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Lisa Rock/Jutta Fricke Illustrators

Politische Korrektheit - Vom Furor des Fortschritts

Homo-Ehe, Sexismus-Streit, ein gesäubertes Vokabular – und Einheitstoiletten als Symbol gegen die Repression: Es triumphiert die Avantgarde der progressiven Gesinnung. Wer dabei nicht mitmachen will, stellt sich ins gesellschaftliche Abseits. Nachrichten aus dem politisch korrekten deutschen Frühling

Autoreninfo

Reinhard Mohr (*1955) ist Publizist und lebt in Berlin. Vor Kurzem erschien sein Buch „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag, München).

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Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (April). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen.

 

 

Seit eh und je steht der Berliner Bezirk Kreuzberg im berechtigten Verdacht, ein quicklebendiges Laboratorium sozialer Utopien zu sein. Nirgendwo sonst wurden in den achtziger Jahren so viele Häuser besetzt, nirgendwo sonst hatte die konkrete Anarchie des Alltags so viel Auslauf, und nirgendwo sonst wurde der 1. Mai, internationaler „Kampftag“ der Arbeiterklasse, derart beim Wort genommen. So war es nur konsequent, dass diese revolutionäre Tradition auch nach der politisch zunächst verschmähten Wiedervereinigung mit dem Ostberliner Bezirk Friedrichshain fortgesetzt wurde.

Unter der doppelten Regentschaft des Königs von Kreuzberg, Christian Ströbele I., und seines grünen Bezirksbürgermeisters Franz Schulz geht FriedrichshainKreuzberg seinen anti­imperialistisch-ökofeministisch-multikulturellen Weg unbeirrt weiter. Die letzte Errungenschaft ist erst ein paar Wochen alt: die Unisex-Toilette. In der Drucksache Nr. DS/0550/IV der Bezirksverordnetenversammlung heißt es, dass diese neuartigen Toilettenanlagen in öffentlichen Gebäuden von Menschen benutzt werden sollen, „die sich (1) entweder keinem dieser beiden Geschlechter zuordnen können oder wollen oder aber (2) einem Geschlecht, das sichtbar nicht ihrem biologischen Geschlecht entspricht“. Spontan fallen einem hier etwa die Dschungelkämpferin Olivia Jones ein, womöglich auch Tony Marshall und Jens Riewa.

Selbstverständlich belassen es die Kräfte des Fortschritts nicht bei vergleichsweise banalen Handreichungen im Zuge der unzweifelhaft komplexer gewordenen Verrichtung menschlicher Notdurft. Nein, sie liefern höhere Soziologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik gleich mit. Die Unisex-Toilette verhindere eine tendenziell repressive „Selbstkategorisierung in das binäre Geschlechtersystem“. Originalton Drucksache DS/0550/IV: „Das kann selbst für Menschen, die sich prinzipiell zuordnen können, dazu aber nicht ständig angehalten werden möchten, angenehm sein. Sie regen außerdem dazu an, über Geschlechtertrennungen im Alltag nachzudenken.“

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Ein Quantensprung: die Toilette als Ort der Selbstreflexion, Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Wenn Immanuel Kant davon gewusst hätte, wäre Königsberg zum Clochemerle Preußens geworden. Der kategorische Imperativ als dringende Bedürfnisklärung: Wo pinkle ich, wer bin ich, und wenn ja, wie viele? Endlich sind reaktionär verkürzte und polemisch-chauvinistische Selbstzuschreibungen jenseits des Gender-Mainstreaming wie „Ich muss mal!“ passé. Wie lange haben wir auf diese Befreiung gewartet!

„Deutschland – Land der Ideen“ lautete das Motto zur Fußballweltmeisterschaft 2006. Damals wurde es von nicht wenigen belächelt. Heute sehen wir, dass es keine leere Parole war. „Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“, möchte man mit Ernst Reuter ausrufen. In Friedrichshain-Kreuzberg beginnt die Zukunft schon jetzt. Einen Flughafen braucht es dafür am allerwenigsten.

