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NSU-Mord an Halit Yozgat - Was wusste Bouffier?

Die Mordserie des rechtsextremen NSU erschütterte ganz Deutschland – und nun auch die hessische Staatskanzlei. Denn im Fall des 2006 in Kassel ermordeten Halit Yozgat sind Details aufgetaucht, die den damaligen Innenminister Volker Bouffier belasten. Hat er die Ermittlungen der Polizei behindert?

Autoreninfo

Von Andreas Förster ist vor Kurzem das Buch Eidgenossen contra Genossen - Wie der Schweizer Nachrichtendienst DDR-Händler und Stasi-Agenten überwachte im Berliner Ch. Links Verlag erschienen.

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Schon Mitte November 2011, die Zwickauer Terrorzelle war knapp zwei Wochen zuvor aufgeflogen, legte sich Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier fest: „Diese Regierung hat nichts zu verbergen“, sagte der Regierungschef vor dem Landtag in Wiesbaden. Die – damals noch schwarz-gelbe – Koalition habe im Gegenteil ein großes Interesse daran, alle Hintergründe des NSU-Mordes an Halit Yozgat in einem Kasseler Internetcafé am 6. April 2006 aufzuklären. Und sie werde dies auch tun, fügte Bouffier noch hinzu.

Der zweite Teil von Bouffiers Versprechen wurde lange Zeit nicht eingelöst. Im Gegenteil, hessische Regierungsbeamte verhinderten im Bundestags-Untersuchungsausschuss und im Münchner NSU-Prozess eher die Aufklärung. Auch deshalb setzte der Landtag in Wiesbaden im vergangenen Sommer einen eigenen NSU-Untersuchungsausschuss ein. Danach bedurfte es aber noch einmal eines weiteren halben Jahres zäher Verhandlungen, bis das Gremium endlich Anfang 2015 Unterlagen von der schwarz-grünen Landesregierung und aus den Sicherheitsbehörden zur Verfügung gestellt bekam. Diese Akten, die sich insbesondere mit dem Kasseler NSU-Mord befassen, sind aber längst nicht vollzählig dem Ausschuss übergeben worden, wie man jetzt weiß. Bis heute fehlen zum Beispiel die Protokolle einer Telefonüberwachung, die das hessische Landeskriminalamt nach dem Mord gegen den damals tatverdächtigen Verfassungsschützer Andreas Temme durchgeführt hatte. Möglicherweise aus gutem Grund, denn ihr Inhalt könnte auch den ersten Teil von Bouffiers Aussage vor dem Landtag im November 2011 widerlegen – dass die hessische Landesregierung im Fall des Kasseler NSU-Mordes nichts zu verbergen habe.

„Bitte nicht vorbeifahren.“
 

Bislang ist es vor allem ein Satz aus diesen Abhörprotokollen, der eine tiefere Verstrickung des hessischen Verfassungsschutzes in den Mordfall nahelegt. Er fällt gleich am Anfang eines Telefonats am 9. Mai 2006 zwischen Temme und einem Herrn Hess, damals Geheimschutzbeauftragter im Landesamt (LfV). „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren“, sagt der Geheimschutzbeauftragte laut Abhörprotokoll zu Temme.

Dieser Satz ist überhaupt nur bekannt geworden, weil die Anwälte der Familie Yozgat ihn in einem Antrag vor dem Münchner Oberlandesgericht zitierten. Mit dem Beweisantrag wollen die Juristen – zugleich Nebenkläger beim NSU-Prozess – Bouffier als Zeugen vor Gericht laden lassen.

Sie sehen den Satz als deutliches Indiz dafür, dass der Verfassungsschützer vorab gewusst haben könnte, was in dem Internetcafé passieren wird. Zur Erinnerung: Andreas Temme hatte sich während der Ermordung Yozgats am 6. April 2006 in dem Internetcafé aufgehalten, will von der Tat aber angeblich nichts mitbekommen haben. Kurz vorher hatte er aber noch ausführlich mit einem V-Mann aus der rechten Szene telefoniert und sich unmittelbar darauf in das Café begeben, wo dann der Mord geschah.

Zufall?

