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NSA-Affäre - Edward Snowdens „Verrat“ ist Bürgerpflicht

Edward Snowden ist Anwärter für den Sacharow-Menschenrechtspreis des Europaparlaments. Dabei ist der frühere NSA-Mitarbeiter kein Held. Er hat nur die Internet-Stasi der USA entlarvt. Deshalb wurde er zum Staatsfeind Nummer eins

Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der August-Ausgabe von Cicero. Die Ausgabe ist weiterhin in unserem Online-Shop zu erhalten

 

 

 

Das Dümmste zum US-Überwachungswahn ist nun gesagt. In der Bild-Zeitung. Formuliert von Julian Reichelt. „Snowden ist dafür verantwortlich, dass jeder Terrorist der Welt in den letzten Tagen sein Handy weggeworfen, seine E-Mail-Adresse abgeschaltet hat.“

Der Bild-Reporter weiß sogar noch mehr: Snowden, der die globalisierte Ausforschung des Internets durch die Programme „Prism“ und „Tempora“ öffentlich gemacht hat, „ist ein Held für alle jene, die in Berlin, Madrid, London Busse in die Luft sprengen wollen“.

Also ist Edward Snowden der weltweit effizienteste Sympathisant von Fundamentalisten und Terroristen. Wo immer künftig ein Anschlag gelingt, ist auch der amerikanische Ex-Geheimdienstler am Werk. Denn er hat die Täter gewarnt, er hat sie befreit von Überwachung und Ausforschung durch den amerikanischen Geheimdienst.

Die USA haben ihn wieder, ihren Staatsfeind Nummer eins. Edward Snowden ist der Bin Laden des Internets.

Ist der frühere NSA-Mitarbeiter umgekehrt ein Held all der Bürger, die befreit sein wollen von Schnüffelei und Denunziation durch Laptop-Schlapphüte? Nein. Denn in einem demokratischen Rechtsstaat bedarf es keines Heldenmuts.

Verstöße gegen den demokratischen Rechtsstaat aufzudecken, ist keine Heldentat.

Edward Snowden ist kein Held.

Er hat lediglich die als Terroristenabwehr getarnten Attacken der US-Geheimdienste auf den Rechtsstaat „verraten“ und damit das getan, was eigentlich Bürgerpflicht sein müsste. Dazu gehört Zivilcourage, auch im so bewunderten Rechtsstaat USA.

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Die Methoden der USA sind eines Rechtsstaats unwürdig


Doch wie selbstverständlich ist dieser demokratische Rechtsstaat noch? Die USA jagen ihren Bürger Snowden um die Welt. Sie erwogen sogar, Kampfjets aufsteigen zu lassen, um ein Flugzeug mit ihm an Bord abzufangen. Sie zwangen den bolivianischen Präsidenten zur Landung in Wien, weil sie Snowden in dessen Staatsmaschine vermuteten. Sie ließen ein Handelsabkommen mit Ecuador platzen, weil sich die kleine südamerikanische Nation dem unbotmäßigen US-Bürger gewogen zeigte. Sie setzen ihre europäischen Verbündeten unter Druck, um jedes Snowden-Asyl im EU-Raum zu verhindern.

Edward Snowden soll zertreten werden – wo immer er auch ist. Oder er soll mundtot gemacht werden – in einer amerikanischen Gefängniszelle.

All dies ist eines demokratischen Rechtsstaats unwürdig. Es ist ganz besonders unwürdig des mächtigsten aller demokratischen Rechtsstaaten.

Denn darin besteht doch die rechtsstaatliche Reifeprüfung: dass Skandale möglich sind, weil sie aufgedeckt werden können. Und weil sie aufgedeckt werden. Zum Schrecken der Betroffenen, im vorliegenden Fall also zum Schrecken der NSA und des Staates. Denn der Schrecken ist nötig, soll der Skandal durch Buße und Bewältigung zu Besserung führen.

Skandale gehören zum Wesen von Demokratie und Rechtsstaat. Sie machen beides auf drastische, auf unangenehme Weise sichtbar. Sie stellen beides auf die Probe.

Nur der demokratische Rechtsstaat kennt die Kultur und die Tradition der Skandale. In der Diktatur ist der einzige Skandal die Diktatur selbst.

