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Sommerloch - Alle fühlen sich sauwohl

Wenn alles, was aufregend, empörend, ablenkend und verstörend sein könnte, sich in den blauen Himmel verflüchtigt hat – dann ist man angekommen im Sommer. Denn der Sommer hat nichts mit dem Kopf zu tun. In Kooperation mit dem Tagesspiegel

Autoreninfo

Prosinger, Wolfgang

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Manchmal summt eine Melodie im Kopf und will einfach nicht aufhören. Manchmal können solche Ohrwürmer auch ganze Sätze sein. Nisten sich ein, drehen sich in einer Endlosschleife und geben keine Ruhe. Murmeln einen in den Schlaf, und beim Aufwachen sind sie schon wieder da. In diesen Tagen ist es dieser Satz: „Nichts sollte sie daran hindern, gerade hier und jetzt mit dem Glücklichsein anzufangen. Denn es war Sommer.“ Astrid Lindgren hat diesen Satz geschrieben. Vielleicht zählt er nicht zu den größten der Weltliteratur. Aber auf jeden Fall zu den erfreulichsten.

Eigentlich sind die Ereignisse dieses Sommers 2014, der jetzt schon zwei Wochen lang ein wirklicher Sommer ist und nicht nur ein grün angestrichener Winter, dazu angetan, jedes Glücklichsein zu verderben. Die Nachrichten aus der Ukraine, aus Israel, aus dem Irak führen von einem Entsetzen ins andere; und die Meldungen von prominenten Todesfällen wollen in diesen Wochen gar kein Ende nehmen. Dennoch können sie nicht verhindern, dass die Sonne auch jetzt ganz rücksichtslos ein Gefühl an den Tag bringt, das nur der Sommer schenkt: ein Gefühl der Überwältigung.

Diese Überwältigung ist durch nichts zu beeinflussen, durch nichts zu korrigieren, auch nicht durch das noch so dramatische Weltgeschehen. Denn sie hat nichts mit den Köpfen zu tun, sondern mit den Körpern. Und Körper sind unbestechlich, Körper irren sich nicht. Der Sommer legt sich direkt auf die Haut. Und davon hat der Mensch im Schnitt immerhin 1,73 Quadratmeter.

Das ist so unmittelbar, dass alles andere zurücktritt. Und die Welt verändert sich. Die Bewegungen verlangsamen sich, besonders die des Gehirns. Trägheit breitet sich aus, eine gedankenlose Schläfrigkeit. Was gestern noch wichtig und dringlich war, wird von der Hitze hinweggerafft. Ein Stillstand des Geistes und des Körpers stellt sich ein, Regelwerke werden außer Kraft gesetzt, etwa die für gesittete Kleidung. Alle laufen herum, wie sie wollen, alles wird zunehmend gleichgültig. Ein Zustand, der dem buddhistischen Nirwana gleicht, der Abwesenheit aller Unruhe, aller Wünsche, allen Denkens. Ein Zustand des Loslassens, der Befreiung. Oder zumindest des Wetterleuchtens der Freiheit. Weil nichts mehr anwesend ist, also nichts mehr hindert und beschränkt, scheint alles erreichbar zu sein, alles möglich.

Sommer ist Anarchie
 

Darum ist der Sommer eine subversive Zeit. Sommer der Anarchie. Aber er ist gleichzeitig eine Jahreszeit der Gefährdungen. Nicht nur, weil Menschen Hitze nicht unbegrenzt vertragen („Die Sonne, die Drecksau“ titelte einmal die „taz“), nicht nur, weil sich die Räder der Wirtschaft nicht mehr mit voller Kraft drehen, nicht nur, weil die Sonne viele zu einem Wagemut verleitet, der in anderen Jahreszeiten undenkbar wäre. Sondern auch weil die Regellosigkeit des Sommers, diese Überdosis Freiheit, für manche auch ein unerträgliches Gut ist. Wo viel erwartet werden kann, ist auch viel zu verlieren.

Nirgendwo ist diese Ambivalenz des Sommers treffender beschrieben worden als in dem Lied „Azzurro“, das Adriano Celentano auch bei den Deutschen bekannt gemacht hat. Die halten es wegen seines stampfenden Rhythmus für eine italo-fröhliche Schunkelweise und für einen Ausdruck mediterraner Lebensfreude. Das komplette Gegenteil ist richtig, das Lied erzählt von der grenzenlosen Traurigkeit, die eine enttäuschte Sommererwartung mit sich bringen kann. Melancholie des Sommers, Blues. Azzurro eben.

Der Sommer ist also viel mehr als eine Jahreszeit. Er ist die Erfüllung eines Wunsches, der schon im Winter beginnt, seinen Vorschein im Frühling erfährt und mit dem Erreichen des lange Ersehnten seine Glückseligkeit findet. Und zugleich Gefahr läuft, in jenes Loch zu fallen, das sich oft auftut, wenn Wünsche wahr werden. Ins Sommerloch.

Dabei könnte alles so einfach sein: Man liegt auf einer Liege, und das Wasser ist nah, das Meer, der See oder bloß ein Schwimmbeckenrand. Wenn man da also liegt und das behäbigste Buch der Welt liest, sagen wir Theodor Fontanes „Stechlin“, und auf Seite 150 bei dieser Lektüre noch immer ganz und gar zufrieden ist, weil alles, was aufregend, empörend, ablenkend und verstörend sein könnte, sich in den blauen Himmel verflüchtigt hat – dann ist man angekommen im Sommer.

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