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(picture alliance) Antikapitalistische Rhetorik für einen islamischen Staat

Chef der Milli Görüs - Kompromiss-Imam mit schwachen Deutschkenntnissen

Seit einem Jahr ist Kemal Ergün der neue Vorsitzende von Milli Görüs, der größten und umstrittensten muslimischen Organisation in Deutschland. Obwohl er kaum Deutsch spricht, will er Milli Görüs wieder der Politik annähern

Die eine Frage ist, was jemand sagt. Die andere, wie er es sagt. Kemal Ergün ist dafür ein gutes Beispiel.

Kerpen bei Köln, ein schmuckloses Gebäude am Rande eines Gewerbegebiets. Kemal Ergün sitzt aufrecht auf seinem Stuhl. Der freundliche Mann mit Anzug und gepflegtem Kurzbart hat am Ende eines langes Holztischs Platz genommen. Er redet ein bisschen wie ein Prediger, was daran liegt, dass er lange als Imam gearbeitet hat.

Kemal Ergün spricht über Deutschland: „Wir sind jetzt hier in dieser Gesellschaft heimisch. Dies ist auch unser Land.“ Es hört sich entschlossen an.

Kemal Ergün ist seit rund einem Jahr Vorsitzender der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG), mit mehreren Zehntausend Mitgliedern eine der größten und zugleich umstrittensten muslimischen Organisationen in Deutschland. Bemerkenswert sind seine Sätze aber aus einem anderen Grund: Kemal Ergün sagt sie auf Türkisch. Denn er spricht nur wenig Deutsch.

Besser könnten zwei Sätze kaum die Probleme der IGMG zum Ausdruck bringen. Wie überhaupt die Person Kemal Ergün die Zerrissenheit der Organisation symbolisiert. Die IGMG, das ist einerseits eine Gemeinschaft mit enger Bindung an die Türkei. Vor allem die erste Generation, die einst nach Deutschland einwanderte, lebt mit dem Herzen noch immer im Land ihrer Geburt. Andererseits aber sehen deren Kinder und Enkel Deutschland längst als Heimat an. Diejenigen, die hier aufgewachsen sind, kennen die Türkei nur noch aus dem Urlaub.

Kemal Ergüns Wahl an die Spitze der IGMG gingen lange Debatten voraus, aber sie war kein Zufall. Beide Seiten konnten den 44-Jährigen akzeptieren: die „Konservativen“, die an den türkisch-islamistischen Wurzeln der IGMG festhalten wollen; und die „Reformer“, die die Organisation stärker in Deutschland verankern und mit der hiesigen Gesellschaft versöhnen wollen.

„Post-Islamisten“ nennt der Soziologe und IGMG-Experte Werner Schiffauer diese jüngere Generation.

Seite 2: Warum Ergün in zwei Welten lebt

Ergün kam Anfang der neunziger Jahre aus der Türkei als Imam nach Frankfurt. Innerhalb der IGMG besitzt er Einfluss, weil er seit 2002 den wichtigen Regionalverband Köln leitete. Er hat außerdem in Istanbul und an der renommierten Kairoer Al-Azhar-Universität Theologie studiert. Als Gelehrter genießt er bei den Gläubigen großen Respekt. Sein Profil passt zu dem Kurs der IGMG, sich stärker als Religionsgemeinschaft zu positionieren.

Dass er kaum Deutsch spricht, zeigt, wie wenig sich große Teile der IGMG-Mitglieder mit der Bundesrepublik identifizieren. Ja, sagt Ergün, natürlich habe er Deutsch gelernt, viel Grammatik. Aber weil er bis heute vor allem in den Milieus der IGMG lebt, spricht er die Sprache im Alltag kaum. „Ich habe das Deutsche vernachlässigt“, sagt er. „Mir ist bewusst, dass das ein großer Mangel ist.“

Einer, der es Milli Görüs noch schwerer macht, ihr gestörtes Verhältnis zur Politik zu verbessern. Vor zwei Jahren hatte der damalige Innenminister Thomas de Maizière die Organisation von der Islamkonferenz ausgeschlossen, weil die Staatsanwaltschaft gegen ein führendes IGMG-Mitglied ermittelte. [gallery:Türkei]

Das Verfahren wurde ohne Ergebnis eingestellt – in der Islamkonferenz fehlt die IGMG trotzdem. Dort, sagt Ergün, gehe es zu oft um das Thema Sicherheit. „Es stört uns, dass mit uns Muslimen nur über Gewalt und Terror geredet wird.“

Milli Görüs möchte als Religionsgemeinschaft anerkannt werden, was den Status der Gemeinschaft deutlich aufwerten würde. Im Weg stehen die Innenminister, die die IGMG vom Verfassungsschutz beobachten lassen. Die Sicherheitsbehörden stoßen sich vor allem daran, dass viele IGMG-Mitglieder den 2011 verstorbenen türkischen Islamistenführer Necmettin Erbakan verehren.

Erbakan, Ende der sechziger Jahre Gründervater von Milli Görüs, propagierte in antikapitalistischer Rhetorik einen islamischen Staat – was die Verfassungsschützer für unvereinbar mit dem Grundgesetz halten. Um in Deutschland mehr Akzeptanz zu finden, müsste sich die IGMG-Führung deutlich von Erbakan distanzieren. Damit aber stieße sie ihren starken traditionalistischen Flügel vor den Kopf.

Erbakan, sagt Ergün, habe für soziale Gerechtigkeit gekämpft und sich auf die Seite der Schwachen gestellt. „Er hat für die türkische Gesellschaft viel geleistet.“ Anhimmeln aber mag er ihn nicht. „Wer andere Menschen vergöttert, begeht eine Sünde an Gott. Auch Erbakan hatte Mängel.“

Die IGMG, das zeigen auch diese Sätze, lebt in beiden Welten: in der türkischen und in der deutschen. Ergün hat sich vorgenommen, die zweite besser kennenzulernen, auch ihre Sprache. Schon allein wegen seiner beiden Söhne. Die versteht er manchmal nicht. Sie sprechen zu Hause sehr oft Deutsch.

Fotos: picture alliance (Koran) und Milli Görüs (Ergün)

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