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(picture alliance) Das Bundesverfassungsgericht hier bei einem Besuch der Bundesregierung

ESM-Entscheidung - „Verfassungsgericht stößt an seine Grenzen“

Vor der Entscheidung zum ESM und Fiskalpakt sprach Cicero Online mit dem Verfassungsrechtler Christoph Möllers. Er meint, dass Karlsruhe in der Eurokrise an Grenzen stoße und dennoch dem Drahtseilakt zwischen Recht und Politik gewachsen sei 

Herr Möllers, das Bundesverfassungsgericht hat die Bundesrepublik wesentlich mitgeprägt, vor allem Grundrechte ausgeweitet, teils neu geschaffen und vor Angriffen verteidigt. Stößt das höchste deutsche Gericht in der Eurokrise nun an Grenzen?
Ja. Das kann man schon sagen. Es ist klar, dass das Gericht Entscheidungen, die sich auf die gesamte Europäische Union beziehen, nicht mit der gleichen Intensität prüfen kann, wie es bei innerstaatlichen Entscheidungen der Fall ist. Es kann immer wieder passieren, dass Entscheidungen eines Gerichts über den nationalen Rechtsraum hinausweisen, aber in der Deutlichkeit wie in diesem Fall ist es etwas ganz Besonderes und auch ein Problem für das Gericht.

Während die Regierung Merkel indes auf schnelle Krisenmechanismen drängt, hat  sich Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle für die ESM-Prüfung so viel Zeit wie nur möglich ausbedungen. Kann sich das in Zukunft als problematisch erweisen, wenn auf Marktentwicklungen noch rascher reagiert werden muss?
Kann es, aber grundsätzlich ist klar, dass es keinen eindeutig richtigen Umgang mit solchen Krisenmechanismen geben wird. Es ist angemessen, wenn Voßkuhle darauf besteht, dass politische und juristische Prozesse nicht einfach nur die Krisenszenarien an den Märkten nachvollziehen können. Deswegen finde ich es erst einmal in Ordnung, dass sich das Gericht nicht auf schnelle Antworten einlässt.

Die meisten EU-Staaten haben den ESM-Vertrag ratifiziert, nur Deutschland hinkt noch hinterher. Wäre ein Stopp des Rettungsschirms durch Karlsruhe eine dramatische Signalwirkung in Richtung Europa?
Ja, vom Effekt her wäre das natürlich dramatisch. Aber das Verfassungsgericht ist nicht blind für die Folgen seiner Entscheidungen und sollte es auch nicht sein. Erstens haben wir in Deutschland eine starke Tradition der Verfassungsgerichtsbarkeit. Das haben andere europäische Länder nicht so. Dass wir sie deshalb aufgeben sollten, erschließt sich mir nicht. Zweitens haben wir einen politischen Prozess, der die Kritik an der europäischen Integration nicht gut abbildet. Ich persönlich bin eher europafreundlich, aber ich sehe auch, dass Bürger, die kritisch sind, im politischen Diskurs wenig Gehör finden. Das Gericht nimmt hier eine gewisse Ersatzfunktion ein. 

Kann die jüngste Entwicklung bei der  Europäischen Zentralbank (EZB), unbegrenzt Anleihen aufzukaufen, die Entscheidung am Mittwoch noch beeinflussen?
Das ist eine strittige Frage. Die eine Seite wird sagen, dass dadurch de facto neue Schulden geschaffen werden, für die letztlich auch der Bund eintritt und wenn dem so ist, dann geht es um denselben Streitgegenstand. Die andere Seite und so auch ich würden sagen, dass das zwei verschiedene Fragen sind. Entscheidungen der EZB können nicht in diesem Verfahren beanstandet werden. Sie sind nicht durch das Bundesverfassungsgericht justiziabel. Höchstens der Europäische Gerichtshof könnte sich dieser Thematik annehmen.

Problematisch scheint mir, dass sich die Bundesregierung nicht eindeutig positioniert hat. So übernimmt sie keine Verantwortung für eine Entscheidung, die wohl kaum gegen ihren ausdrücklichen Willen hätte ergehen können.

