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Satter, träger Wohlfahrtsstaat - Ein Land leidet unter Realitätsverlust

Kolumne Grauzone: Wir sollten in Alarmstimmung sein: Sinkende Produktivität, mangelnde Investitionen und überbordende Sozialleistungen bedrohen unseren Wohlstand. Deutschland im Jahr 2015 verteilt nicht das Fell des Bären, bevor er erlegt wurde, sondern das des Einhorns – also von etwas, was es nie geben wird

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Deutschland im Mai 2015: Die Lokführer streiken, die Erzieherinnen in öffentlichen Kindertagesstätten streiken, und die Post streikt irgendwie auch andauernd. Wann streiken eigentlich endlich die Piloten mal wieder? Zu Beginn der Sommerferien?

Szenewechsel: Anfang des Jahres wurde ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. Der kostete schon in den ersten Monaten zehntausende Nebenerwerbsjobs, wird aber von der verantwortlichen Ministerin als großer Erfolg gefeiert.

Gleichzeitig beglückt dieselbe Ministerin unsere alternde Gesellschaft mit der Rente ab 63. Dass Facharbeiter heute schon Mangelware sind, ist dabei gleichgültig. Und dass Statistiker davon ausgehen, dass das Renteneintrittsalter langfristig auf 74 angehoben werden muss, damit das System nicht kollabiert, juckt auch keinen.

„Schwarze Null“ nur dank absurd niedriger Zinsen


Da man aber schon mal dabei ist, Milliarden zu verbrennen, verfolgt dieses Land stur eine so genannte „Energiewende“, die ökologisch fragwürdig ist, technischer Unfug und wirtschaftlicher Wahnsinn: sie nötigt den Verbraucher, Strom zum Vielfachen seines tatsächlichen Marktwertes zu kaufen.

Runden wir das Bild weiter ab: Der Bundeshaushalt für dieses Jahr ist mit 299 Milliarden Euro (!) veranschlagt. Dass Schäuble eine „schwarze Null“ verkünden kann, hat er (und vor allem wir Steuerzahler) nicht vorausschauender und verantwortungsvoller Finanzplanung zu verdanken, sondern absurd niedrigen Zinsen. Jeder Zinsanstieg würde die Haushaltsplanung für die nächste Jahren zur Makulatur machen und Milliardenlöcher reißen – trotz der optimistischen Einschätzung der Wirtschaftsentwicklung, die ihr zugrunde liegt.

Den Löwenanteil an Steuergeldern verschlingt traditionell das Ministerium für Arbeit und Soziales: dieses Jahr etwa 125 Milliarden Euro, was – nebenbei bemerkt – etwa dem Gesamthaushalt der alten Bundesrepublik von 1985 entspricht.

Aufwendungen für Sozialversicherungen: 267 Prozent des Bundeshaushaltes


Alles in allem geben der Staat und die Sozialversicherungen jedes Jahr schicke 800 Milliarden Euro (!) für soziale Leistungen aus. Das sind gut 267 Prozent des Bundeshaushaltes.

Man könnte diese oder ähnliche Spielchen noch endlos weiter spielen. So lang, bis einem schwindlig wird und die Zahlen vor den Augen tanzen. Doch es ist wichtig, einen klaren Blick zu behalten. Denn Deutschland steht vor einer Zäsur.

Der momentane Aufschwung verdankt sich weniger wirtschaftlicher Kraft als günstigen Rahmenbedingungen. Angesichts von Nullzins und niedrigen Energiepreisen ist die Situation im Grunde überaus ernüchternd.

Und anstatt die Chance zu nutzen, das Schiff in wirtschaftlich ruhiger See sturmfest und unwettertauglich zum machen, ist man mit Feuereifer dabei, es in ein seeuntaugliches Museumsschiff umzubauen.

Doch der Sturm wird kommen: Irgendwann werden die Energiepreise wieder steigen, ebenso die Zinsen, und die demografische Entwicklung wird in wenigen Jahren in aller Härte durchschlagen. Letzteres etwa wäre durch eine Steigerung der Produktivität abzufedern. Aber genau hier hakt es: Seit den 70er Jahren sinkt das Produktivitätswachstum in Deutschland kontinuierlich – für eine Wirtschaftsnation wie Deutschland ein Alarmsignal.

Dazu passt, dass die Investitionsquote in Deutschland seit den 90er Jahren beständig sinkt. 2013 investierten deutsche Unternehmen trotz billigen Geldes nur 1,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes – ein Drittel des Wertes zur Jahrtausendwende.

Hinzu kommt, dass der aktuelle Erfolg der deutschen Industrie im Wesentlichen auf Techniken des 19. Jahrhunderts basiert: Automobile, Chemie, Maschinen. Zukunftstechniken? Fehlanzeige. Schlimmer noch: Es herrscht eine Klima ausgeprägter Wissenschaftsfeindlichkeit. Für eine Forschungs- und Technologienation wie Deutschland eine Katastrophe.

Völlige Problemblindheit


Man soll das Fell des Bären nicht verteilen, bevor er erlegt wurde, heißt ein altes Sprichwort. Doch im Deutschland des Jahres 2015 ist man sogar noch einen Schritt weiter: Wir verteilen zurzeit das Fell des Einhorns – also etwas, was es nie geben wird.

Die Ursachen dafür liegen in der Psychologie: Menschen können sich bemerkenswert gut an ihre Lebensumstände anpassen. Im Falle ein Unglücks ist das ein Segen: Menschen in schwierigen Lebensumständen sind auch nicht unglücklicher als Menschen in vergleichsweise günstigen Situationen.

Umgekehrt funktioniert das aber auch: Menschen, denen es besser geht, die wohlhabender sind oder abgesicherter, sind nicht glücklicher. Das subjektive Problemempfinden nimmt mit objektiver Problemarmut nicht ab. Wer kaum Probleme hat, neigt dazu, kleine Widrigkeiten oder Pseudoprobleme aufzubauschen.

Ähnlich funktioniert das in Gemeinschaften. Und das führt zu Problemblindheit: Nebensächlichkeiten werden zu Fragen enormer Bedeutung hochstilisiert. Man verbeißt sich in unbedeutenden Kleinigkeiten, etwa in soziale Ungleichheiten, die zu moralischen Skandalen hochgejazzt werden. Wirklich dringende, mittelfristige Probleme werden deshalb übersehen. So berauben sich Gesellschaften ihrer Zukunftsfähigkeit.

Anders als Individuen sind Gemeinschaften jedoch ziemlich beratungsresistent. Bei ihnen hilft leider meist nur eines: die unsanfte Landung in der Wirklichkeit.

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