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Streitgespräch - „Kein Islam ohne Islamismus“

Ist der Islam friedlich oder stiftet er zur Gewalt an? Über diese Frage streiten sich der Islamkritiker Hamed Abdel-Samad und die Islamwissenschaftlerin und Religionspädagogin Lamya Kaddor

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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LAMYA KADDOR legte gemeinsam mit Michael Rubinstein „So fremd und doch so nah – Juden und Muslime in Deutschland“ vor. Sie schrieb auch „Muslimisch, weiblich, deutsch! Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam“ und gab, gemeinsam mit Rabeya Müller, einen „Koran für Kinder und Erwachsene“ heraus. Sie ist Gründungsmitglied und Erste Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes e. V. und lehrte am „Centrum für Religiöse Studien“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

HAMED ABDEL-SAMAD gab im Juli 2014 bekannt, dass er Deutschland nach 19 Jahren verlassen werde: „Deutschland wird immer ungemütlicher für Menschen wie mich. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Warnung. Ja, ich bin müde geworden und kann den Druck nicht mehr aushalten.“ Im Sommer 2013 erließ ein ägyptischer Geistlicher einen Mordaufruf nach einem islamkritischen Vortrag Abdel-Samads in Kairo. Der Autor ( u. a. „Der islamische Faschismus“, „Mein Abschied vom Himmel“) habe den Propheten beleidigt

Herr Abdel-Samad, sind Sie eigentlich noch Muslim?
Hamed Abdel-Samad: In einem konfessionellen Sinn gewiss nicht, kulturell schon eher. Ich habe mir den Islam nicht ausgesucht, aber er fließt gewissermaßen durch meine Adern. Ich bekomme ihn nicht los.

Ist es denn überhaupt möglich, aus dem Islam auszutreten?
Lamya Kaddor: Das kommt auf die Perspektive an und wie man einen solchen Austritt versteht. Viele islamische Theologen bejahen dieses Recht, andere lehnen es ab.
Abdel-Samad: Das ist typisch für den Islam. Man findet immer jemanden, der haarklein begründet, warum eine Sache so und nicht anders sein müsse – und man findet jemanden, der das Gegenteil ebenso islamisch begründet.
Kaddor: In allen Religionen gibt es verschiedene Interpretationen. Das ist nichts Besonderes.
Abdel-Samad: Nur der Islam aber tritt mit dem Anspruch auf, er sei das letzte und endgültige Wort Gottes. Wenn Gott im Koran ein für alle Mal gesprochen haben soll, muss ich erwarten können, dass er sich eindeutig äußert. Das tut er aber nicht. Der Koran steckt voller innerer Widersprüche. Sie bilden den Keim für die blutigen innerislamischen Schlachten, die unmittelbar nach Mohammeds Tod begonnen haben. Ein Gott, der so etwas wollen kann, wäre ein Psychopath.
Kaddor: Geht es auch ohne Polemik? Wir müssen uns schon die Mühe machen zu differenzieren. Der Koran fordert dazu auf, selbst nachzudenken.
Abdel-Samad: Wenn mich mein Nachdenken aber dazu verleitet, den Islam verlassen zu wollen, hört der Spaß sofort auf.

Aber warum geschieht dieses eigenständige Nachdenken so selten? Gegenwärtig gewinnen weltweit jene Kräfte an Einfluss, die den Koran wörtlich und sehr rigide auslegen.
Kaddor: Auch ich bin mit der Praxis des Islam in weiten Teilen der arabischen Welt ziemlich unzufrieden. In den letzten Jahrhunderten hat sich der Islam dort leider eher zurückentwickelt.
Abdel-Samad: Das gilt nicht nur für die letzten Jahrhunderte. Sobald die Scharia herrscht, ist es vorbei mit Toleranz und Pluralität.
Kaddor: Stopp! Es gibt gar nicht die eine Scharia, sondern sehr unterschiedliche Verständnisse und Umsetzungen.
Abdel-Samad: Das mag stimmen, aber es schält sich doch eine gemeinsame Idee heraus. Egal, ob es sich um Schiiten oder Sunniten handelt, ob wir nach Iran oder Saudi-Arabien schauen, ob wir Boko Haram, Hamas, Hisbollah, die Schabab-Miliz oder Isis fragen: Überall bedeutet die Scharia, dass die Bevölkerung im Namen Gottes bevormundet wird und dass körperliche Strafen und ein auf den Mann zugeschnittenes Familienrecht eingeführt werden.
Kaddor: Natürlich gibt es diese Auswüchse, und diese zu bekämpfen, ist ein Anliegen aller gesellschaftlichen Akteure. Wir tun uns aber keinen Gefallen, wenn wir die islamophobe Karte spielen und jede Fehlentwicklung dem Islam anlasten. Leider unterscheidest auch du nicht zwischen Islam und Islamismus.

