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Dschihadismus - Die wehrhafte Demokratie erweist sich als zahnlos

Kisslers Konter: In Deutschland formieren sich immer mehr Unterstützergruppen für die Terrorgruppe „Islamischer Staat“. Viele Dschihadisten ziehen von hier aus in den Heiligen Krieg. Die Bevölkerung reagiert mit erschreckender Gleichgültigkeit

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Was haben wir alle gestaunt oder gelacht, damals, vor zwölf Jahren, über Peter Struck und dessen Satz, die Freiheit Deutschlands werde auch am Hindukusch verteidigt. Der Bundesverteidigungsminister wollte so die gesellschaftliche Zustimmung zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr erhöhen. Afghanistan galt als Nachschubgebiet des Bösen, das die Taliban verkörperten.

Heute wissen wir: Die Sicherheit Deutschlands geht am Sinjar zugrunde. Das Bindeglied zwischen dem Terrorismus dort, unweit des Berges im Nordirak mit den jesidischen Flüchtlingen, von den Mordbrennern des „Islamischen Staates“ belagert, und neuen Unruhen hier lautet auf einen unheiligen Namen: „IS-Sympathisant“. Es gibt tatsächlich Menschen mitten in Europa, womöglich mit europäischem Pass, ganz sicher mit europäischen Erfahrungen, die sich zum Blutdurst des „Islamischen Staates“ bekennen. Noch kränker als die Perversion dort ist die Sympathisantenwelle hier.

Die bundesweit für Entsetzen sorgende Eskalation in der Herforder Innenstadt war kein Einzelfall. Dort hatten – man mag es kaum niederschreiben – „Anhänger der Terrororganisation ‚Islamischer Staat‘“ und Jesiden sich einen Straßenkampf geliefert. Was geht in den Köpfen von Menschen vor, die für das Recht auf Mord, Vergewaltigung und Genozid eintreten? „Das sind keine Menschen und keine Tiere“, sagte ein in Deutschland lebender Jeside, vom ARD-„Brennpunkt“ befragt.

Christenfrei droht schon in kürzester Zeit der Irak zu werden – und das heißt: frei von seinen Ureinwohnern, die dort seit 2000 Jahren als Nachfahren der antiken Assyrer, Babylonier, Chaldäer leben. Lebten. Kümmert es uns? In Berlin demonstrierten am vergangenen Wochenende 6000 Menschen für die Legalisierung des Hanfes. Gegen den „Islamischen Staat“ demonstrierte eine fünfmal kleinere Gruppe, für die Menschenrechte der verfolgten Christen niemand. Und muslimische verprügelten christliche Flüchtlinge in einem Berliner Flüchtlingsheim. Die Polizei gab sich schockiert.

Demokratie ist keine Schönwetter-Veranstaltung


Zuvor schon wehte aus einer Wohnung in Saarbrücken – am Rande Deutschlands, mitten in Europa – Tag um Tag die „IS“-Flagge. Der Saarländische Rundfunk teilt mit: „Eine Prüfung der Staatsanwaltschaft habe ergeben, dass die Flagge strafrechtlich nicht zu beanstanden sei. (…) ISIS selbst sei in Deutschland nicht verboten.“ Vermutlich müssen die Abschlachter und Leichenschänder erst in den Export von Körperteilen einsteigen, damit sie auch für Deutschland „eine Gefahr“ sind. Bis dahin erinnern die Straßenkämpfe uns daran, dass Europa nicht länger jene „Zitadelle der Sicherheit“ (Rudolf Borchardt) ist, die es einmal war.

Im niederländischen Den Haag skandierten „Hunderte von ‚IS‘-Anhängern“ bei einer Gaza-Demonstration „Tod den Juden“ und schwenkten eifrig die „IS“-Flagge. Rund 3000 junge Muslime aus Europa sollen sich mittlerweile dem „Islamischen Staat“ und dessen Vernichtungsfeldzügen in Syrien und Irak angeboten haben. In der Bundeshauptstadt hat sich bereits ein „Islamischer Staat Berlin“ formiert, der zu Demonstrationen vor das Brandenburger Tor einlädt.

Wir haben das Eiapopeia von der wehrhaften Demokratie gesungen, solange diese nicht ernsthaft bedroht war. Wir waren empört und wollten gut sein, als die Bösen fast noch possierliche Züge hatten und oftmals eher Maulhelden und Torfköpfe denn Terroristen waren. Nun sehen wir, dass die Globalisierung der Gleichgültigkeit und die Globalisierung des Terrors einhergehen. Unter diesem doppelten Zeichen steht die Gegenwart. Der importierte Dschihad kapert in diesen Stunden, jetzt und hier, immer mehr Hirne, schafft immer größere Räume der Unfreiheit und der Unsicherheit. Vielleicht ist nicht die Aufmerksamkeit in den virtuellen Welten, sondern der Hass auf den realen Straßen die Leitwährung des 21. Jahrhunderts.

Natürlich ist es richtig, wenn CDU-Vize Thomas Strobl fordert, die „vernünftigen Muslime“ dürften „nicht still bleiben, wenn ihre Glaubensbrüder in diesem Land Hass säen“, die übergroße, schweigende Mehrheit solle also nicht länger schweigen. Vor allem aber wird in diesen Tagen deutlich: Demokratie ist keine Schönwetter-Veranstaltung, Freiheit versteht sich nicht von selbst, Frieden ist nicht der Normalfall. Der berühmte „Ruck durch Deutschland“: Nie war er nötiger, nie schien er weiter entfernt.

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