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Replik: „Wo steckt denn nun das Volk" - Das Volk, der Souverän und das Einwanderungsland Deutschland

Die Identität des Deutschen Volkes war schon immer vielfältig, einem permanentem Wandel unterworfen. Sie wurde von vielen Einwanderungswellen geprägt. Wer dagegen ein kulturell homogenes Staatsvolk konstruiert, argumentiert geschichtsvergessen und weltfremd. Eine Replik auf Alexander Kissler

Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Seit die Bewohner eines kleinen Dorfes in Sachsen sich Mitte Februar vor einen Bus mit Flüchtlingen stellten, die Fäuste ballten und „Wir sind das Volk“ skandierten, wird in diesem Lande wieder einmal die Volksfrage diskutiert. Die Diskussion ist nicht ganz einfach, denn in Deutschland gleitet diese schnell mal ins Unappetitliche ab. Gerade in Wochen und Monaten, in denen manche konservative Politiker, Juristen und Intellektuelle das Land angesichts der Flüchtlingskrise ganz grundsätzlich in Gefahr wähnen.

So stellte auch mein Kollege Alexander Kissler bei Cicero Online die Frage: „Wo steckt denn nun das Volk?“ Gestützt auf die vermeintliche Autorität eines Verfassungsjuristen konstatierte er ein paar schlichte Wahrheiten, die nicht unwidersprochen bleiben sollten.

Das „Staatsvolk“ werde dadurch, dass Merkel die Grenzen für eine Million Flüchtlinge geöffnet habe, verändert, so schreibt Kissler. Diese Umstrukturierung sei demokratisch nicht gedeckt und er plädiert deshalb für eine „verfassunggebende Volksentscheidung“. Die Identität des Volkes, da sind sich der Autor und der Jurist Dietrich Murswiek einig, leite sich aus einer einheitlichen Kultur und Geschichte, aus einheitlicher Sprache und Grundgesinnung ab. So hätten es die Väter des Grundgesetzes nach dem Krieg als Teil der Entstehungsgeschichte beschrieben. Die Bundesregierung allein sei nicht berechtigt, diese Identität des Volkes einwanderungspolitisch aufzulösen. Das klingt fast wie „Deutschland schafft sich ab“. Merkel schafft Deutschland ab.

Juristische Argumente von den politischen und ideologischen trennen

Und so stellt denn der Autor auch eher rhetorisch die „essenzielle Frage“: „Wer hätte das Recht und die Pflicht, ihr [Merkel] in die Speichen zu greifen?“ Das Volk natürlich, das „Subjekt der Demokratie“. Schwingt in dieser Frage, da Deutschland angeblich „derart dramatisch aus dem Lot geraten“ ist, gar der Ruf nach einem Widerstandsrecht mit?

Es hilft, die Dinge ein wenig zu sortieren, die juristischen Argumente von den politischen und ideologischen zu trennen. Gleichzeitig hilft es wenig, mit verstaubten Notizen aus dem Parlamentarischen Rat von 1948 die Verfassungswirklichkeit infrage zu stellen oder gesellschaftliche Realitäten zu delegitimieren.

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, so heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes. Aber dort heißt es auch: „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Zwischen den Wahlen hat der Souverän seine Souveränität abgetreten. Die Regierung nimmt also auch in der Flüchtlingskrise ihre Verfassungsrechte wahr, das Parlament ebenso. Bundestagspräsident Norbert Lammert hat darauf hingewiesen, wie häufig sich der Bundestag in den letzten Monaten mit der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin beschäftigt hat. Es wurde viel debattiert, vielfach wurden Gesetze geändert. Zuletzt wurde in der vergangenen Woche das Asylrecht verschärft. Das Argument, die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung sei demokratisch oder verfassungsrechtlich nicht legitimiert sei, stößt ins Leere. Und wer das Recht und die Pflicht zum Widerstand beschwört, verlässt den Boden der Verfassung.

