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Produktionsfaktor Kind

Cicero-Chefredakteur Michael Naumann wirft einen Blick auf die desolate Lage der deutschen Bildung.

Swenne der Geist haftet an GOT, so wird er vergotet“, hatte der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart vor sieben Jahrhunderten geschrieben. Als Symbol dieser unio mystica prägte er das neue Wort „bildunge“: Es bezeichnete die meditative Erfahrung der Gottesbildlichkeit des Menschen, gewissermaßen seinen perfekten Zustand. Die irdische Karriere dieses religiös aufgeladenen Begriffs „Bildung“ im deutschen Idealismus verdankte sich den schwäbischen Stiftsschülern Hegel und Konsorten; denn für sie zählten die Schriften von Eckhart und dem schlesischen Mystiker Jakob Böhme zur Pflichtlektüre. „Gott werden, Mensch sein, sich bilden sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten“, notierte Hegels Zeitgenosse Friedrich Schlegel. Noch die zahlreichen republikanischen Lehrer der Pauls- kirche von 1848 verstanden sich als „Priester der Demokratie“ (Friedrich Theodor Vischer). Seither wird in Deutschland mit frommer Inbrunst über Sinn und Zweck vernünftiger Erziehung diskutiert. Apokalyptischer Zungenschlag gehört dazu: Immer wieder droht uns seit Georg Pichts epochalem Buch von 1964 eine „Deutsche Bildungskatastrophe“. Picht war Philosoph und Theologe. Seine Mahnungen gehörten zur argumentativen Grundausrüstung der 68er. Im „Bildungsreservoir“, so klagten sie mit Picht, schlummerten die Arbeiterkinder, denen der Auf- stieg über die Gymnasien an die Hochschulen im Prinzip verschlossen bliebe – und dabei ist es nach einigen Fortschritten auch geblieben. Wie ist zu erklären, dass bei gleichem schuli- schen Leistungsniveau ein Kind, das in einer „bildungsfernen“ Familie aufwächst, eine 4,5-mal niedrigere Chance auf gymnasiale Ausbildung hat als ein Schulkamerad aus der akademischen Mittelschicht? Ist diese schreiende Ungerechtigkeit Ausdruck einer ver- staubten Klassengesinnung in den Lehrerzimmern – oder nicht eher das Resultat resignativer Haltungen in den Familien jener Kinder, die dem Vorbild der Eltern folgen sollen – „bloß nicht aufs Gymnasium!“ Wahrscheinlich liegt die Antwort in der falschen Verteilung staatlicher Ausgaben: Statt das meiste Geld in spätere Bildungsphasen zu stecken, sollten die vorschulischen Institutionen, die Kindergärten und Kitas finanziell so großzügig ausgestattet werden, dass sie ihren Aufgaben mit qualifizier- terem Personal im gleichen Maße gerecht werden können, in dem das zum Beispiel in Frankreich oder Schweden der Fall ist. Fast ein halbes Jahrhundert später ist der fromme Erlösungsgedanke, der im Bildungsbegriff der 68er-Jahre nachwirkte, einer ökonomisierten Betrachtung von Sinn und Zweck schulischer Qualifikation gewichen. Von der Grundschule bis zum Universitätsabschluss – es geht in der gegenwärtigen pädagogisch- politischen Diskussion weniger um Fragen von Gerechtigkeit und Verwirklichung der individuellen Fähigkeiten und Talente des einzelnen Kindes mit oder ohne „Migrationshintergrund“, sondern um die Zukunft des deutschen Wirtschaftswachstums. Die Gymnasien werden in Gemeinschaftsschulen wegrationalisiert, ihre Existenz in Deutschland ist gefährdet. Der folgenreiche Hamburger Volksentscheid gegen diese Entwicklung entsprach dem Unbehagen der Eltern angesichts politisch verordnetem Reformeifer mit ungewissem Ausgang. Nicht pädagogischer Eros, sondern das Schicksal des zu- künftigen Bruttoinlandsprodukts prägt die Sorgen der Politiker, schauen sie auf unsere Schulen und Universitäten. Also reagieren sie vor allem mit immer neuen Milliardenprogrammen, mit Schul- und Hochschulreformen, die wie Anpassungsreaktionen auf die Nachwuchssorgen der Volkswirtschaft aussehen. Pädagogik soll sich lohnen. In der Sprache der OECD, der Herrin der gefürchteten Pisa-Studien: „Würde man es schaffen, alle Schüler in den kommenden 20 Jahren mindestens auf das Basiskompetenzniveau von 400 Pisa-Punkten zu bringen, könnte Deutschland zwischen 2010 und 2090 eine zusätzliche Wirt- schaftsleistung von 12 000 Milliarden US-Dollar zu heutigen Preisen erwarten oder mehr als das Vierfache der gesamten Wirtschaftsleistung eines Jahres.“ Das klassische Aufsatzthema „Wozu lernen wir?“ scheint hier schon beantwortet: Damit unsere Kinder tüchtige Mitglieder des globalisierten Industrie- oder Dienstleistungssektors werden. Zugegeben, so neu ist das natürlich nicht. Kaiser Wilhelm war es, der 1911 den Gymnasiasten von Kassel zurief: „Wir müssen nationalökonomische und finanzielle Kenntnisse uns aneignen. Denn es gilt, Deutschland seine Stellung in der Welt, besonders auf dem Weltmarkte, zu wahren.“ Statt Latein wurde Deutschunterricht die Konstante im Bildungsgang; doch selbst dies ist offenkundig nicht mehr die Hauptsorge in den Lehrerzimmern der Nation. Oder wie ist es zu erklären, dass mindestens zehn Prozent aller Haupt- und Realschüler bei der Lektüre deutscher Texte ahnungslos vor den schwarzen Buchstaben sitzen – und in Großstädten mit Kindern von Einwanderern gar dreißig Prozent? Versagt hier ein System, das vor allem funktionsfähige Produzenten und Konsumenten erziehen soll? Vielleicht sollten wir einen Schlussstrich unter die endlosen Reformdebatten ziehen und von vorn anfangen? Die Burn-out- Rate unserer Pädagogen ist so hoch wie die Anzahl der sogenannten Ausfallstunden. Ihre Ausbildung scheint sie immer noch nicht vorzubereiten auf die enorme Verantwortung, die wir ihnen aufbürden. Fast jeder, der will, kann in Deutschland (hat er das Abitur in der Tasche) Lehrer werden. Ein Eignungstest ist nicht wirklich vorgesehen. Seine erste Frage müsste lauten: „Mögen Sie Kinder?“ Und dann die Quizfrage: „Wollen Sie gute Produzenten und Konsumenten erziehen – oder liegt Ihnen das Glück junger Menschen mehr am Herzen?“ Ach, es ist schon jetzt zu hören – das Hohnlachen der pädagogischen Reformindustrie. Sie muss im Augenblick wieder mehr Ingenieure produzieren.

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