Im Frühling 2013 aber fegt der frische Sausewind des unaufhaltsamen Fortschritts in ganz Deutschland die letzten Reste konservativ-reaktionärer Verkrustungen hinweg. Obwohl in Berlin eine Eiserne Lady regiert, die Europa unter der Knute ihres unbarmherzigen Spardiktats in Angst und Schrecken hält, übt sich die deutsche Gesellschaft derzeit in einem täglichen Wettlauf um mehr Weltoffenheit, Liberalität und progressive Gesinnung. Schon die „Sexismus“-Debatte hat gezeigt, dass nun auch die letzten Winkel frauenfeindlicher Einstellungen gnadenlos ausgeleuchtet werden, selbst in den Redaktionen der führenden Nachrichtenmagazine und Illustrierten. Der Stern etwa erwägt, will man Gerüchten glauben, die Einstellung einer Frauenbeauftragten, die auch die Gestaltung allzu busenlastiger Titelbilder überwachen soll. Schließlich hat die Auseinandersetzung über Sexismus sogar den Bundespräsidenten erreicht, der gewagt hatte, das Wort vom „Tugendfuror“ in den Mund zu nehmen.

„Durch die Verwendung dieses Wortes“, so schrieben sieben empörte junge Frauen, darunter Protagonistinnen der #Aufschrei-Debatte, in einem offenen Brief an Joachim Gauck, „bringen Sie erniedrigende, verletzende oder traumatisierende Erlebnisse sowie das Anliegen, diese Erfahrungen sichtbar zu machen, in Verbindung mit dem Begriff Furie.“ Da das Wort verwendet werde, um die Wut der Frauen lächerlich zu machen, bediene er „jahrhundertealte Stereotype über Frauen“. Die Idee zum Brief hatte die 23-jährige Studentin Jasna Lisha Strick: „Wenn man so ein supereigenartiges Wort wie Tugendfuror liest, tut das weh und macht wütend.“

Vielleicht wären Schmerz und Wut ein wenig kleiner gewesen, hätte frau zuvor mal kurz in den Duden geschaut. Womöglich wäre ihr dann der Gedanke gekommen, dass Gauck mit diesem supereigenartigen Wort vor allem die Raserei, also den Furor unserer medialen Erregungs- und Entrüstungsgesellschaft meinte, deren Talkshows sich binnen weniger Tage in eine Art virtuelles Dauertribunal hineingesteigert haben, das kaum weniger hysterisch und heuchlerisch war als die Revolutionstribunale von Fouquier-Tinville und Robespierre zwischen 1793 und 1794.

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Doch auf derart feine Unterscheidungen kann der rasende Fortschritt keine Rücksicht nehmen. Das gilt nicht zuletzt für unsere Essgewohnheiten, die nicht bleiben können, wie sie sind. Täglicher Fleischkonsum, und sei es nur die bayerische Wurstsemmel in der Brotzeit – weg damit! Donnerstag ist „Veggie-Tag“, auch am Münchner Viktualienmarkt und in der weiß-blauen Landtagskantine. Die einzige Frage ist: Darf man „Mohrrübchen“ oder „Schwarzwurzeln“ anbieten?

Völlig klar ist dagegen: Die „kleine Hexe“ oder „zehn kleine Negerlein“ im Kinderbuch – das geht gar nicht. Auch der historische Begriff der „Hexenverbrennung“ muss überdacht werden. Selbst die katholische Kirche hat ja ihre „Heilige Inquisition“ schon in die unverfängliche „Glaubenskongregation“ verwandelt. Besorgte Sozialpädagogen fordern längst die systematische Durchkämmung aller Kinderbücher nach 1918. Und was ist eigentlich mit Lukas, dem Lokomotivführer (!), der mit seiner „Emma“ (!) durch Lummerland (!) gondelt, um am Ende noch den kleinen Jim Knopf in die dampfend-stählerne (!) Männerdomäne (!) einzuführen (!)? Geht’s noch patriarchalischer? Wo bleibt das Nachdenken über den binären Geschlechter-Code?

