichts Mannheim unter dem Vorsitzenden Richter Michael Seidling hat sich selbst jedenfalls keinen Gefallen getan, in ihrer Urteilsbegründung die landläufige Auffassung dadurch auch noch zu befeuern, dass sie sagt, „wir entlassen den Angeklagten mit einem möglicherweise nie mehr aus der Welt zu schaffenden Verdacht als potenziellen Vergewaltiger.“ Mit solchen Sätzen konterkarieren gerade die Repräsentanten des Rechtsstaat denselbigen und führen den Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ ad absurdum.

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Den Rechtsstaat in all seinen manchmal auch unbequemen Facetten zumindest generell begreiflich zu machen, ist Aufgabe von Justiz und Politik und letztlich auch der Medien. Es zeichnet sich immer mehr eine Art Justizverdrossenheit ab, die vor allem daraus resultiert, dass die Gesellschaft zur komplexen Materie der Jurisprudenz kaum mehr einen Zugang findet. Wenn darüber hinaus die Verantwortlichen selbst einem diffusen Rechtsgefühl hinterherlaufen, steht es um die Zukunft des Rechtsstaats nicht besonders gut.

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Die Zeitschrift „Emma“ hat Anfang des Jahres beispielsweise wie selbstverständlich die Unschuldsvermutung als alternatives Unwort des Jahres erwogen und sich auf den aus ihrer Sicht unangemessenen Ausgang des Kachelmannprozesses berufen. Alice Schwarzer selbst durfte an prominenter Stelle in der Bild-Zeitung abenteuerliche Einlassungen wider rechtsstaatlichen Grundsätzen platzieren. Wenn sie von der Unschuldsvermutung der Nebenklägerin im Kachelmann-Prozess parlierte, zeigt das auf, dass sie schon grundlegende Prinzipien des Rechtsstaat mindestens nicht erfasst oder in verwerflicher Weise ignoriert hat. Der Nebenklägerin drohte nämlich in diesem Verfahren keine Strafe. Sie war keine Angeklagte. Erst wenn ihr wegen falscher Verdächtigung und uneidlicher Falschaussage der Prozess gemacht worden wäre, hätte auch ihr selbstverständlich die Unschuldsvermutung zugestanden.

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Nun zieht Jörg Kachelmann durch die Medien, prangert den Strafvollzug, die Gerichte und den Rechtsstaat im Allgemeinen an. Zwar muss man ihm zugestehen, dass er die Debatte um den Rechtsstaat und die Rezeption in der Gesellschaft auf die Tagesordnung setzt, sein Werk allerdings hat zu diesem Diskurs kaum Substanzielles beizutragen. Es ist durchzogen vom Gift einer verzerrten Subjektivität. Das ist nach dem ihm Widerfahrenen auch nachvollziehbar. Der große Wortführer in einer solchen Debatte kann er dennoch nicht sein. Denn aus subjektiv Erfahrenem nur allzu leicht allgemeine Prinzipien abzuleiten, eignet sich nicht, um dem Thema mit gebotener Distanz zu begegnen. Darüber hinaus droht diese notwendige Diskussion in einem Medien-Hype um die Person Kachelmann zu zerfasern – wieder einmal.

Plastisch zu beobachten war dies am vergangen Sonntag in der Polit-Talkshow Günther Jauch. Mit Winfried Hassemer saß sogar ein ehemaliger Bundesverfassungsrichter, seiner Zeit sogar Vizepräsident des Gerichts, in der Talkrunde. Man konnte sich eigentlich Hoffnungen machen, dass er der ganzen Diskussion einen Rahmen gibt, den Rechtsstaat erklärt und einordnet. Seine Aussagen blieben allerdings weit unter seinen Möglichkeiten. Vielmehr schaltete er aufgrund des überzogenen Angriffs der Eheleute Kachelmann auf die Justiz in einen dumpfen Verteidigermodus und nahm das Landgericht Mannheim undifferenziert in Schutz. Mit dem Medienmanager und ehemaligen Bild-Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje saß gewissermaßen die fleischgewordene Mistgabel in der Diskussionsrunde, der sich nicht zu schade war, darauf hinzuweisen, dass Kachelmann wider aller rechtsstaatlicher Prinzipien durchaus ein Vergewaltiger gewesen sein kann. Stärker als Tiedje kann man dem diffusen Rechtsgefühl der Gesellschaft nicht den Weg bahnen.

Wenn eine Debatte jenseits des Medien-Hypes um den Fall Kachelmann geführt werden soll, müssen sich vor allem die Entscheidungsträger aus Politik und Justiz in die Verantwortung nehmen lassen, den Bürgern den Rechtsstaat auf einfache Weise verständlich zu machen. Auch die Medien sind zur Aufklärung verpflichtet. Dafür ist natürlich notwendige Grundvoraussetzung, dass sie selbst hinter den Prinzipien des Rechtsstaats stehen und der Versuchung widerstehen, sich allzu schnell einer gefühlten Volksstimmung anzubiedern.

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