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Politikverdrossenheit - Warum wir eine Wahlpflicht brauchen

Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen hat seinen Rücktritt mit dem „enttäuschenden Wahlergebnis“ begründet. Grund für die SPD-Niederlage war auch die niedrige Wahlbeteiligung. Es wäre daher Zeit, über eine Wahlpflicht nachzudenken. Das mag unsympathisch und anstrengend sein. Aber Anstrengung ist konstitutiv für das Funktionieren einer Demokratie

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Michael Lühmann, geboren 1980 in Leipzig, Politikwissenschaftler und Historiker, lebt und arbeitet in Göttingen. Zuletzt ist von ihm das Buch "Der Osten im Westen – oder: Wie viel DDR steckt in Angela Merkel, Matthias Platzeck und Wolfgang Thierse?" e

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In Bremen beobachtet man dieser Tage einen weiteren, vermeintlich traurigen Rekord: Nur etwa die Hälfte der Wählerinnen und Wähler verschlägt es überhaupt noch in die Wahllokale. Das Wegbleiben von der Wahlurne ist inzwischen zur traurigen Realität einer auf Partizipation angelegten Demokratie geworden. Schließlich, so der verbreitete antipolitische Affekt, bringe Wählen in Zeiten der „Alternativlosigkeit“ wenig bis nichts. Doch bisweilen wird unter Verweis auf die scheinbar selbstgefällige Politik kaschiert: Konsequente Stimmverweigerung sei auch Zeichen einer ermüdeten Wählerschaft, die sich selbstgerecht in der Demokratie eingerichtet habe.

Vergessen sind all jene Kämpfe, die erst zur Erringung des Wahlrechts ausgefochten werden mussten. Vergessen die großen Revolutionen, die den Herrschenden das Wahlrecht abgerungen haben. Zur Erinnerung: Bei der ersten freien Volkskammerwahl nach Ende der DDR-Diktatur vor 25 Jahren nutzten noch weit über 90 Prozent ihr Recht auf freie Wahl. Daran wieder zu erinnern, wäre eine mögliche und zugleich wichtige Funktion einer möglichen Wahlpflicht. Das mag man dann als Belehrung kritisieren. Aber Demokratie ist eben kein selbstverständliches Gut, sondern bedarf auch der alltäglichen Verteidigung – wenn schon nicht innerhalb der Parteien, so doch in der Wahlkabine.

Voraussetzungen für eine Wahlpflicht


Indes, die grassierende Politikverdrossenheit ist nicht nur ein Produkt einer ermüdeten Demokratie, sondern – diese Diagnose ist nun einmal nicht von der Hand zu weisen – auch eines sich immer mehr entfremdeten Verhältnisses von Politik und Wähler. Vielfach entstammen die politischen Eliten entrückten Lebenswelten. Der Kleinkrieg um politische Deutungshoheit in den sozialen Netzwerken oder den abendlichen Polit-Talks funktioniert ganz ohne Idee, ohne Erzählung, ohne Konzept. Zudem sind die Steuerungsprobleme des Politischen inzwischen vielfach determiniert durch Globalisierung und Internationalisierung, kurzum: wenig nachvollziehbar, wie TTIP, CETA und Co.

Hier sind Politik und Medien aufgefordert. Sie sollten politisches Handeln wieder erklären und vermitteln, wie in den Gründerjahren der Bundesrepublik durch die Generation der 45er. Zudem bedarf es wieder der Alternativen. Dem verbreiteten – und Verdruss erzeugenden – Eindruck des alternativlosen Vollzugs technisch-ökonomischer Zwänge durch die Politik muss wieder die Pluralität politischer Entwürfe entgegengestellt werden dürfen – grundsätzlich, ideologisch, emphatisch.

Denn Wahlpflicht setzt auch Wahlmöglichkeit voraus. Diese im medialen Diskurs wieder stärker in den Fokus zu rücken, ist eine zentrale Aufgabe von Politik und vierter Gewalt. Ansonsten droht, so der Politologe Ruud Koole, ein Schwund an „konstitutionellen Werten” zugunsten der „antipolitischen Momente“ einer Erregungs- und Empörungsgesellschaft, die zwangsläufig in populistischen Verwerfungen endet – AfD und „Pegida“ lassen grüßen.

Gradmesser der Demokratiezufriedenheit


Gleichwohl ließe sich bereits heute die Wahlpflicht auch ohne diese Voraussetzungen begründen. Denn Nichtwählen wird als politischer Akt in der Politik allzu häufig ignoriert, nicht selten in Sonntagsreden ausgelagert oder nach wenigen Tagen aufgeregter Diskussion um Verantwortlichkeiten auf den nächsten traurigen Nichtwählerrekord vertagt. Es mag ja sein, dass der Nichtwähler sich bei der Wahlenthaltung etwas denkt. Allein: Es kommt in der Politik nicht an. Der Rücktritt Börnsens ist hier eher die Ausnahme, deren weiterführende Konsequenzen offen bleiben.

Schließlich, weder Sozialismus noch Kapitalismus haben am Ende etwas am Status der sozial Zurückgelassenen verändert. Weder Schwarz-Gelb noch die große Koalition oder Rot-Grün zuvor haben den allgegenwärtigen Druck von der Mitte der Gesellschaft genommen. Keine Koalition hat entschiedene Antworten auf die multiplen Krisen gefunden, auf die des Euro, der Staatsfinanzen, des Klimas.

Hier könnte die Wahlpflicht womöglich einiges ändern. Denn einmal in der Wahlkabine, hat ein jeder Wähler, eine jede Wählerin eine probate Möglichkeit, Verdruss deutlich zu kennzeichnen: indem er oder sie ungültig wählt. Schon die DDR-Machthaber fürchteten (fast) nichts mehr als den Anteil der ungültigen Stimmen bei Wahlen. Und auch eine Demokratie wie die Bundesrepublik sollte Angst haben vor dieser Form des geballten Protests. Denn der zynische, hinter vorgehaltener Hand zu hörende Verweis, Nichtwählen könne auch eine Form der stillen Zustimmung sein, Ausdruck einer funktionierenden Demokratie nur eben ohne Wähler, dürfte dann obsolet werden.

Denn Nichtwähler zu akzeptieren, um obstruktive Protestwahlen zu verhindern, verschleiert lediglich die Entfremdung von der Demokratie. In der notwendigen Debatte um die Einführung einer Wahlpflicht liegt mithin nicht nur ein Auftrag an den Wähler, Verdruss per Wahlakt zu formulieren oder aus dem doch recht breiten Angebot von Linkspartei bis AfD zu wählen, sondern auch ein impliziter Auftrag an die Politik, diese Debatte überflüssig zu machen: Indem diese wieder anfängt, Politik mit Sinn und Gehalt zu füllen. Wenn man so will, sie mit Ideologie aufzuladen.

Denn nur wenn es Grundsätzliches, Politisches zu entscheiden gibt, machen Wahlen tatsächlich Sinn. Und das meint eigentlich nicht die Dauerbestätigung der Bremer Regierungskoalition.

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