Die Würde des Deutschen

Zumal die Souveränität des Volkes dort endet, wo im Grundgesetz in den Artikeln 1 bis 19 die Grundrechte formuliert sind. Schon das Grundgesetz selbst schränkt also die Staatsgewalt des Volkes ein. Zum Beispiel steht in Artikel 16: „Politisch verfolgte genießen Asyl.“ In Artikel 1 des Grundgesetzes, auf den sich Merkel in ihrer Flüchtlingspolitik immer wieder berufen hat, heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, nicht: Die Würde des Deutschen ist unantastbar.

Es heißt dort auch: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten.“ Eine „verfassungsgebende Volksentscheidung“ hätte nicht die Souveränität, sich über Artikel 1 des Grundgesetzes hinwegzusetzen.

Im Übrigen darf Deutschland nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit Ermächtigung des Gesetzgebers Souveränitätsrechte an die Europäische Union abtreten, solange die eigene Verfassungsidentität – vor allem der Grundrechtsschutz und das Demokratieprinzip – damit nicht infrage gestellt wird. Zumal die „Verwirklichung eines vereinten Europas“ in Artikel 23 ebenfalls Verfassungsrang besitzt.

Das Staatsvolk ist nicht statisch

Wird aber durch Merkel und ihre Flüchtlingspolitik das Staatsvolk schleichend umstrukturiert? Weil klar sei: „Offenbar soll bleiben, wer gerufen wurde“? Wird der Souverän also dadurch schleichend entmachtet, in dem über die Balkanroute immer neue Souveräne ins Land gelassen werden? Findet also derzeit ein schleichender Staatsstreich statt? Gemach.

Anders als die Menschenwürde, die Staatsgewalt und ein vereintes Europa kennt das Grundgesetz zwar ein „deutsches Volk“, aber kein statisches, irgendwie fest umrissenes Staatsvolk. Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist, so heißt es relativ nüchtern in Artikel 116, „wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt“. Alles andere regelt seit dem Jahr 2000 das „Staatsangehörigkeitsgesetz“. Unter welchen Voraussetzungen ein Ausländer, „der rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat“, eingebürgert werden „soll“, steht in Paragraf 8 folgende.

Vor allem vier Dinge hebt das Gesetz hervor: Kenntnisse der deutschen Sprache, das Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung, die Bestreitung des Lebensunterhalts sowie Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse. Dass Karlsruhe dieses Gesetz für verfassungswidrig erklärt hätte, ist nicht bekannt.

Die Sehnsucht nach der Homogenität des Volkes

Kommen wir also zu der eigentlichen Frage, die viele Konservative und Rechte derzeit offenbar umtreibt und die sie in ihrer Verzweiflung immer absurdere Argumente vorbringen lässt. Es ist nicht die verfassungsrechtliche Frage, wer in der Demokratie der Souverän ist, sondern es ist die alte Sehnsucht nach der Homogenität des Volkes. Das aber ist eine politische Frage oder eine ideologische, weshalb das Grundgesetz nun für einen Moment beiseite gelegt werden soll.

Man muss kein illusionärer Anhänger von Multikultiträumen sein, um festzustellen, dass es eine einheitliche Kultur und Geschichte, Sprache und Grundgesinnung in Deutschland schon lange nicht mehr gibt. Vermutlich hat es eine solche Homogenität des Volkes in Deutschland nie gegeben. Bevor die Nationalsozialisten aus den Deutschen eine Volksgemeinschaft gemacht haben, lebten in diesem Land Katholiken, Protestanten und Juden, Kommunisten, Nationalisten und Royalisten. Deutsche sprachen Dänisch, Sorbisch, Russisch, Jiddisch oder Niederdeutsch. Bevor Deutschland 1871 ein Nationalstaat wurde, war es in viele Kleinstaaten wie Sachsen, Bayern oder Preußen, Anhalt oder Baden zersplittert.

Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebten die polnischen Bergarbeiter im Ruhrgebiet weitgehend in einer Parallelgesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Vertriebenen aus dem Osten im Westen erst einmal wie Aussätzige behandelt. Auch in der Vergangenheit las nicht jeder Deutsche seinen Goethe und geriet bei einer Wagner-Arie in Ekstase. Jazz galt noch vor wenigen Jahrzehnten als undeutsch, als „Negermusik“, wurde von dem einen oder anderen trotzdem sehr gerne gehört.

Deutsche Kultur: Florian Silbereisen und Sido?

Welche einheitliche Grundgesinnung soll dem Deutschen also abverlangt werden, welche einheitliche Kultur und Geschichte? Oder mal ganz lebensnah gefragt: Welche einheitliche deutsche Kultur verbindet den Volksmusikanten Florian Silbereisen und den Gangsta-Rapper Paul Hartmut Würdig, alias Sido, geboren 1980 in Ostberlin.

Hinzu kommt, nicht erst seit dem 5. September vergangenen Jahres, sondern schon seit Jahrhunderten: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Eine tausendjährige Vergangenheit und Zukunft, eine kulturelle und politische Ewigkeitsgarantie, hat Deutschland nur in den Köpfen rechter Propagandisten. Es kamen in den letzten Jahrhunderten zum Beispiel Hugenotten und Polen, Türken und Italiener, Kurden und Vietnamesen, Nigerianer und Chilenen.

In jedem Fall ist Deutschland seit fünf Jahrzehnten ein Einwanderungsland und seit fünf Jahrzehnten kommen auch Muslime nach Deutschland. Jeder fünfte Deutsche hat derzeit einen Migrationshintergrund, die Mehrzahl der Deutschen mit Migrationshintergrund sind allerdings keine Muslime.

Das größte nichteuropäische Herkunftsland ist Kasachstan. Von dort kamen in der bislang letzten großen Einwanderungswelle in den 1990er Jahren vor allem Russen und Russlanddeutsche. Und mit jeder Einwanderungswelle verändern sich die Kultur, die Geschichte und die Grundgesinnung, ja selbst die Sprache verändert sich. Die Identität des Volkes ist nichts Statisches, sie befindet sich vielmehr in einem permanenten Wandel.

Einwanderung, Globalisierung und Demografie

Die Frage lautet angesichts der Flüchtlingskrise also nicht „Einwanderung - ja oder nein?“. Ein „Nein“ wäre nicht nur ahistorisch. Es gehört zu den größten Versagen der Politik seit dem Zweiten Weltkrieg, es ein halbes Jahrhundert lang negiert zu haben, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Ein „Nein“ wäre im Zeitalter der Globalisierung, in dem Geld-, Daten- und Warenströme entgrenzt wurden und Umweltverschmutzungen globale Folgen haben, vor allem auch ein Anachronismus.

Deutschland ist ein Einwanderungsland und wird es bleiben. Allein zur Abmilderung der Folgen des demografischen Wandels braucht Deutschland eine Nettozuwanderung von 500.000 Menschen jährlich. Selbst 100 Millionen Menschen könnten in diesem Land leben, ohne dass dem Volk der Raum knapp würde. Bei einer Bevölkerungsdichte wie in den Niederlanden sogar deutlich mehr.

Der staatliche Kontrollverlust ist der Skandal

Die Frage lautet also, was folgt daraus, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist? Wie geht Deutschland mit Bürgerkriegsflüchtlingen einerseits, mit Armuts- und Arbeitsmigranten andererseits um? Wie lassen sich die unterschiedlichen Migrationsströme kontrollieren, steuern und begrenzen? Gibt es eine jährliche Höchstgrenze der Aufnahmebereitschaft und Aufnahmefähigkeit?

Das Problem der letzten Monate war nicht, dass so viele Bürgerkriegsflüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Das Problem war, dass die Zuwanderung völlig unkontrolliert erfolgte und die staatlichen Institutionen darüber beinahe zusammengebrochen sind. In der Folge könnte auch die Europäische Union Schaden nehmen.

