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Schwarz und Rot über der Ruhr

Hannelore Kraft muss einen Machtwechsel in Düsseldorf herbeiführen, darauf setzt auch eine gebeutelte SPD im Bund. Die Wähler wollen Antworten auf ihre Zukunftsängste

Zurück zu den Wurzeln. Das ist unverkennbar das Leitmotiv der Sozialdemokraten in diesen Monaten – nicht nur, aber vor allem in Nordrhein-Westfalen. Auf sie kommt es 2010 erheblich an. Denn lediglich in Nordrhein-Westfalen, dem größten Bundesland dieser Republik immerhin, finden in diesem Jahr Landtagswahlen statt. Und alle Welt wird den Urnengang als eine Art Seismograf nehmen: für des Volkes Stimmung in Bezug auf die Regierungspolitik des Kabinetts Merkel / Westerwelle und eben für den Zustand der zuletzt kräftig gebeutelten deutschen Sozialdemokratie. Schließlich wird in einer klassischen Hochburg der SPD gewählt, in der Herzkammer dieser Partei. So jedenfalls lautet die gewiss auch in den nächsten Wochen allgegenwärtige Metapher; so ist der Mythos. Nordrhein-Westfalen diente allen Kommentatoren stets als probate Folie, wenn sie den Auf- und Abstieg der SPD in Deutschland zu erklären versuchten. Den Sozialdemokraten, hieß es dann, ging es gut, als die Welt der Berg- und Stahlarbeiter noch intakt war, als die Schlote im Ruhrgebiet noch rauchten. Doch dann schwand die Bedeutung der altindustriellen Wirtschaftszweige; die Zechen wurden geschlossen, die Hochöfen blieben kalt. Und der SPD ging ihr traditionelles Milieu verloren. In der Folge schmolz ihr auch die Wählerbasis weg. So wird die Geschichte wieder und wieder erzählt. Aber die wirkliche Historie verlief doch anders. In den großen Jahrzehnten der deutschen Industriegesellschaft, zwischen den 1870er und 1950er Jahren, waren gerade die Städte an Ruhr und Emscher Diasporagebiete für die Sozialdemokratie. Die Partei von August Bebel und Kurt Schumacher fand hier nur weit unterdurchschnittlich Mitglieder; bei Wahlen hatte sie in der Regel das Nachsehen gegenüber der Partei der Katholiken (oder den Kommunisten). Bezeichnenderweise lag die CDU auf dem bundesrepublikanischen Zenit der Kohleproduktion im Jahr 1958, als noch 400000 Bergleute einfuhren, in Nordrhein-Westfalen um 11,3 Prozentpunkte vor der SPD und war im Besitz der absoluten Mehrheit. Doch anschließend verfiel, peu à peu, die altindustrielle Welt zwischen Duisburg und Dortmund. Und dann, erst dann, begann hier die nun folgende rund 40-jährige Hegemonie der SPD. Sie wurde zur Partei, welche die überkommene Industriegesellschaft abwickelte, wurde zur Partei der Sozialpläne, der Betreuung der kleinen Leute. Der sozialdemokratische Funktionär agierte als Patron und Samariter. Er kümmerte und sorgte sich, löste Wohnungsprobleme, verschaffte den Töchtern und Söhnen aus Bergarbeiterfamilien einen Ausbildungsplatz im öffentlichen Dienst, brachte Oma und Opa in Pflegeheimen unter. Und der oberste, rundum kongeniale Repräsentant des Barmherzigkeitssozialismus war Johannes Rau, der Ministerpräsident von Rheinländern und Westfalen in diesen guten Zeiten der SPD. Daran war vieles durchaus verdienstvoll. Aber es war doch ein prononciert patriarchalisches Politikmuster, durch das die Adressaten an den Anspruch auf fürsorgliche Zuwendung gewöhnt wurden, sich nicht eigentlich als Subjekte selbstbewusst-emanzipatorischen Tuns gefordert sahen. Indes: So zieht man rasch nörgelnde Konsumenten der Politik heran, nicht aber vitale Akteure der programmatisch gern gepriesenen Bürgergesellschaft. Und das paternalistische Kümmermodell hatte auch ökonomisch einen hohen Preis. Es waren schließlich nicht nur neoliberale Boshaftigkeit oder individuelle Kälte, die Wolfgang Clement und Peer Steinbrück zu einem Bruch der Methode Rau nötigten. Allerdings erfolgte die Kehrtwende der beiden jäh, nahezu brutal. Über Jahrzehnte hatten die Sozialdemokraten ihren Anhängern beschwichtigend zugerufen: „Wir kümmern uns schon.“ Nun verlangten Clement und Steinbrück mit schneidiger Stimme: „Sorgt für euch selbst; ergreift Initiative; lernt, bildet euch fort; übernehmt Eigenverantwortung für euren Lebensplan.