Derweil durchforsten die Säuberungskommandos der Netz-„Community“ sogar den Otto-Katalog aus Hamburg. Und siehe da, sie wurden fündig. Das Corpus delicti: Ein blaues, kurzärmeliges T-Shirt mit der Aufschrift „In Mathe bin ich Deko“. Hätte Dieter Bohlen oder Stefan Raab dringesteckt – kein Problem. Es wäre der Brüller gewesen, ein Must-have für alle starken Typen, die die Infinitesimalrechnung gehasst haben wie Kniestrümpfe und kurze Lederhosen. Leider hat der Otto-Versand ein kleines Mädchen posieren lassen, und schon brach auf Facebook und Twitter der Shitstorm los: „Reaktionär, chauvinistisch, sexistisch!“ Das üble Klischee von den mathematisch unbegabten Frauen! Ha! Dass Frauen den Slogan entworfen hatten, spielte hier keine Rolle. Provokation, Ironie? Moralisten kennen keine Ironie! Nach zwei Tagen knickte Otto ein und nahm das T-Shirt aus dem Markt. Man darf gespannt sein, wann die erste #Aufschrei-Brigade politisch unkorrekte Kabarettisten aufstöbert und an den Pranger stellt.

Die Sprache ist ein Abbild der Realität, und wenn der soziale Fortschritt einmal eine Atempause einlegt, bleibt immer noch die Ächtung politisch unkorrekter Bezeichnungen, die sie falsch oder diskriminierend darstellen. So hat die Nationale Armutskonferenz jüngst 23 „soziale Unwörter“ aufgespürt, darunter sogar das moderne Attribut „alleinerziehend“. Grund: Der Begriff sage „nichts über mangelnde soziale Einbettung oder gar Erziehungsqualität“. Wir verstehen: Ein solches Wort kann man nicht einfach so allein stehen lassen. Man müsste gleich einen ganzen Aufsatz schreiben. Auch von „Arbeitslosen“ soll fortan nicht mehr die Rede sein. Stattdessen muss es „Erwerbslose“ heißen, weil es „viele Arbeitsformen gibt, die kein Einkommen sichern“.

Als gesellschaftliche Idealfigur erscheint hier Johannes Ponader, Noch-Geschäftsführer der Piratenpartei, der sich jeder autoritären Definition seiner hochsensiblen Identität entzieht – bis in den Privatbereich hinein, wo er sich „polyamor“, als nach allen Seiten offener Zeitgenosse auslebt. Er hat verstanden, was Judith Butler sagt: Geschlecht und Eros sind nichts als ein „soziales Konstrukt“. Wer daran arbeitet, ist also keinesfalls arbeitslos, auch wenn er von Hartz IV lebt.

Zugegeben: Es ist auch wirklich nicht ganz leicht, die jeweils richtigen Worte zu finden. Nachdem etwa der gute alte „Ausländer“ schon vor Jahren durch die „Person mit Migrationshintergrund“ ersetzt wurde (Kurzform: Migrant), erweist sich nun selbst diese Formulierung als diskriminierend, weil sie „häufig mit einkommensschwach, schlecht ausgebildet und kriminell in Zusammenhang gebracht“ werde. Auch die Bezeichnung „Person mit Migrationshintergrund ohne eigene Migrationserfahrung“ ist also nicht restlos korrekt. Sogar die Sprachsäuberer der Nationalen Armutskonferenz also wissen hier keine klinisch reine Endlösung.

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Immerhin ist beim Ausdruck „bildungsferne Schichten“, auch schon ein weich gespülter Neologismus aus dem Geist des Warmbadetags, guter Rat zur Hand. „Fern vom Bildungswesen“ sollen wir nun sagen. Besser noch: „vom Bildungswesen nicht Erreichte“.

