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(picture alliance) Wer kümmert sich um unsere Kleinsten?

Fachkräftemangel - SOS im Kinderparadies

Mit einem Zehn-Punkte-Plan will die Bundesregierung den Krippenausbau forcieren. Nur lassen sich auch damit nicht über Nacht zigtausende neue Erzieherinnen backen. Die Kommunen denken nun über Billiglösungen nach – es droht ein folgenreicher Qualitätsverfall bei der Kinderbetreuung

Eigentlich ist Stefan Sell ein „glühender Anhänger“ der außerhäuslichen Kleinkinderbetreuung. Doch nun rüttelt der Koblenzer Universitätsprofessor an seiner eigenen gesellschaftspolitischen Festung. „Wenn wir unter den jetzigen Bedingungen an dem individuellem Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz festhalten, fahren wir im nächsten Jahr an die Wand“, warnt der Sozialwissenschaftler. Sells Angst: Wenn ab August 2013 Mütter und Väter einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz für ihre Kleinkinder gelten machen können, werden – Recht hin oder her – weit über 100.000 Mütter und Väter vergeblich nach einem Platz für ihre Jüngsten suchen. Weil die Politik den Kopf in den Sand gesteckt habe, sei das Betreuungsversprechen nicht zu halten, prognostiziert Sell und fordert eine zeitliche Streckung des Anspruchs auf einen Krippenplatz unter konkreten gesetzlichen Auflagen. Andernfalls  würden die Kommunen in ihrer Not zu einem „Billigausbauprogramm greifen mit Betreuungsplätzen unter skandalösen Bedingungen. Und das wäre das Schlimmste was passieren kann“, warnt der Koblenzer Professor, „damit versündigen wir uns an den Kleinsten. Wenn wir das so weiter laufen lassen kommen wir in den Bereich der Kindergefährdung“.

Starker Tobak. Mit seinem Vorstoß zum Aufweichen des Rechtsanspruchs macht sich der Sozialwissenschaftler wenige Freunde – nicht bei Politikern, die ein Versagen eingestehen müssten, nicht bei Sozialverbänden und schon gar nicht bei Familien, die im Vertrauen auf die Krippengarantie ihre Zukunft geplant haben. Aber zumindest in der alarmierenden Diagnose sind sich fast alle einig: Weil Bund, Länder und Kommunen sich beim Krippenausbau jahrelang den Schwarzen Peter zugeschoben haben, blinkt es nun hektisch „SOS“ aus dem Kinderparadies. Denn vierzehn Monate vor der geplanten Einlösung des harten politischen Großversprechens für ausreichende Krippenplätze fehlt vor allem die Software, das qualifizierte Betreuungspersonal.

Wie groß der Erzieher-Notstand tatsächlich ist, darüber streiten Experten. Verlässliche Zahlen zu ermitteln, hat die Politik schlicht verschlafen. Rund 20.000 ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher werden zum Stichtag am 1.8.2013  in den westdeutschen Bundesländern fehlen, hat das Deutsche Jugendinstitut in einer gerade aktualisierten Studie ermittelt. Das ist die optimistisch gefärbte Prognose. Andere Wissenschaftler kommen auf einen deutlichen höheren Fehlbedarf. Vor allem bei den Tagesmüttern und –vätern, die nach den Vorgaben der Politik 30 Prozent des Betreuungsangebots stellen sollten, klafft bisher eine mächtige Lücke. Einig sind sich die Experten aber in einem Punkt: All ihre Prognosen sind allein rechnerische  Größen. In der Praxis wird der Personalnotstand noch weit größer als er auf dem Papier steht und regional schwer kalkulierbar. Denn einer Mutter, die in Regensburg auf Platz 217 der Krippenwarteliste steht, hilft es herzlich wenig, wenn in Kiel gerade mal eine Fachkraft zu haben ist. Um sich vor Klagen und Schadensersatzansprüchen abgewiesener Eltern zu schützen, so fürchten Experten nun, könnten die Kommunen zu Billiglösungen greifen: Masse statt Klasse – Gruppengrößen erhöhen, mit unausgebildeten Kräften Erzieherlücken stopfen. „Wir steuern auf ein massives  Qualitätsproblem bei der Kinderbetreuung zu“, warnt Norbert Hocke, Bildungsexperte der Gewerkschaft Erziehungs- und Wissenschaft, GEW.