“ So hatte in den Jahren von Johannes Rau niemand in der SPD zu ihnen gesprochen. So hatten sie es nie gelernt. Daher reagierten die einstigen Getreuen zunächst verunsichert, dann mürrisch, am Ende trotzig. Sie schmollten über ihre alte Partei, weigerten sich, weiterhin zur Wahl zu gehen. Das bot Jürgen Rüttgers die Chance auf den Machtwechsel, erst in vielen Kommunen, dann im Land – und die Gelegenheit, sich das Kostüm des „Arbeiterverstehers“ überzuhängen und das Erbe Raus für sich zu reklamieren. Die SPD fiel tief in dieser Region, die zwar ihr Stammland nicht war, aber eine vorübergehende Domäne doch hatte werden können. Vor allem die vergangenen zehn Jahre, als im Bund die eigenen Leute regierten, waren traurig für die Sozialdemokraten zwischen Köln und Bielefeld. Man begrüßte sie an den Infoständen in den Einkaufsstraßen nicht mehr als „Schutzmacht der kleinen Leute“, sondern betrachtete sie als „Verräter am kleinen Mann“. Als Vertreter der Hartz-IV-Partei mussten die sozialdemokratischen Funktionäre Schimpf und Schande ertragen. Damit aber soll es nun vorbei sein. Die Partei werde sich wieder „neu erden“, verspricht die Chefin der NRW-SPD Hannelore Kraft. Auf dem Zukunftskongress der Sozialdemokraten Ende des vergangenen Jahres zeigte sie sich stolz mit Rudolf Dressler, dem alten Haudegen traditioneller Sozialpolitik. Kurzum: Die reichlich dezimierte sozialdemokratische Karawane zieht es zurück – zurück in das Jahr 1997, als Nordrhein-Westfalen, ihr Nordrhein-Westfalen, gleichsam der politische Betriebsrat gegenüber der schwarz-gelben Unternehmensführung damals noch in Bonn war. Das „rote NRW“ als Korrektiv und Widerpart zu den bürgerlichen Regierungsparteien der sozialen Kälte – mit diesem Selbstbild wollen sich die Sozialdemokraten nun wieder regenerieren. Natürlich bedeutet das mehr die Flucht nach hinten als den kühnen Sprung nach vorne. Aber einige Sorgen muss sich Jürgen Rüttgers in den nächsten Wochen schon machen. Denn die machtpolitisch erfolgreich endenden Wahlkämpfe von Angela Merkel 2009 oder von Christian Wulff 2008 kann er nicht kopieren. Merkel und Wulff reüssierten, indem sie den Wahlkampf gewissermaßen ausfallen ließen, da sie verhindern wollten, durch Polarisierung und Emotionalisierung die in ihrer Frustration deaktivierten früheren sozialdemokratischen Wähler wieder mit in Bewegung zu setzen. Rüttgers aber muss die nun ebenfalls verdrossenen Wähler aus dem bürgerlichen Lager in Stimmung bringen, will er eine Mehrheit erzielen. Doch mit der Mobilisierung der eigenen Truppen, durch Zuspitzung und Kontrastierung rüttelt er zugleich auch die zuletzt den Wahlgang meidenden SPD-Wähler auf. Die Kampagne der einen leitet Wasser auch auf die Aktivierungsmühlen der anderen, denen zuvor die Mobilisierung kaum noch gelang. Und im Unterschied zum Bundestagswahlkampf von Steinmeier/Müntefering dürfen die Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen jetzt auch wieder forsche Attacken gegen die klassischen Feinde, die Schwarzen eben und die Klientelpartei FDP, mit Verve und Wonne reiten. Eine ganz und gar schlechte Ausgangslage jedenfalls ist es also nicht, um die Wahlen in NRW zu einer Art Plebiszit über die Politik der Hotelierpatronage, der Kopfpauschale und anderer „sozialer Sauereien“ zu gestalten. Dazu kommt noch der auch in Nordrhein-Westfalen mächtig angestiegene Verdruss gerade der gesellschaftlichen Mitte über die Schul- und auch Universitätspolitik von CDU und FDP. Rundum ohne Zuversicht und Perspektive müssen die Sozialdemokraten jedenfalls nicht dem Wahltermin entgegensehen. Andererseits: Die Wiedererstehung der flächendeckend verwurzelten sozialdemokratischen Kümmerpartei steht gewiss nicht an. In den vergangenen zwanzig Jahren hat die SPD in NRW über fünfzig Prozent ihrer Mitglieder verloren. Auch auf der Führungsebene fehlt es der Partei an Köpfen. Im Mittelbau ist der Typus des bodenständigen, dabei aber ehrgeizigen, alltagsklugen Funktionärs rar geworden. Und die Ortsvereinskultur ist nur für extreme Nostalgiker oder Ethnologen seltsamer Geselligkeitsformen erträglich. Am 9. Mai geht es nicht um sozialdemokratische Renaissancen. Der Wahlsonntag, genauer: der Abend und die dann folgenden Tage werden vielmehr zum Testfall für Elastizität und die Fähigkeit zum politischen Bündnis. Der erfahrene parlamentarische Taktiker Jürgen Rüttgers kann das Spiel gewinnen. Aber Frau Kraft hat es noch nicht verloren.

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