Teilweise greift Karlsruhe tief in politische Grundsatzentscheidungen ein. Überzieht das Gericht sein Mandat, die Verfassung zu hüten?
Das ist eine schwierige Angelegenheit. Man hat in der Entscheidung für ein Verfassungsgericht von vornherein bewusst eine Institution geschaffen, die genau in diesem Zwischenbereich zwischen Recht und Politik agiert. Es ist eben nicht einfach nur ein Amtsgericht, das relativ klare Regeln anwendet. Das kann man den Verfassungsrichtern nicht vorwerfen. Umgekehrt gilt auch: Wenn das Gericht ein Gesetz des Bundestags aufhebt, kann man das Bundestag oder Bundesregierung auch nicht als moralisches Versagen vorhalten. Das Gericht macht das auch nicht. Es ist eben eine Form von Kooperation, in der man in verschiedenen Verfahren auf ein und dasselbe Problem schaut. Dass der Bundestag und die Bundesregierung nicht stets die neueste Rechtsprechungsentwicklung aus Karlsruhe vorhergesehen haben, weil sie diese nicht vorhersehen konnten, das wissen alle Beteiligten. Das wird bloß der Öffentlichkeit manchmal nicht so vermittelt, indem man immer wieder dramatisiert und so tut, als sei eine Niederlage vor Gericht Ausdruck eines bewussten Fehlverhaltens, was es meistens nicht ist.

Da gibt es jüngst doch ein prominentes Gegenbeispiel: Derzeit steht die Bundesrepublik ohne gültiges Wahlgesetz da. Voßkuhle nannte das vorgelegte Gesetz von Schwarz-Gelb „ernüchternd“. Steht es um das Verhältnis von Berlin und Karlsruhe wirklich so gut?
Das war ein ungewöhnliches Verfahren, sicherlich nicht besonders gelungen. Die gute Tradition, dass das Bundeswahlgesetz im Einvernehmen der politischen Lager verabschiedet wird, wurde hier verlassen. Das gesamte Gesetzgebungsverfahren blieb unter den Möglichkeiten.

Auf der folgenden Seite: Gibt es demnächst eine Verfassungsdebatte in Deutschland? 

Bis in die Gegenwart hinein gilt das Bundesverfassungsgericht als bedeutungsschwerstes Verfassungsgericht in Europa – vielleicht sogar weltweit. Welche Rolle könnte Karlsruhe für die weitere Integration spielen?
Gerade in Fragen des Grundrechtsschutzes wird das Bundesverfassungsgericht ein wichtiges Gericht bleiben. Viele Dinge in der EU, etwa das Zusammenspiel mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erscheinen noch nicht klar in ihrer Entwicklung. Ich vermute, dass sich das deutsche Gericht selbst nicht ganz zu Unrecht unter den nationalen Gerichten eine Leitfunktion zubilligt. Karlsruhe wird viel gelesen und breit rezipiert. Die Entscheidungen, die die Karlsruher Richter fällen, werden von anderen nationalen Verfassungsgerichten und auch den europäischen Gerichten zur Kenntnis genommen.

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Erwarten Sie alsbald eine Verfassungsdebatte in Deutschland?
Ja. Ich glaube, dass wir um eine größere Debatte über den Stand der europäischen Integration und ihrer demokratischen Einbindung nicht hinwegkommen. Plebiszite sind problematisch. Aber die Frage, ob wir nicht doch mit einer Volksabstimmung versuchen, das Ganze auf ein anderes demokratisches Level zu heben, drängt sich auf. Eine solche Diskussion wird jedoch wohl erst nach der nächsten Bundestagswahl beginnen.

Wie sähe eine solche Debatte aus?
Hier verbinden sich sehr politische mit sehr technischen Fragen. Für Volksabstimmungen auf Bundesebene bedarf es wohl erst einmal einer eigenen Änderung des Grundgesetzes. Ob die Volksabstimmung dann ein neues Grundgesetz oder eine neue Verfassung schaffen würde, bezweifle ich. Wir brauchen kein neues Grundgesetz. Es geht eher darum, die europäische Integration– die Schritte, die wir bisher genommen haben – nochmals einer demokratischen Sanktion zu unterwerfen.

Und wenn irgendwann ein Bundesstaat Europa am Horizont erscheint…
Das ist eine sehr deutsche Diskussion. Schon die Begriffe Bundesstaat, Staatenbund, Staatenverbund sind deutsche Kategorien. Wir können jetzt einen Bundesstaat gründen, aber was machen dann die anderen? Die ziehen nicht mit. Das ist eine introvertierte Debatte. Es geht eher darum zu sagen: Es ist sehr viel passiert. Wir brauchen einen umfassenden demokratischen Diskurs. In diesem könnten vielleicht auch die Kritiker der europäischen Integration besser zu Wort kommen, als es im parlamentarischen Verfahren im Moment möglich ist.

Herr Möllers, vielen Dank für das Gespräch.

Professor Dr. Christoph Möllers ist Inhaber eines Lehrstuhls Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht, und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat die Bundesregierung in mehreren Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten und vertritt derzeit den Bundestag vor dem Bundesverfassungsgericht im Verfahren um den ESM und den Fiskalpakt. 

Das Interview führte Daniel Martienssen

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