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(picture alliance) Basisdemokratie bei den Piraten – Lieber im Netz oder auf Parteitagen?

Liquid Feedback - Piratische Basisdemokratie auf dem Prüfstand

Die wichtigste Abstimmungssoftware der Piratenpartei steht vor dem Neustart: Bis Mitte August soll „Liquid Feedback 2.0“ kommen. Technische Probleme vermag das neue System zwar zu lösen, wohl aber nicht den Grundsatzstreit: Wie will die Partei die Basisdemokratie verwirklichen?

Man kann es als so etwas wie einen Meilenstein in der Parteigeschichte betrachten. Anfang Juni stellte sich die Piratenpartei gegen eines der derzeit am meisten umstrittenen Maßnahmenpakete der Bundesregierung: den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, über den der Bundestag am Freitag entscheidet. Der Antrag wurde mit einer überwältigenden Mehrheit von fast zwei Dritteln angenommen. Zuvor hatten auch die Landesverbände Nordrhein-Westfalen und Bremen den ESM abgelehnt.

Bislang hatten sich die Piraten eigentlich nie sonderlich in Wirtschaftsfragen hervorgetan. In Talkshows schwiegen ihre Vertreter lieber, wenn es um die Eurokrise ging.

Doch nun wird das eindeutige Abstimmungsergebnis von einigen Piraten selbst bezweifelt. Für ESM-Befürworter ist klar, wer die Schuld trägt: die Software. Denn der Antrag wurde nicht etwa auf einem Parteitag beschlossen, sondern auf der parteieigenen Abstimmungsplattform Liquid Feedback. Entscheidungen dort sind für die Parteispitze weder bindend noch gelten sie als offizielle Aussagen der Partei.

Otmar Scherer-Gennermann, einer der Gründer der Piratenpartei und Koordinator der Arbeitsgemeinschaft Wirtschaft an der Basis, bezweifelt, ob Liquid Feedback überhaupt der richtige Ort für solche Grundsatzdebatten sei. Das System führe „bei fachlich komplexeren Fragestellungen zu irreführenden Ergebnissen“. Weder seien die Qualität der eingebrachten Initiativen gewährleistet, noch die abstimmenden Personen ausreichend informiert, sagte der Wirtschaftsblogger Cicero Online.

Der Streit um die ESM-Abstimmung spiegelt den Streit um die Grundwerte der Partei wider: Wie repräsentativ ist Liquid Feedback? Welche Rolle sollte die Software für die Meinungsbildung spielen?

Bereits auf dem Bundesparteitag in Neumünster im April war offensichtlich geworden, wie wenig Rückhalt Liquid Feedback bei den Piraten hat. Ein Antrag, der die Amtszeit von Vorständen um zwei Jahre verlängern wollte, fand auf der Abstimmungsplattform eine überragende Mehrheit von 72 Prozent. Auf dem Parteitag wurde er jedoch abgeschmettert: Die rund 1.500 anwesenden Piraten stimmten mehrheitlich dagegen. Kurz danach gab es eine erneute Liquid-Initiative – diesmal sollte die Amtszeit auf anderthalb Jahre verlängert werden. Wieder stimmten 70 Prozent dafür. Das Beispiel zeigt: Parteitagsbeschluss und Liquid-Feedback-Votum, analoge und digitale Realität, klaffen mitunter weit auseinander.

Beim Streit um ihr wichtigstes Abstimmungstool geht es immer auch um die Frage: Werden die Piraten ihren hehren Ansprüchen an die Basisdemokratie gerecht?

Eigentlich sollte Liquid Feedback den basisdemokratischen Traum endlich erfüllen. Das, woran die Grünen gescheitert waren, wollten die Piraten richtig machen: Zu wichtigen politischen Fragen soll die Basis immer befragt werden. Liquid Feedback war das Versprechen einer echten, „flüssigen Demokratie“.

Auch außerhalb der Piratenpartei hat das System eine große Anhängerschaft. Die Organisation Slow Food nutzt es, und der Landkreis Friesland im Nordwesten Deutschlands will es als bundesweit erste Kommune zur Bürgerbeteiligung einsetzen. Sogar die FDP prüft laut ihrem jüngsten Parteitagsbeschluss gerade die Einführung von Liquid Feedback.

Der Berliner Abgeordnete Christopher Lauer, der gerade zum zweiten Fraktionsvorsitzenden gewählt wurde, ist ein überzeugter Unterstützer des Systems. Er würde es am liebsten in der Satzung verankern, wofür ein Parteitagsbeschluss nötig wäre.

Doch bei den Piraten nutzen noch zu wenige das System. Gerade mal 9.200, weniger als die Hälfte der stimmberechtigten Mitglieder, haben überhaupt einen Zugang. Einerseits kommen die Verantwortlichen kaum hinterher, den vielen neuen Mitgliedern Zugänge zu verschaffen. Andererseits halten technische Probleme und eine unübersichtliche Oberfläche viele Nutzer vom Mitmachen ab. Bundesvorsitzender Bernd Schlömer will Liquid Feedback deshalb extern evaluieren lassen.