Kann es da denn eine scharfe begriffliche Trennlinie geben?
Abdel-Samad: Ich bezweifle es sehr stark. Derzeit sind, wenn ich es recht sehe, 57 Staaten Mitglied der Islamischen Konferenz. Kein einziger ist eine islamismusfreie Zone. Es gibt eben leider keinen Islam ohne Islamismus.
Kaddor: Es ist auch keine besondere Glanzleistung, aus einer Religion deren Gewaltpotenzial herauszufiltern und darauf eine recht simple Ideologie zu gründen.
Abdel-Samad: Das Gewaltpotenzial ist das stärkste Angebot des Islam. Das Friedenspotenzial ist viel schwächer ausgeprägt.
Kaddor: Du machst es dir schon wieder zu einfach. Wir müssen das Friedenspotenzial des Islam allein schon deshalb anerkennen, weil sich große Teile der Weltbevölkerung zu diesem Glauben aus spirituellen, nicht aus politischen oder sonstigen Gründen bekennen. Sie finden im Islam ein Menschen- und ein Gottesbild, das sie überzeugt, sie finden Trost und Hilfe in oft sehr schwierigen Situationen, eine Ethik des gelebten Miteinanders.

Der Islam hat keine besondere Affinität zur Gewalt?
Kaddor: Nein, aber er hat einen besonders realistischen, ja pragmatischen Blick auf Gewalt. Es gab kämpferische Auseinandersetzungen in dessen Frühzeit, und Gott hat Mohammed tatsächlich erlaubt, Gewalt anzuwenden. Es ist aber immer Gewalt unter bestimmten Voraussetzungen und nach bestimmten Regeln. Die Abhandlungen der Religionsgelehrten sind voll davon. Blinde Gewalt gibt es selbst im Dschihad nicht.
Abdel-Samad: Genau das ist der Kern des Problems. Der Koran verteufelt Gewalt nicht, sondern schafft lediglich Regeln der Gewaltanwendung.

Derzeit erleben wir sehr starke innerislamische Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten. Das Morden, so scheint es, will nicht enden. Ist eine solche Gewalt von Muslimen an Muslimen eigentlich vom Koran gedeckt?
Abdel-Samad: Es gibt einen Vers im Koran, der besagt: Wenn zwei Gemeinschaften unter euch gegeneinander kämpfen, dann kämpft gegen diejenige, die ungerecht ist, bis sie umkehrt.
Kaddor: Es gibt aber auch einen Ausspruch des Propheten, wonach sich im Dschihad der Muslim gegen einen Nichtmuslim zur Wehr setzen kann. Ich möchte einen solchen Dschihad keineswegs rechtfertigen, aber auf den Unterschied hinweisen.
Abdel-Samad: Der Islam gibt sich nur so lange friedlich, wie er in der Minderheit ist. In Mekka fand Mohammed freundliche Worte für Juden und Christen, in Medina, mit Staat und Armee im Rücken, rief er dazu auf, die Ungläubigen zu töten. Wer sich nur auf die friedliebenden Passagen im Koran beruft, macht es im Grunde nicht anders als die Fundamentalisten, die zur Begründung ihres Anspruchs nur die Passagen aus Medina gelten lassen.
Kaddor: Da muss ich widersprechen. Mein liberales Verständnis vom Islam geht nicht davon aus, dass ich die alleinige Wahrheit gepachtet habe. Ich werbe für mehr innerislamische Pluralität und muss darum tolerieren, dass es auch fundamentalistische Sichtweisen und Ausübungen gibt.

Hoffen Sie, dass diese Fundamentalismen mittelfristig verschwinden?
Kaddor: Das war meine Hoffnung für Ägypten, für Syrien, für Tunesien. Im Moment habe ich diese Hoffnung nicht. Oft ist es ein erbitterter Streit um Macht und um Territorien, weniger um Religion. Isis aber kämpft bereits gegen Christen und andere Minderheiten, sodass ich befürchte, die nächste Stufe der Eskalation wird der konfessionelle Kampf sein bis aufs Blut.
Abdel-Samad: Es ist ein Kampf um Identitäten, und Religion ist der Hauptmotor jeder Identitätsbildung in diesen Regionen. Sie bestimmt die Art und Weise, wie über Politik, über Bildung, über Familie und Erziehung nachgedacht wird.
Kaddor: Es gibt ja auch keinerlei funktionierende Zivilgesellschaft. Zudem haben die Menschen in Ägypten und Syrien momentan andere Probleme, als wir sie hier verhandeln.