Von dem Telefonat mit dem V-Mann hatte die Sonderermittlungsgruppe „Café“ des hessischen Landeskriminalamtes, die den Yozgat-Mord aufklären sollte, damals nichts erfahren. Dennoch geriet Temme unter Tatverdacht, weil er sich wochenlang nicht bei den Behörden als möglicher Tatzeuge gemeldet hatte. Außerdem glaubten andere Personen, die mit ihm im Internetcafé saßen, beobachtet zu haben, dass der Verfassungsschützer mit einer Plastiktüte in den Laden gekommen war, in der sich offensichtlich ein schwerer Gegenstand befand. Eine brisante Spur: Tatsächlich wurden die Schüsse auf Yozgat abgefeuert, während die Ceska in einer Tüte verborgen war, um die herausfliegenden Hülsen aufzufangen.

Bouffier und der hessische Verfassungsschutz sind in die Affäre verstrickt
 

Bis die Polizei zwei Wochen nach der Tat schließlich doch auf Temme stieß und ihn festnahm, kann man den damaligen Innenminister und heutigen Ministerpräsidenten Bouffier für den Fall vermutlich nicht in die Verantwortung nehmen. Auch in Regierungsbehörden kann es schließlich immer mal wieder schwarze Schafe geben, die kriminell werden, was man dem Dienstherrn nicht anlasten kann. Problematisch wird es erst dann, wenn dieser Dienstherr die polizeilichen Ermittlungen gegen einen Untergebenen selbst behindert oder es zulässt, dass sie von ihm unterstellten Behörden hintertrieben werden.

In Bouffiers Fall trifft beides zu. Der damalige Innenminister und sein Landesamt für Verfassungsschutz sind tief in die Affäre verstrickt.

Da ist zum einen jener Verfassungsschützer Andreas Temme, der während des Mordes am Tatort war. Vor der Polizei, der Bundesanwaltschaft und dem Gericht in München hat Temme stets beteuert, weder von dem Mord etwas mitbekommen noch davor beziehungsweise danach etwa über seinen V-Mann in der rechten Szene, Benjamin Gärtner, Deckname „Gemüse“, Informationen über die Ceska-Mordserie erhalten zu haben. Überzeugend ist das nicht, schaut man sich die – erst nach dem Auffliegen des NSU bekannt gewordenen – Fakten an: So gab es eine Woche vor dem Mord an Yozgat ein Treffen zwischen Temme und seinem V-Mann im Kasseler „Burger King“. Fünf Tage zuvor hatte Temmes Vorgesetzte ihre Mitarbeiter im LfV darauf angesetzt, ihre V-Leute nach Informationen über die ungeklärte Ceska-Mordserie auszuhorchen. Waren die damals noch „Dönermorde“ genannten Taten Thema bei dem Treffen mit „Gemüse“? Temme sagt – wenig überzeugend – nein. Nachprüfen lässt sich das nicht, weil die Wiesbadener Bouffier-Regierung noch immer die Treffberichte unter Verschluss hält.

Verbindungen zwischen Zwickau und Kassel
 

Am Tattag, dem 6. April 2006, telefoniert Temme zweimal mit seinem rechten V-Mann: gegen 13 Uhr und dann noch einmal, elf Minuten lang, nach 16.10 Uhr. Unmittelbar nach dem zweiten Telefonat verlässt Temme seine Dienststelle und geht direkt in das Internetcafé, wo kurz vor 17 Uhr in seiner Gegenwart die tödlichen Schüsse fallen.

Das zweite Telefonat hatte Temme bei seinen Vernehmungen nach dem Mord verheimlicht. Weil er den Rat seines LfV-Geheimschutzbeauftragten Hess beherzigte? Der hatte ihm gesagt, er solle bei seinen Vernehmungen stets „so nah wie möglich an der Wahrheit bleiben“. Erst nach 2011 stießen die Ermittler auf dieses Telefonat und noch auf zwei weitere Gespräche, die Temme 2005 mit seinem V-Mann geführt haben soll, als das NSU-Kommando Morde in München und Nürnberg verübte. Und an beiden Tattagen soll sich VM „Gemüse“ in diesen Städten aufgehalten haben, behaupten die Journalisten Stefan Aust und Dirk Laabs.

