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Merkels Marschbefehl - Wie sich die Kehrtwende in der Flüchtlingsfrage erklärt

Noch vor wenigen Wochen zeigte Angela Merkel in der Flüchtlingspolitik Härte, nun gilt sie vielen Hilfesuchenden als Schutzheilige. Ihre Botschaft: „Wir schaffen das.“ Wie erklärt sich diese 180-Grad-Wende?

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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Viele Flüchtlinge haben auf dem Weg nach Europa inzwischen eine Art Marienbildnis dabei. Ein Foto von Angela Merkel, ein zusammengefaltetes Stück Papier. „Wir wollen zu Mother Merkel“, sagen sie in die Kameras. Die deutsche Kanzlerin als Schutzheilige in der Jackentasche, Deutschland als Ziel der Träume im Herzen. So kommen Tausende und Abertausende verzweifelte Menschen aus den Kriegsgebieten an den Außengrenzen der Europäischen Union an. Und wollen weiter. Zu Mutter Merkel.

Diese Entwicklung hat mit einer Kehrtwende der Kanzlerin zu tun. Einer Kehrtwende, die sich zwischen dem 16. Juli und dem 31. August dieses Jahres vollzogen haben muss. Eine Kehrtwende, für die es ein Erklärungsmuster gibt.

Begegnung mit dem palästinensischen Flüchtlingskind


Erinnern wir uns: Angela Merkel war am 16. Juli zu Gast bei einer Bürgerveranstaltung in Rostock. Ein palästinensisches Mädchen, das mit seiner Familie vor der Abschiebung stand, sprach die Kanzlerin ergreifend an. Die Schülerin sprach von ihren Wünschen, Träumen und Ängsten und davon, wie unangenehm es sei, dass andere ihre Leben genießen könnten und sie nicht.

Darauf entgegnete Angela Merkel wörtlich (ab Minute 0:57):

„Ich verstehe das, und dennoch: Das ist manchmal auch hart, Politik. So, wie du jetzt vor mir stehst, bist du ja ein unheimlich sympathischer Mensch. Aber du weißt auch, in den palästinensischen Flüchtlingslagern gibt es noch Tausende und Tausende. Und wenn wir jetzt sagen: ‚Ihr könnt alle kommen, und ihr könnt alle aus Afrika kommen‘ – das können wir jetzt auch nicht schaffen.“

Als hartherzig wurde ihr das seinerzeit ausgelegt.

180-Grad-Wende


Sechs Wochen später gab eine ganz andere Angela Merkel ihre alljährliche Sommerpressekonferenz (Minute 12:40 bis 13:29). Sie zeigte Mitgefühl für den „Zustand völliger Erschöpfung auf der Flucht, verbunden mit Angst um das eigene Leben oder das Leben der Kinder oder der Partner“ und Bewundern für die Flüchtlinge, „die Situationen überwinden oder Ängste aushalten, die uns wahrscheinlich zusammenbrechen ließen“.

Und dann sagte sie angesichts der Flüchtlingswelle, die Deutschland erreicht: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an die Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so viel geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das!“

  1. Juli 2015: „Das können wir jetzt auch nicht schaffen.“
  1. August 2015: „Wir schaffen das! Wir schaffen das!“

Bei einem Thema ist mit ihr nicht zu spaßen


Über das Motiv dieser 180-Grad-Wende der Kanzlerin kann man nur spekulieren. Es gibt aber eine plausible und stringente Erklärung, wenn man sich anschaut, was dazwischen geschah, zwischen dem 16. Juli und dem 31. August.

Dazwischen brannten Heime. Dazwischen wurden Flüchtlinge von einem rechtsradikalen Mob beschimpft, bespuckt, dazwischen hatte einer dieser Neonazis in einer U-Bahn auf ein Flüchtlingskind uriniert.

Es gibt wenige wirkliche Konstanten bei Angela Merkel. Oft ist sie geschmeidig und flexibel. Aber bei einem Thema ist mit ihr nicht zu spaßen: bei Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Da kennt sie im Zweifel keine Freunde. Das musste der CDU-Abgeordnete Martin Hohmann am eigenen Leib erleben, als Merkel seine Karriere nach fragwürdigen Aussagen jäh beendete oder als sie ihrem Vertrauten Dieter Althaus in die Parade fuhr, als dieser als Ministerpräsident von Thüringen einen einschlägig beleumundeten CDU-Politiker namens Peter Krause zum Kulturminister machen wollte.

Kehrtwende mit edlem Motiv


Nicht einmal der Papst bleibt bei diesem Thema vor Attacken der Kanzlerin gefeit. Das musste Benedikt XVI. am eigenen Leib erfahren, als er sich aus Merkels Sicht zu wenig von der Holocaust-Leugnung der Piusbruderschaft distanziert hatte.

Die brennenden Heime, die zynischen Parolen und die dahinterstehende Ideologie dürften bei Merkel zur Kehrtwende beigetragen haben. Das „Nie wieder!“ hat die Kanzlerin tief verinnerlicht und in diesem Fall mutmaßlich ihre Sicht auf die Flüchtlingsfrage verändert. Das ist ein edles Motiv.

Es hat aber unbestreitbar zur Folge, dass Merkel mit diesen neuen Worten und neuen Tönen ungewollt eine Art Marschbefehl ausgesprochen hat. Vielleicht wären die Flüchtlinge früher der später ohnehin gekommen.

Dass sie aber jetzt in dieser Zahl kommen, hat direkt mit Merkels Worten zu tun. Im Zeitalter von Whatsapp und Facebook haben diese sich blitzschnell herumgesprochen – auch bis zu den Tausenden Menschen in den Krisengebieten und den palästinensischen Flüchtlingslagern, welche Merkel dem Mädchen noch als Argument vorgehalten hatte, weshalb Deutschland nicht alle nehmen könne.

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