Rainer Brüderle hat all das noch nicht begriffen. Hätte er mit der jungen Stern-Kollegin an der Bar des Maritim-Hotels über soziale Geschlechterdifferenz, korrekte Genderpolitik und das poststrukturalistische Rhizom-Konzept von Deleuze/Guattari gesprochen, wäre ihm die Dirndl-Sache erst gar nicht in den Sinn gekommen. Aber so ist das mit alten, peinlich zurückgebliebenen Männern: Sie leben noch voll das anachronistische Programm 1.0. Und dabei ahnen sie noch nicht einmal, was ihnen in diesem Bücherfrühling prophezeit wird: Ganz schlicht „Das Ende der Männer“.

Hinterwäldlerische Null-Checker sind auch jene Zeitgenossen, die das voll krasse Sprachgemisch namens „Kiezdeutsch“ nicht umstandslos für eine segensreiche Erweiterung der deutschen Hochsprache halten. „Geh isch Aldi, Alter!“ ist eben kein Ausdruck „reduzierter Grammatik“, wie rassistische Ignoranten behaupten, die nur Goethe und Thomas Mann gelten lassen, sondern vielmehr „eine faszinierende Entwicklung in unserer Sprache“. Das jedenfalls erklärt eine Potsdamer Professorin. Mögen Ausrufe wie „Mach isch disch Krankenhaus!“ wahlweise „Schlag isch disch Urban!“ in ihrem semantischen Gehalt durchaus diskussionswürdig sein, was ihre tendenziell aggressive Botschaft betrifft, so spiegeln sie doch den signifikanten linguistischen Austausch zwischen unterschiedlichen Kulturen. German Mainstreaming ist hier das Zauberwort, die multikulturelle Angleichung der Sprechverhältnisse.

Überhaupt, die faszinierende Vielfalt der Kulturen. Nachdem nun offiziell geworden ist, dass Zehntausende Roma und Sinti aus Bulgarien, Rumänien und anderen südosteuropäischen Staaten nach Deutschland einwandern, wird als Erstes der Rassismus bekämpft, der aus den Problemen resultieren könnte, die diese neue Form europäischer Armutswanderung unweigerlich mit sich bringt. Vor allem Claudia Roth, die Schmerzensfrau des grünen Gutmenschentums, tut sich dabei hervor, tatsächliche soziale Probleme zu leugnen, indem sie in einer Art moralischer Übersprungshandlung mögliche Reaktionen darauf zur einzig wahren Gefahr für Frieden und Freiheit darstellt. Auch der Migrationsforscher Klaus J. Bade ist ein Meister in der Disziplin „Flucht in die Ideologiekritik“, bei der die Konflikte einer Einwanderungsgesellschaft – und das ist die Bundesrepublik – fast ausschließlich auf das Schuldkonto der tendenziell „rassistischen“ Mehrheitsgesellschaft gebucht werden. Stets liegt ein deutliches, wenn auch unhörbares „Schämt euch!“ in der Luft.

So kommt es, dass sogar die Berliner Staatsanwaltschaften, die sich in einem Brief an den Justizsenator über die mangelhafte personelle wie technische Ausstattung ihrer Ämter beklagten, Angst vor der eigenen Courage haben, wenn es um Tatsachen geht, die ihnen selbst vorliegen. Die Zahl der Verfahren sei stark gestiegen, schrieben sie laut Tagesspiegel. Allein der Zuzug von Menschen aus Rumänien und aus anderen Ländern Osteuropas habe zu einer „Explosion“ bei Einbrüchen und Diebstählen geführt. Aber das dürfe man ja nicht laut sagen. Wieso man das nicht darf, wenn es doch stimmt, wird leider nicht weiter ausgeführt.

Eine extreme Blüte jener politischen Korrektheit, die die alte Ausländerfeindlichkeit durch eine neue Inländerfeindlichkeit kompensieren will, bot dieser Tage ein Leserblog in der taz. Nachdem Dutzende Asylbewerber seit Monaten auf dem Kreuzberger Oranienplatz campieren, um gegen das „unmenschliche“ deutsche Asylverfahren zu demonstrieren, schlug Blogger „Cometh“ ein ganz neues Verfahren vor: „In den besseren Bezirken sollte jeder Berliner mit einer 3-Zi-Wohnung aufgefordert werden, einen Flüchtling aufzunehmen. Das wäre gelebte internationale Solidarität (natürlich gegen Kostenersatz vom Senat). Aber das nur, wenn unsere FreundInnen damit einverstanden sind, denn sie sind traumatisiert und Flüchtlinge und wollen vielleicht gar nicht mit ihren Unterdrückern und denjenigen, die an Waffengeschäften verdient haben, in einer Wohnung sein.“

In Dahlem, Friedenau, Wilmersdorf und Charlottenburg konnte man das Aufatmen der ansässigen Sklavenhalter, Blutsauger und Waffenhändler förmlich hören.