Wie eng war die Verbindung des Verfassungsschützers Temme, der eine Affinität zur Rockerszene hat und wohl auch zu rechtem Gedankengut, zum Umfeld des NSU? Auffällig ist, dass sich im Brandschutt der Zwickauer Wohnung ein Stadtplan von Kassel fand, auf dem etwa ein Dutzend Adressen markiert gewesen sind. Bis auf eine haben alle diese Adressen Bezugspunkte zu Temme. So sind zwei von dem Verfassungsschützer als Aliaspersonalien genutzte Adressen auf dem Plan markiert gewesen. Weitere Markierungen liegen entlang seines täglichen Arbeitsweges.

Die Verbindungen Temmes zu seinem rechten V-Mann wollte das LKA auch schon 2006 untersuchen – doch sie wurden dabei von ganz oben ausgebremst. Der damalige Innenminister Bouffier erteilte am 5. Oktober 2006 dem Antrag der Ermittler auf eine Vernehmung von VM „Gemüse“ und anderen, von Temme geführten V-Leuten, eine klare Absage: Eine Aussagegenehmigung der Spitzel könne nicht erteilt werden, „ohne dass dem Wohl des Landes Hessen Nachteile bereitet werden“, schrieb Bouffier. Hat das Argument des Landeswohls in diesem Fall dem Täterschutz gedient? Auch diese Frage wird der hessische Untersuchungsausschuss klären müssen.

Bouffier steckt in der Bredouille
 

Genau wie die Frage, wie eng das Landesamt nach dem Mord seine Schutzmaßnahmen für Temme mit dem Innenminister abgestimmt hat. Auffällig ist jedenfalls, dass der Tatverdächtige vom Amt beraten wurde, wie er sich bei den polizeilichen Vernehmungen verhalten solle. Auch wurde ein geradezu konspiratives Treffen zwischen Temme und seiner Vorgesetzten auf einer Autobahn-Raststätte verabredet. Geklärt werden muss zudem auch, ob es je zu einem – vielleicht auch nur telefonischen – Kontakt zwischen Temme und Bouffier nach dem Yozgat-Mord gekommen ist. Bislang bestreitet der Regierungschef dies. Sollte er hier widerlegt werden, würde er wohl weiter an Glaubwürdigkeit einbüßen.

Bouffier steckt tief in der Bredouille. Ihm droht eine Vorladung vor das Münchner Gericht, wo es vor allem die Anwälte der Familie Yozgat versuchen werden, ihn in die Enge zu treiben. Und ihm droht eine Vernehmung im Untersuchungsausschuss des heimischen Landtages. Dort wird die Opposition alles daran setzen, den Ministerpräsidenten als Mitverantwortlichen für die unentdeckte NSU-Mordserie zu brandmarken. Die einzig positive Nachricht für Bouffier: Ein Ermittlungsverfahren muss er nicht mehr fürchten, weil ein möglicher Vorwurf der Strafvereitelung im Amt verjährt ist.

Dennoch kann er nicht sicher sein, ob er die Affäre auch politisch übersteht. Zwar hat er seinen geschmeidigen Koalitionspartner, die hessischen Grünen, gut im Griff. Die Truppe um Vizeregierungschef Tarek Al-Wazir wird kaum von sich aus die Koalition an einem Konflikt um Bouffiers Verhalten im neun Jahre zurückliegenden Yozgat-Mord scheitern lassen. Sollte der „Fall Bouffier“ aber in einem absehbaren zweiten NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin aufs Tapet kommen, wovon man ausgehen kann, könnte sich der Druck der Bundes-Grünen auf die Landespartei verstärken, sich von Bouffier abzuwenden.

Bouffier merkt offenbar, dass die NSU-Affäre eine unberechenbare Dynamik entwickeln und es eng werden könnte für ihn. Vergangene Woche verwahrte er sich zwar vor der Presse einmal mehr gegen alle „Unterstellungen mir gegenüber“. Gleichzeitig aber ging er erkennbar auf Distanz zum Verfassungsschutz und wollte den Dienst ausdrücklich nicht von Vorwürfen freisprechen. Er habe sich „mit keinem Wort“ dazu geäußert, „ob der Verfassungsschutz vorher von einem Mord wusste“, stellte Bouffier klar. Er könne sich so etwas lediglich „nicht vorstellen“.

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