Nicht die Menschlichkeit, die viele Deutsche gezeigt haben, ist der Skandal, sondern der staatliche Kontrollverlust. Die Tatsache, dass die Behörden immer noch nicht wissen, wie viele Menschen tatsächlich gekommen sind und es Monate oder gar Jahre dauert, bis die Aufnahmeverfahren abgeschlossen sind.

Nicht nur über Integration reden, auch handeln

Natürlich führt Zuwanderung zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Wer über Migration redet, muss auch über die Folgen reden, über soziale und ökonomische, kulturelle und religiöse Konflikte. Und der darf über Integration nicht nur reden, sondern muss auch handeln: Sprache vermitteln, Wohnungen bauen, Arbeitsplätze schaffen.

Am Geld darf dies in einem der reichsten Länder der Welt nicht scheitern. Und wenn Alexander Kissler schreibt, bis vor Kurzem sei diese Republik „absolut funktionsfähig, fast mustergültig in sich ruhend“ gewesen, dann scheint die Integration selbst in den Augen der Kritiker in den letzten Jahrzehnten so schlecht nicht funktioniert zu haben.

Wer über Bürgerkriegsflüchtlinge redet, der darf allerdings nicht die Illusion nähren, da kommen nur Ärzte und Ingenieure. Auch mafiose Banden nutzen das Fluchtchaos, um Nachwuchs zu rekrutieren. Die terroristische Gefahr wächst. Es kommen auch Analphabeten, die nicht oder nur sehr schwer in die deutsche Gesellschaft und den Arbeitsmarkt integriert werden können.

Wie viele Bürgerkriegsflüchtlinge zurückkehren und wie viele bleiben, wenn der Krieg in Syrien vorbei ist, das ist reine Spekulation. Erst einmal sind sie hier. Viele werden irgendwann die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen. Nach acht Jahren rechtmäßigem, gewöhnlichem Aufenthalt haben sie dazu derzeit das Recht.

Was hält dieses Land zusammen?

Das deutsche Volk verändert sich also, so wie es sich immer verändert hat. Und somit stellt sich abschließend die Frage: Was hält dieses Land als Einwanderungsland zusammen, welche Anstrengungen müssen Deutsche und Zuwanderer auf sich nehmen, damit dieser Zusammenhalt nicht verloren geht? Verfassungspatriotismus und Sozialstaats-Nationalismus allein werden nicht reichen.

Eine Leitkultur als Orientierung, nicht als Pflichtenheft, wäre hilfreich. Und sicher gehört zu einer solchen Leitkultur mehr als der Verweis auf das Grundgesetz sowie auf die Akzeptanz der Rechts- und Verfassungsordnung. Gemeinsame Werte gehören dazu, die Gleichberechtigung, die Religionsfreiheit und die Gewaltenteilung, Demokratie und der Rechtsstaat. Spracherwerb nicht als Bedingung der Zugehörigkeit, sondern als Voraussetzung gelingender Integration.

Jammernde Beschwörung deutscher Homogenität hilft nicht

Auch Kenntnisse über vielfältige kulturelle Traditionen in Deutschland und Europa sowie über komplexe historische Zusammenhänge, über Kriege und Völkermord halten das Land zusammen. Und auf der anderen Seite die Akzeptanz der Muslime durch die Mehrheitsgesellschaft. Welcher Islam zu einer deutschen Leitkultur gehört, darüber ließe sich in diesem Kontext lohnend streiten und auch über ein Burka-Verbot.

Die jammernde Beschwörung nationalstaatlicher Homogenität sowie das ahistorische Plädoyer für eine einheitliche Kultur und Geschichte, für eine einheitliche Sprache und Grundgesinnung haben in einer Einwanderungsgesellschaft hingegen nichts zu suchen. Womit wir wieder beim Grundgesetz wären und einer selbstbewussten Bürgergesellschaft, die dieses anstelle eines einheitlichen Staatsvolkes trägt. Wie heißt es dort so schön in Artikel 2? „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt.“

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