Europa im Jahr 2017: Wohin geht die Reise? dpa/ picture alliance

Krise in Europa - Schlafwandler in Kakanien

Kolumne Grauzone: Alexander Grau denkt beim heutigen Europa an Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Kakanien ersann Musil als Metapher für die kaiserlich-königliche Monarchie in Österreich vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Roman ist das Tableau einer untergehenden Epoche im Dämmerzustand

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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Europa im Herbst 2017: Als Ergebnis der vorgezogenen Nationalratswahlen in Österreich hat Bundespräsident Norbert Hofer seinen Parteifreund Heinz-Christian Strache zum Bundeskanzler ernannt. In den Niederlanden regiert seit den Parlamentswahlen vom März eine Koalition unter Geert Wilders, seit Mai ist Marine Le Pen Präsidentin von Frankreich.

In Spanien haben die Neuwahlen zum Parlament das Patt vom Dezember 2015 nur bestätigt, seitdem ist das Land ist in einer Staatskrise. Carles Puigdemont, Präsident der Generalitat de Catalunya, hat daraufhin die Autonomie Kataloniens erklärt.

Aufgrund des Referendums vom 23. Juni 2016 ist Großbritannien aus der EU ausgetreten. Im Frühjahr 2017 erfolgte die Abspaltung Schottlands vom Vereinigten Königreich.

Griechenland ist aus dem Euro ausgetreten, seit die Abgeordneten von Syriza Ministerpräsident Alexis Tsipras die Gefolgschaft verweigerten und es zu einer Kettenreaktion kam. Das Land versinkt in Chaos, die europäische Währung droht zu zerbrechen. Beata Szydło in Warschau und Viktor Orbán in Budapest triumphieren.

Europäisch-amerikanische Beziehungen sind auf dem Tiefpunkt

 

Doch nicht nur der EU droht der Zerfall. Offen stellt der neue amerikanische Präsident Donald Trump die Existenz der Nato infrage. Ohnehin sind die europäisch-amerikanischen Beziehungen auf einem Tiefpunkt, seit das Freihandelsabkommen TTIP gescheitert ist.

Und in Deutschland? Dort ist die geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der Bundestagswahl vom September nicht in der Lage, eine Regierung zu bilden. Die Sozialdemokraten verweigern sich nach dem verheerenden Wahlergebnis einer erneuten großen Koalition. Nach dem Rückzug von Sigmar Gabriel verordnet sich die SPD einen strikten Linkskurs. Die AfD liegt mit fast 20 Prozent gleichauf mit den Sozialdemokraten. Die CSU hat die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufgekündigt und wird im Falle von Neuwahlen im gesamten Bundesgebiet antreten.

Ausgerechnet in diesen für Europa entscheidenden Monaten ist die Bundesregierung kaum handlungsfähig, was umso verhängnisvoller ist, als die Wirtschaftskrise unter dem Eindruck der politischen Ereignisse Deutschland nun mit massiver Wucht erreicht hat.

Alles falscher Alarm?

 

Nein, alles falscher Alarm! Vermutlich wird es ganz so schlimm nicht kommen. Doch allein die Tatsache, dass dieser Wahnsinn nicht kategorisch ausgeschlossen ist, sondern durchaus im Bereich des Möglichen liegt, macht fassungslos. Gut 70 Jahre nach Kriegsende, fast 60 Jahre nach den Römischen Verträgen und 25 Jahre nach den Verträgen von Maastricht ist nicht ausgeschlossen, dass in Europa ein Horrorszenario Wirklichkeit wird.

2013 veröffentlichte der australische Historiker Christopher Clark sein intensiv diskutiertes Werk „Die Schlafwandler“. Darin schildert er, wie Europa in den Ersten Weltkrieg stürzte. Das erschreckende an diesem Buch ist, dass es plausibel rekonstruiert, wie Europa in eine Katastrophe taumelte, die eigentlich keiner wollte, mit der aber sehr viele – zu viele – kokettierten.

Politische Katastrophen, so kann man aus Clarks Werk lernen, entstehen nicht immer durch die bösartige Intention einzelner Akteure wie etwa im Sommer 1939. Viel häufiger sind sie das Ergebnis einer Mischung aus Fahrlässigkeit, Übermut und Borniertheit. Damit einher geht ein Realitätsverlust, eine seltsame Mischung aus Sorglosigkeit einerseits und überzogenen Ängsten andererseits.

Diese Verbindung aus Unbekümmertheit und Phobien ist in der Lage, eine enorme destruktive Dynamik zu entwickeln. Beseelt von dem Wunsch, der Komplexität der Welt mit klaren und konsequenten Schnitten zu begegnen, führt sie in die Katastrophe.

„Man handelte in diesem Land immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte“

 

In seinem Epochenroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ charakterisiert Robert Musil diese geistig-kulturelle Melange anhand der Einwohner Kakaniens am Vorabend des Ersten Weltkriegs: „Man handelte in diesem Land immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte.“

Das Europa des Jahres 2016 scheint sich in ein großes Kakanien zu verwandeln. Im Grunde wissen alle Beteiligten sehr wohl, was sie an der EU haben und wie unverzichtbar sie bei allen Mängeln für die Wohlfahrt der Staaten Europas ist. Aber man handelt nicht so.

Natürlich ist die Geldpolitik der EZB verhängnisvoll, der Euro im Kern falsch konstruiert, die hohlen Europaphrasen aus Brüssel enervierend und die Regelungswut der Brüsseler Behörden grotesk. Von der Reformunfähigkeit Griechenlands, Italiens aber auch Frankreichs ganz zu schweigen. Doch es wird kein Zurück geben zum Nationalstaat alter Prägung. Wer es versucht, wird ein böses Erwachen erleben. Und dann werden sich alle die Augen reiben und sagen: „Das haben wir nicht gewollt.“ Doch dann ist es zu spät.

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