Aber letztlich geht es hier nicht um Einzelschicksale. Es geht, wie oft in Deutschland, ums Ganze, Grundsätzliche. Alles soll gut werden. Es soll überall solidarisch und gerecht zugehen, friedlich und demokratisch. Weil die Wirklichkeit aber seit Menschengedenken nicht solidarisch und gerecht ist, oft auch nicht friedlich und demokratisch, muss kräftig nachgeholfen werden.

Das eine Mittel deutscher Fortschrittsfreunde ist die Verbesserung der Welt durch die Veränderung der Worte, mit denen sie beschrieben wird. Ein schlechter Schüler, gar ein „dummer Bub“, wie es früher im Frankfurter Bembel-Soziotop hieß, ist dann eben ein „vom Bildungswesen nicht Erreichter“. So muss sich das Bildungswesen ganz mächtig anstrengen, um an ihn ranzukommen. (Für die jüngeren Leser: Früher war das eher andersherum.) Sitzen bleiben soll der bildungsferne Bub aber keinesfalls mehr.

Die andere, deutlich schwierigere Strategie ist die Verbesserung der Welt durch ihre systematische Veränderung. Ein äußerst anspruchsvolles Programm, an dem sich seit der Antike schon unzählige Generationen versucht haben. Wunsch und Wirklichkeit, Ideal und Realität, geraten dabei häufig durcheinander. Nicht selten wird die Wunschvorstellung mit einer bereits veränderten Wirklichkeit verwechselt.

Dabei zielt der Kampf stets in eine Richtung: Jeder soll anders sein dürfen, aber auch ganz gleich – genau wie alle anderen. Auch wenn sich viele Menschen selbst diskriminieren, also von anderen ganz bewusst unterscheiden wollen – diskriminiert werden dürfen sie keinesfalls. So wird unermüdlich das Lob unserer bunt-individualistischen, schrillen, multikulturellen Patchwork-Gesellschaft gesungen, in der vor allem das andere, Nonkonformistische, Subversive, Randständige und Kreative zählen. Im selben Atemzug aber verlangt man Gleichheit in allen Lebenslagen, viel mehr also als die grundgesetzlich garantierte Gleichheit jedes Bürgers vor dem Gesetz. Auch der Anarcho-Punk im besetzten Haus, der „Fuck off Deutschland!“ und „Scheißsystem!“ an die Wände sprüht, soll Anspruch auf das Ehegattensplitting haben, wenn er mit Matze und Hund Bakunin eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingeht. Alles was recht ist.

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Dass zum Beispiel eine strikt angewandte Frauenquote dazu führen kann, den Gleichheitsgrundsatz im konkreten Fall auszuhebeln, zeigt nur, wie im Namen des gesellschaftlichen Fortschritts manches noch gleicher sein darf als gleich. Das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG) hat hier schon Pionierarbeit geleistet. Ein Zahnarzt, der eine technisch-medizinische Assistentin einstellen will, darf nicht verlangen, dass sie im Dienst ihr islamisches Kopftuch ablegt. Wenn er sie deshalb abweist, muss er Strafe zahlen. Es sei denn, er ist so schlau, einen anderen, unverfänglichen Grund vorzuschieben.

Nun also liefern Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über die letzten rechtlichen Details einer absoluten Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der bürgerlichen Ehe neuen Stoff für den großen Gleichheitsdiskurs. Unverkennbar zieht hier ein Hauch jenes „social engineering“ durchs Land, jenes sozialrevolutionären Ingenieurwesens aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20.