Umfragen deuten darauf hin, dass auch hierzulande junge Muslime sich zunehmend radikalisieren. Sind das Rückkopplungseffekte?
Kaddor: Solche Effekte gibt es. Allerdings werden da nicht fromme Menschen plötzlich besonders fromm, sondern Menschen in Identitätskrisen, oft in der späten Pubertät, suchen nach einem Halt in der Transzendenz. Die Botschaft der Salafisten fällt bei solchen Jugendlichen auf fruchtbaren Boden.

In der Regel sind es junge Männer, die sich radikalisieren. Ist der Islam eine Machoreligion? Sie, Herr Abdel-Samad, haben in Ihrem Buch „Islamischer Faschismus“ vorgerechnet, dass einem Gotteskrieger 5040 Frauen zur Belohnung im Paradies versprochen werden.
Abdel-Samad: In der Tat. Der Koran schweigt sich dazu aus, in den Sprüchen des Propheten aber wird mehrfach der Märtyrerlohn von 72 Jungfrauen erwähnt. Jede Jungfrau hat wiederum 70 schöne Dienerinnen, ergibt summa summarum 5040 Frauen pro Märtyrer.
Kaddor: Der Islam ist nun einmal eine patriarchalisch ausgerichtete Religion, das lässt sich nicht weginterpretieren. Gott sprach vor 1500 Jahren zu einer männlich dominierten Gesellschaft.
Abdel-Samad: Vielleicht sollten wir sagen, ein Mann sprach zu Männern. Von Gott hätte ich erwartet, dass er genügend Weitsicht besitzt, um nicht nur die damalige Gesellschaft, sondern die Menschheit als solche im Blick zu haben.

Haben Sie, Frau Kaddor, ein Problem mit diesem Patriarchalismus?
Kaddor: Aber natürlich! Ich muss einfach in Rechnung stellen, dass Gott immer in Kontexten spricht, und dass der damalige Kontext eben eine Gesellschaft der Zeltbewohner war, in der der Mann das Sagen hatte. Andererseits hat der Islam die Position der Frau gestärkt. Frauen durften nun erben und vererben, arbeiten und Geld besitzen.
Abdel-Samad: Der Koran erlaubt den Männern, widerspenstige Frauen zu schlagen. Sie sollen den Männern immer zur sexuellen Verfügung stehen, sie werden als sein „Saatfeld“ bezeichnet. Tut mir leid, aber der Gott des Korans fällt hinter Aristoteles und Platon zurück, die Jahrhunderte vor Mohammed viel vernünftiger und aufgeklärter argumentiert haben.
Kaddor: Noch einmal zum Mitschreiben, lieber Hamed: Mohammed wäre gar nicht angenommen worden, wenn er einer sehr patriarchalisch geprägten Gesellschaft die gleichen Rechte und Pflichten von Männern und Frauen verkündet hätte. Ich wundere mich doch sehr, dass du die Aussagen des Korans genauso wörtlich interpretierst wie deine Gegner, die Islamisten und Fundamentalisten. Und gleichzeitig als aufgeklärt gelten willst. Wer sagt mir persönlich denn, dass ich mich 100-prozentig und in jedem Detail an den Koran binden muss? Die Sklaverei etwa und auch die Vielehe sind für mich heute inakzeptabel. Ich trage auch, wie du siehst, kein Kopftuch. Der Koran ist und bleibt eine Offenbarung, die den Menschen konsequent dazu auffordert, selbst nachzudenken. Es gibt kein zentrales Oberhaupt mit der Autorität, dir eine solche gedankliche Arbeit abzunehmen. Zahlreiche Verse sind heute einfach nicht mehr anwendbar und erfüllen ihren Sinn auch nicht. Man kann ein guter Moslem oder eine gute Muslima sein, wenn man vielleicht nur 50 Prozent der koranischen Bestimmungen erfüllt.
Abdel-Samad: Das kannst du doch aber nur sagen, weil du in Europa aufgewachsen bist und in keiner islamischen Mehrheitsgesellschaft. Hier kannst du es dir erlauben, die Rosinen gewissermaßen aus einem versteinerten Kuchen herauszupicken. Ich bleibe dabei: Der Koran ist das stärkste Buch, das die Menschen daran hindert, kritisch zu denken. Denn wer kritisch über den Islam nachdenkt, ist seines Lebens nicht mehr sicher. Ich weiß, wovon ich rede.
Kaddor: Du argumentierst nach demselben Muster wie die Fundamentalisten. Für dich gibt es nur den 100-prozentigen oder gar keinen Moslem. So ist es aber nicht.
Abdel-Samad: Wenn ich den Koran ernst nehme, ist es sehr wohl so. Gott soll laut Koran auf jede Schulter jedes Gläubigen einen Engel gesetzt haben, einen rechts und einen links, die alles protokollieren, fast wie die Gestapo. Wer mit solchen Überzeugungen aufwächst, fühlt sich 24 Stunden am Tag überwacht. Wie soll da kritisches Denken entstehen? Wer Gott nicht folgt, schmort in der Hölle: Das ist die Quintessenz dieser Religion.
Kaddor: Das ist die Quintessenz jeder Religion. Jede Religion will dem Menschen eine verbindliche Richtlinie für sein Leben vorgeben. Die Bekämpfung von Andersgläubigen steht in keiner Religion an erster Stelle.
Abdel-Samad: Darum muss jede Religion relativiert werden – besonders aber die Vorstellung eines heiligen Textes, der von Gott gesprochen und niemals verfälscht worden sein soll.
Kaddor: Ein solcher heiliger Text birgt Gefahren, aber er gibt auch jedem Einzelnen die große Gelegenheit, mit ihm verantwortungsvoll umzugehen. Ich versuche das, indem ich ihn kontextualisiere, ohne beliebig zu werden.