Und auch intern arbeitet die Partei unter Hochdruck: Eine Arbeitsgemeinschaft bereite gerade eine Umfrage vor, sagte Klaus Peukert, Liquid-Feedback-Beauftragter im Bundesvorstand, Cicero Online. „Die ist dabei aber noch in einem sehr frühen Stadium.“

Eine neue Version soll es nun richten: Am Freitag – zufällig am gleichen Tag wie die ESM-Abstimmung – stellen die Entwickler der Software, die Public Software Group e.V., in Berlin die zweite Generation von Liquid Feedback vor. Peukert hat dafür ehrgeizige Ziele: „Parteiintern bereiten wir momentan unsere Testumgebung vor.“ Voraussetzung für eine Einführung sei, dass ein öffentlicher Betatest der Software im Juli reibungslos verlaufe. Als Datum für den Neustart nannte Peukert den 13. August, den „zweiten Geburtstag“ des Systems in der Piratenpartei.

Seite 2: „Das wäre das Ende der Piratenpartei.“

Ob die neue Plattform den Grundkonflikt in der Partei löst, ist offen. Bei den Piraten war das System von Anfang an umstritten. Viele Mitglieder erhoben datenschutzrechtliche Bedenken, der stellvertretende Bundesvorsitzende Sebastian Nerz hielt es sogar komplett für gescheitert.

Dennoch ist Nerz ab und zu im Liquid Feedback unterwegs. Bei Wirtschaftsthemen gibt er seine Stimme an den AG-Gründer Scherer-Gennermann. Delegationen sind eines der wichtigsten Prinzipien dieses Systems. So soll das Problem, dass in der perfekten Basisdemokratie jeder stets über alles abstimmen darf, auch wenn er darüber fast nichts weiß, behoben werden. Es ist die Verbindung repräsentativer und direktdemokratischer Elemente. Nicht selten kumulieren auf diesem Weg wenige Personen viele Delegationen. Sie werden als „Super-Delegierte“ bezeichnet. Ein solcher ist etwa auch Martin Haase, Linguistikprofessor aus Bamberg. Zeitweise hatte er über 160 Delegationen – weshalb er als einflussreichster Pirat im Liquid Feedback gilt.

Wirtschaftspirat Benedikt Weihmayr sagt, wichtige Entscheidungen könnten nur dann getroffen werden, wenn Experten und Partei einander vertrauten. „Basisdemokratie steht und fällt mit der verantwortungsvollen Eigeninitiative der einzelnen Mitglieder.“ Für Wirtschafts- und Euro-Themen interessieren sich beispielsweise nur rund 1.400 Piraten, an der ESM-Abstimmung nahmen sogar nur 761 teil. Das sind nicht einmal drei Prozent der gesamten Parteibasis.

[gallery:Die Piratenpartei. Ein Landgang auf Bewährung]

Sollten so kleine Gruppen wichtige Grundsatzentscheidungen fällen dürfen? Weihmayr sagt, wesentliche Entscheidungen dürften nicht nur wenigen Experten oder AGs überlassen werden. „Das wäre das Ende der Piratenpartei. Dann könnten wir den Laden dicht machen.“

Die Piraten reagieren extrem empfindlich, wenn ihre Ideale mit Füßen getreten werden. Als die Berliner Fraktion in der vergangenen Woche etwa geheim tagte, war die Empörung groß. Die 15 Abgeordneten waren kurz vor der Sommerpause für ein paar Tage in Klausur gegangen, um ihre Strategie für das kommende Jahr zu diskutieren. Ohne Livestream, ohne Protokolle – ein klarer Widerspruch zum piratischen Transparenz-Grundsatz. Keine der anderen Piraten-Fraktionen in Saarland, Schleswig-Holstein oder Nordrhein-Westfalen tagte bisher derartig verschlossen. Aleks Lessmann, Pressesprecher des bayerischen Landesverbands, fragte im Netz: „Nennt man sowas nicht ‚Wasser predigen & Wein trinken‘?“

Die tatsächliche Parteiarbeit findet derzeit auch noch auf anderen Plattformen statt: im Piratenwiki, auf Mailinglisten, über die Konferenzsoftware Mumble. Eine andere Abstimmungssoftware ist Lime Survey, die der Vorstand für Meinungsumfragen nutzt. Zur Konkurrenz zwischen den beiden Plattformen schrieb die Piratin Lotte Stenbrink auf Twitter: „Liquid und Limesurvey sind unser Ost und West.“

Doch egal, welche Technik für sich siegt: Am Ende ist das Ringen der Piratenpartei mit der Basisdemokratie auch ein Ringen um die richtige Kommunikation und Wissensvermittlung. „Man kann nur wenige Mitglieder mit Informationen und Argumenten erreichen – aber viele stimmen über alles ab“, sagt Scherer-Gennermann. Deswegen hätten sich andere Wirtschaftsblogger aus der Piratenpartei bereits weitestgehend zurückgezogen oder bisher Abstand davon gehalten.

Es ist ein Problem, das auch Liquid Feedback 2.0 vorerst nicht wird lösen können. „Das Ergebnis dieser Art Basisdemokratie“, glaubt denn auch Scherer-Gennermann, „ist für einige frustrierend.“

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