Jahrhunderts, das nicht neue Maschinen bauen wollte, sondern den „neuen Menschen“. Am Reißbrett systematischer Gesellschaftsplanung wurde die allumfassende egalitäre Persönlichkeit entworfen, die sich von allen rückständigen Traditionen gelöst hat und in den großen Kollektiven der kommunistischen Lebenswirklichkeit ihre historische Erfüllung am roten Horizont der endlich befreiten Humanität findet.

Zugegeben, heute geht es weniger pathetisch zu, ja geradezu putzig und bieder. Niemand will sich im Industriekombinat „Roter Oktober“ selbst verwirklichen. Doch die strenggläubige neue linke Betulichkeit, die vom Spießertum nicht immer zu unterscheiden ist (Achtung: Diskriminierung!), verlangt strikten Gehorsam, wenn es um den sozialen Fortschritt geht. Weh dem, der da nicht umstandslos und fröhlich in den Chor miteinstimmt und den Hinweis auf „neue Lebenswirklichkeiten“ nicht als einziges schlagendes Argument gelten lässt! Weh dem, der über die fortschreitende Entkopplung biologischer und sozialer Realitäten samt ihren möglichen Folgen wenigstens ernsthaft reden will: Er ist ein hoffnungsloser Reaktionär, über den sich selbst Guido Westerwelle lustig macht, jener Mann, der noch vor einiger Zeit „altrömische Dekadenz“ in Deutschland beklagt hat und so selbst zu einem reaktionären Bösewicht wurde.

Nein, nun müssen alle frohgemut und zukunftstrunken mitmachen beim großen Zug der Zeit; wer da fragend, gar mäkelnd zurückbleibt, den soll der Teufel, Pardon: die Teufelin holen.

Das Schöne: Die Avantgarde der progressiven Gesinnung braucht keine Kritik, denn sie ist ja die Kritik in Person, auf die sie ein lebenslanges Abo hat. Wer sich also kritisch gegenüber den notorischen Gesellschaftskritikern äußert, stellt sich selbst ins Abseits. Und so triumphiert ein vermeintlich fortschrittlicher Mainstream ganz entspannt im Hier und Jetzt, gleichsam en passant. Auf echte Diskussion kann er locker verzichten.

Auch der kritische Journalismus reiht sich da gern ein in die Einheitsfront. Vor allem das öffentlich-rechtliche Radio hat sich zum Vorreiter einer politischen Korrektheit gemacht, die andere Positionen nur noch als lästige Randerscheinungen wahrnimmt. „100 Prozent Quote!“, jubilierte eine Woche lang „Radio 1“ vom RBB – vom 4. bis 8. März 2013 durften nur Frauen ans Mikro. Kein Wunder, dass auch eine lesbische Partnerschaft – „Mama und Mami“ – ausführlich zu Wort kam. Zwei Töchter sind der Beziehung entsprungen, für die ein passender Samenspender ausfindig gemacht wurde: die perfekte „Regenbogenfamilie“. Wer bei vier gleichgeschlechtlichen Wesen im Haus den bunten Regenbogen vermisst, dem ist wirklich nicht zu helfen.

Hauptsache, der männliche Träger des „genetischen Materials“ (O-Ton Mama) hat der Adoption jeweils zugestimmt. Jetzt darf er alle paar Wochen mal vorbeischauen. „Erziehungsaufgaben hat er nicht“, stellt Mama zur Sicherheit klar. So weit kommt’s noch, dass das genetische Material über Schulprobleme seiner Kinder mitdiskutieren darf.

Eine einzige kritische Frage oder skeptische Anmerkung der Moderatorin? Göttin bewahre! Nebbich.

Wir freuen uns jedenfalls schon auf die Einweihung der ersten Kreuzberger Unisex-Toilette am 1. Juni, um endlich einmal wieder in Ruhe über „Geschlechtertrennungen im Alltag nachzudenken“.

Wie sagte einst Karl Valentin zu Liesl Karlstadt: Es ist so einfach, und man kann sich’s doch nicht merken. 

 

 

 

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