Dabei ist die Politik sehenden Auges in dieses Desaster hineingeritten. Denn als Bund Länder und Kommunen 2007 eine Krippengarantie mit 500.000 neuen Betreuungsplätzen versprachen, war der Kraftakt durchaus planbar: Die Rekrutierung des zusätzlichen Krippenpersonal würde einen langen Vorlauf brauchen. Mindestens drei Jahre dauert die Erzieherausbildung und die Kapazitäten der Fachschulen sind begrenzt. Zudem gilt der Beruf nicht gerade als Hit: Geringe gesellschaftliche Anerkennung, steigende Arbeitsbelastung, dürftige Entlohnung. Inzwischen werben Wohlfahrtsverbände, Berufsorganisationen und Politik zwar mit Imagekampagnen und Weiterbildungsangeboten bei Schülern, Hausfrauen und ehemaligen Erzieherinnen für den Beruf. Auch die Besoldung hat sich leicht verbessert und die Zahl der Ausbildungsstätten ist in den letzten Monaten deutlich gewachsen. Doch das Quantum der Absolventen, man hätte es vorher berechnen können, deckt bei weitem nicht den Bedarf. Erst hat die Politik die vorausschauende Planung verpasst, und nun rennt sie mit einem Zehn-Punkte-Plan den eigenen Versäumnissen hinterher. Kurz vor Toresschluss soll jetzt eine Task-Force Vorschläge machen, wie man mehr Fachkräfte gewinnen und locken kann.

Doch auch mit noch so viel Geld und gutem Willen ließe sich bis zum August 2013 die Personallücke nicht mehr stopfen. Allein die Stadt München könnte von jetzt auf gleich 100 neue Erzieher einstellen – wenn sie sie denn finden würde. Längst konkurrieren zahlungskräftige Großstädte mit Lockangeboten und übertariflicher Bezahlung um die begehrten Fachkräfte. Doch die sind mittlerweile selbst in ländlichen Regionen knappes Gut. Der Markt ist leergefegt. Glück für die Erzieher, die sich ihre Jobs aussuchen können, Pech für die Eltern, und ein teurer Spaß für die Kommunen.

Denn die fürchten ab 2013 zu Recht eine Klagewelle von abgewiesenen Eltern. Aus Angst davor suchen einige nun die Flucht in Billiglösungen. Am Mittwoch, bei der Vorstellung des Zehnpunkteplans, bekräftigten die kommunalen Spitzenverbände ihre Forderung nach einer Kinderbetreuung light: Rund 5000 zusätzliche Zeitkräfte aus dem Bundesfreiwilligendienst sollten die Personallücke in den Krippen stopfen. Experten schlagen die Hände über den Kopf zusammen. „Ein absolut abenteuerlicher Vorschlag!“, wettert Matthias Ritter-Engel, Bildungsreferent der Arbeiterwohlfahrt, „das wäre eine Billiglösung,mit der wir auch noch die erfahrenen Fachkräfte aus dem Beruf vertreiben würden, denn auf die käme dann eine gehörige Mehrbelastung zu“. 

Angesichts des drohenden Qualitäts-Dumpings plädiert Sozialwissenschaftler Sell dafür, besonders belasteten Kommunen mehr Zeit zu geben bei der Einlösung des Krippenversprechens. Realistische Chancen hat sein Vorstoß kaum. Der politische Preis für ein gebrochenes Versprechen, kurz vor der Bundestagswahl 2013 wäre enorm. „Aber der andere Preis wäre noch viel brutaler“, argumentiert Sell. „ Mit einer qualitativ schlechten Betreuung der Kleinsten würden wir der guten Sache eher schaden. In ein paar Jahren hätten wir dann die gleichen Debatten wie über den Pflegenotstand in den Altenheimen – dieses Mal nur bei den Kleinsten.“ Rechtsanspruch aufweichen oder schlechte Kinderbetreuung? Eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Eltern kleiner Kinder sollten sich für 2013 am besten schon mal auf beides einstellen.

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