Damit dürften Sie einem recht exklusiven Club angehören.
Abdel-Samad: Es ist immer leichter, einen Text wortwörtlich zu befolgen, als ihn in verschiedene Kontexte zu setzen. Darum haben es aufgeklärte Muslime so schwer. Sie dringen einfach nicht durch. Durch die gesamte islamische Geschichte zieht sich das Bild eines Gottes, der bestraft, aber nicht infrage gestellt werden darf. Alle Diktatoren dieser Welt haben ihn sich zum Vorbild genommen.
Kaddor: Wir sollten bei aller berechtigten Kritik an einem solchen Bild aber bitte nicht vergessen, dass in vielen Religionen Gott eine herausfordernde Gestalt ist.
Abdel-Samad: Ja, auch im Alten Testament, auch in hinduistischen Texten wird Gewalt propagiert. Das Problem ist deshalb nicht der Text an sich, sondern dessen Stellenwert innerhalb der Gemeinschaft. Wenn die Mehrheit der Gläubigen davon ausgeht, dieses Wort Gottes sei bindend für alle Zeiten, haben wir ein Problem. Eine solche Sichtweise ist Sprengstoff.

Wird sich daran je etwas ändern?
Kaddor: Ich stimme zu, dass weniger die Inhalte als die Vermittlung und das Verständnis problematisch sind. Deshalb engagiere ich mich in der Religionspädagogik für ein anderes Gottesbild, für einen Gott, der von den Menschen verlangt, gerecht und gut zu sein, sich um Arme, Unterdrückte, Witwen und Waisen zu kümmern, Sklaven freizukaufen und Mädchen und Frauen genauso zu lieben und zu respektieren wie Jungen und Männer. Das gibt der Koran nämlich auch her. Die Muslime müssen, wie im Judentum und im Christentum, das Bewusstsein für Pluralität entwickeln. Wir müssen eine Jugend heranziehen, die kritisch und mündig mit Religion umgeht. Das ist systematisch die ganzen letzten Jahrhunderte nicht gemacht worden, weder in der islamischen noch in der westlichen Welt. Ohne religiöse Mündigkeit wird es aber keinen religiösen Frieden geben.
Abdel-Samad: Das will ich gerne glauben. Doch es wäre schön, wenn auch die Menschen, die an den Koran nicht glauben, in Frieden leben könnten. Europa wäre nicht so weit gekommen, wie es gekommen ist, wenn Immanuel Kant und John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Voltaire ihre Gedanken nicht hätten öffentlich äußern dürfen. Es muss eines Tages auch möglich sein, in der Öffentlichkeit und nicht nur in den eigenen vier Wänden den Islam zu kritisieren, sich zu ihm zu bekennen oder sich von ihm abzuwenden. Ich hoffe, ich werde es noch erleben.

Fotos: Antje Berghäuser

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