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(picture alliance)

Die Grünen - Radikal war gestern

Finanzkrise, Eurodebakel, Klimawandel: Wer hat Antworten auf die drängendsten Themen unserer Zeit? Die Grünen zumindest stellten einst die richtigen Fragen. Doch sie sind mittlerweile genauso kleinlaut wie das von ihnen so kritisierte politische Establishment.

Vor der Weltgeschichte, sagen wir mal so, ist es egal, wie die Wahlen am 18. September in Berlin ausgehen, ob also der rot-rote Senat mit dem sozialdemokratischen Bürgermeister Klaus Wowereit bestätigt wird oder ob gar Renate Künast von den Grünen ihn übertrumpft und ablöst. Nach dem Wahlerfolg der Grünen in Baden-Württemberg erscheint alles möglich, und die Grünen strahlen derzeit Selbstzufriedenheit aus - als das einzige Erfolgsmodell in der Parteienlandschaft. Neue Volkspartei, heißt es, sind sie allemal, bald übertrumpfen sie vielleicht die SPD.

Bei allem Respekt vor Berlin – man sollte die Kirche im Dorf lassen. Ob Renate Künast in der Hauptstadt in die Fußstapfen von Ernst Reuter, Otto Suhr, Willy Brandt, Jochen Vogel oder Richard von Weizsäcker tritt, darf man doch einen Moment mal beiseite lassen, oder? Berlin ist ja ohnehin eine eigenartige Mischung aus Metropole und Provinz. Die Bürgermeister repräsentieren mal mehr die eine Seite, mal die andere. Es geht nicht nur darum, ob Frau Künast Berlin gewachsen wäre. Vielmehr ist die Frage, ob diese Partei mehr metropolitanen Charakter hat oder doch eher etwas „Provinzielles“, Kleines verkörpert.

Richtig, als Koalitionspartner an der Seite der SPD mit Kanzler Gerhard Schröder haben sie doch bereits bewiesen, dass sie ihr Geschäft in der Bundespolitik durchaus verstehen. Auch Joschka Fischer verstand sein Geschäft als Außenminister – Guido Westerwelle muss blass werden vor Neid, wenn er zurückblickt. Ohnehin werden die rot-grünen sieben Jahre unter Wert gehandelt.  Die Tücke, die in diesem Rückblick steckt, ist nur: Gerade vor diesem Hintergrund wird besonders krass deutlich, dass sie zu den großen Fragen derzeit so wenig zu sagen haben. Wie erklärt sich diese Paradoxie, dass sie vor Kraft kaum laufen können – die Protestpartei sei im „Kern des Bürgertums angekommen“, konstatiert die Süddeutsche Zeitung respektvoll - , dass sie aber mit dem harten Tagesgeschäft der Politik, den großen Krisenfragen, die fast den Alltag prägen, offenbar wenig anfangen können?

Als vor einigen Tagen die jüngste sozialdemokratische Troika, Steinmeier, Steinbrück, Gabriel, ihre Auswege aus der europapolitischen Krise skizzierten, atmete man erleichtert auf: Endlich versucht jemand wenigstens, nicht nur zum „Heute“ Stellung zu nehmen. Die drei hatten zur Sache etwas zu sagen. Eurobonds, Transaktionssteuer, Griechenland muss den Gürtel enger schnallen, aber braucht ein Konjunkturprogramm, um nicht unterzugehen – das hatte immerhin die Konturen eines Konzepts. Zwar: Die Grünen in Berlin haben dazu Jürgen Trittin, der wirklich weiß, wovon er redet in Sachen Europa-Krise. Der Rest ihrer Europäer aber sitzt im Europäischen Parlament. Und offen gesagt: Ein Trittin allein kann es auch nicht schaffen, aus den Grünen wieder ein kleines Avantgarde-Zentrum zu machen, in dem unorthodox und doch kompetent nachgedacht wird.

Eine Zeitlang hatten die Grünen aber diese Funktion, als Journalist griff man zum Hörer, um sich bei ihnen in Sachen Energiepolitik, Klima, Nahrung, aber auch Osteuropa, Minderheiten, Menschenrechte kundig zu machen. Ich fürchte, derzeit zahlen sie den Preis für ihren Erfolg, die Volksparteiähnlichkeit erreichen sie nur, wenn sie ihre Kanten abschleifen. Vielleicht bemerken sie es nicht einmal selbst: Aber sie verlieren peu à peu ihre radikale Neugierde. Lange Zeit waren sie die Partei, der man bescheinigte, ohne taktische Hintergedanken über Sachfragen nachzudenken. Das war insbesondere der Zweifel an der Kernenergie, den haben inzwischen fast alle übernommen, aber auch Ökologie, Klima, Energie, Menschenrechte, Gleichberechtigung, die Lage der demokratischen Opposition in autoritären Ländern – sie hatten ihre Themen. Weil sie nicht taktisch dachten, erschienen sie mir als die radikalste Partei – radikal offen, an Transparenz und politischen Alternativen interessiert. Gegnern galten sie zwar als „Schmuddelkinder“ und nicht wie heute als vorzeigbare Bürgerliche, aber nachdenkliche Köpfe anderer Parteien wie Kurt Biedenkopf, Peter Glotz oder Heiner Geißler mahnten die eigene Gefolgschaft vor Hochmut: Sie stellen die richtigen Fragen!

An dem Punkt befinden wir uns wieder. Jemand müsste die richtigen Fragen stellen. Was die Frage angeht, ob Prosperität ohne Wachstum in den wohlhabenden Ländern möglich sei, und wie, reden sie mit, verlieren aber den Stachel. Dass man ihnen in der gegenwärtig hochdramatischen Debatte über die Zukunft Europas eine Kompetenz zu einer Art zweiten Gründung der Union zutraut, zur Definition der europäischen Vereinigten Staaten – Dani Cohn-Bendit in Ehren, aber nein, da müsste man lügen. Nötig wäre es dennoch. Durchlavieren à la Merkel reicht nicht. Wenn die Grünen überzeugend dokumentieren wollen, dass sie zu den großen Playern in großen Fragen zählen, dass sie also etwas zu sagen haben, dann hätte man ihre Stimme längst heraushören müssen.

Wirklich neugierig würde insbesondere auch machen, wenn sie, nur mal als Beispiel, zur Kontrolle der Finanzmärkte und der Abhängigkeit Europas, ja großen Teilen der Welt vom verselbständigten Spekulationskapitalismus etwas zu sagen haben, das anregend, anstößig, aber nicht unrealistisch ist. Diese Mixtur machte sie stark. Die andere Frage, ob Frau Künast Herrn Wowereit ablösen solle, ist auch legitim und mag das Dorf Berlin erregen. Aber – wer Volkspartei sein will, muss schwerere Gewichte stemmen.

Offenkundig zahlen die Grünen einen Preis für ihre Popularität. Sie sind präsent – und verschwommen. Radikal – im eigentlichen Sinn – war gestern. Etwas ist nicht kompatibel. Sie schwimmen auf der Krisenwelle, Ökologiekrise, Wirtschaftskrise, Europakrise, aber sie haben die Stimmführerschaft eingebüßt.

Sind sie bloß in die Sommerpause gegangen, oder haben sie eine Denkpause eingelegt? Die Zeit ist gekommen, in der die Grünen beweisen müssen, ob sie nur von einem Lebensgefühl-Hype, Sympathie für die richtigen Themen und dem Überdruss an den anderen Parteien profitieren – oder ob sie auch  bei den Suchbewegungen Avantgarde sind (bitte ohne Jakobinismus), in denen man heute intelligente Antworten dringend braucht.

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