Dem Schrecken der US-Regierung über die befreiende Tat des Bürgers Snowden müsste ein Erschrecken über sich selbst innewohnen. Es müsste schlagartig bewusst machen, dass sich ganz Washington in Geiselhaft eines Überwachungsapparats befindet, dessen Marketing sich des pathetischen Begriffs „Homeland Security“ bedient – Heimatschutz.

Es ist der US-Stasi-Apparat, der inzwischen wie ein Krake über den gesamten Globus greift. Es sind die US-Mielkes, die ihn betreiben.

Vertrauen in sie? Null!

Aber darf man Mielkes Spitzelsystem mit einem westlichen Geheimdienst vergleichen? Verharmlost man damit nicht das DDR-Unrechtsregime? Man darf. Denn die handelnden Personen und Organisationen, die im Staatsauftrag mit denunziatorischer Absicht hinter Bürgerinnen und Bürgern herschnüffeln, ähneln sich in ihrer Mentalität und in ihren Methoden. Ob einst im Sowjet-beherrschten Osten oder heute in Putins Russland. Ob in den USA oder in der Schweiz oder in Deutschland. Ob im Einzelfall zu Recht oder im Massenfall zu Unrecht.

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Männer und Frauen ohne Moral und Empathie


Es bedarf solcher Männer und Frauen mit solchen Mielke-Eigenschaften für solches Stasi-Tun. Moralfrei und empathiefrei. In jedem System einsetzbar.

All die Spitzel dieser Erde mit ihrem seltsam guten Gewissen können die Worte im Schlaf wiederholen, wie sie der einst allmächtige und dann bloßgestellte Stasi-Chef Erich Mielke am 13. November 1989 in der DDR-Volkskammer ausrief: „Ich liebe – ich liebe doch alle – alle Menschen.“

Heimatschutz ist Liebe! Militante Heimatliebe! Edward Snowden hat die NSA, den liebenden amerikanischen Heimatschutz verraten. Was gibt es Schlimmeres als Liebesverrat?

Die westlich zivilisierte Welt zappelt in einer teuflischen Falle: Sie will geschützt sein vor terroristischer Unbill. Ebenso will sie geschützt sein in ihrer westlichen Zivilisiertheit – als Welt des freien Bürgers, des Citoyens, der sich gegenüber dem Staat als Souverän betrachtet.

Die Wahrheit ist: Die bewunderte Vormacht der zivilisierten westlichen Welt hat den totalen Verdacht über diese Welt verhängt. Einen Verdacht auf Vorrat, der sich speist aus der Interpretation von Daten und daraus ablesbaren Verhaltensmustern. Im Stern bringt es der Karikaturist Til Mette auf den Punkt: Zwei Polizisten erklären einer Frau unter deren Wohnungstür: „Wir haben einen Hinweis vom amerikanischen Department of Science Fiction. Sie werden in zwei Jahren zu einem Sicherheitsrisiko. Bitte kommen Sie mit.“

Die westliche Welt hat ihren Bürgern das Vertrauen entzogen


Die USA und ihre Spießgesellen in den Hauptstädten der westlichen Welt haben den Bürgern das Vertrauen entzogen. Es ist die Umkehrung all dessen, was die Welt der Aufklärung und der Emanzipation, der Gewaltenteilung und der Demokratie, der Bürgerfreiheit und des Rechtsstaats ausmacht. Bertolt Brecht hat aus dem Aufstand der DDR-Bürger am 17. Juni 1953 die inzwischen klassische Schlussfolgerung als Frage formuliert: Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt, wäre es da nicht geboten, „die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“

Ja, vor dieser Wahl stehen die Bürger, die Citoyens der demokratischen Welt: Wollen sie einen Staat, in dem sich das Volk unter dem allwissenden und allarchivierenden Netz des Heimatschutzes furchtsam und demütig zusammendrängt? Oder wollen sie einen demokratischen Rechtsstaat, dessen Volk sich die Kontrolle über seine Stasi und seine Mielkes zurückerobert?

Edward Snowden hat seine Pflicht als Citoyen getan.

Wer tut es ihm nach?

 

 

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