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(picture alliance) Die Idee, gegen Merkel anzutreten, ist langsam in Peer Steinbrück gewachsen

Der lange Weg des Peer Steinbrück - Kandidat mit Killerinstinkt

Am Anfang glaubte er selbst nicht an diese Idee, die nun Wirklichkeit wird: Peer Steinbrücks langer Weg zum Kanzlerkandidaten – eine Chronologie

Ersatz, das hört sich erst mal so nach Enttäuschung an, nach Notlösung und Trostpreis. Aber sieht so eine Notlösung aus, ein Trostpreis? Sigmar Gabriel hatte bei Peer Steinbrück angerufen und gefragt, ob er kurzfristig für ihn einspringen könne. Ob er es machen kann.

Jetzt steht Steinbrück im Frankfurter Marriott Hotel bei der Bankentagung des Handelsblatts am Mikrofon, während der Parteivorsitzende Gabriel am Königssee den großen Sozialdemokraten Georg „Schorsch“ Leber zu Grabe trägt.

Manch einer der vielleicht 500 Banker im Saal mag sich von Steinbrück den gewogeneren Redner erwartet haben. Gabriel war eben erst mit Furor gegen die Banken zu Felde gezogen und da wäre es nicht schwer, etwas milder aufzutreten. Aber daraus wird nichts, nicht mit Peer Steinbrück, nicht an diesem Tag. Das Steinbrück-Stakkato kommt über den Saal. Sätze wie Salven, dann wieder Pausen, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. Dazu die aufeinandergepressten Lippen, die tief hängenden Mundwinkel, die so entschlossen aussehen und keinen Widerspruch dulden.

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Derivate? „Dynamitstangen, die an beiden Enden angezündet werden.“ Finanzmärkte? „Müssen einer stärkeren Aufsicht und Regulierung unterzogen werden – ja was denn sonst?“ Haftung und Risiko? „Müssen wieder zusammengeführt werden!“ Bankenrettung am Abgrund? „Ich bin dafür, dass die eine oder andere Bank pleitegeht!“

Der Applaus bleibt in einem Ausmaß, das man bestenfalls höflich nennen kann. So viele schmale Lippen hat man lange nicht gesehen. Eine Abreibung ist das, die Steinbrück den Bankern da verpasst in ihrem Frankfurter Hotelsaal. Gabriel hätte das nicht heftiger erledigen können. Der Saal kühlt um etwa zwei Grad herunter, und Gastgeber Gabor Steingart bemüht sich, alles etwas aufzutauen für die anschließende Podiumsdiskussion: „Das ist jedenfalls die munterste Rede gewesen, die wir hier heute gehört haben!“

Was an diesem Dienstag, dem 4. September, über die versammelten Banker von Frankfurt hereingebrochen ist, war nicht mehr nur der einfache Bundestagsabgeordnete Peer Steinbrück, der seinem Parteichef einen Gefallen getan hat. Geredet hat der Kanzlerkandidat der SPD. Nicht der Lückenbüßer, sondern die Nummer eins. Der, der gegen die Kanzlerin antreten soll. Der Herausforderer. Die Sache ist ausgemacht, offenbar länger schon. Steinbrück soll es machen. Er will es, er kann es, er soll es.

Die Troika aus Sigmar Gabriel, Frank- Walter Steinmeier und Peer Steinbrück wird sich in den kommenden Wochen neu formieren. Nicht mehr drei in einer Reihe, sondern einer vorneweg und zwei, die ihn flankieren. Monatelang haben die drei in erstaunlich offenen Gesprächen unter sechs Augen ihre Stärken und Schwächen diskutiert. Mit dem Ergebnis, dass die SPD der Kanzlerin mit einem Kandidaten Steinbrück am gefährlichsten werden kann.

Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, das ist die lange Geschichte einer Idee, an die zu Anfang nicht einmal Steinbrück selbst glauben wollte. Die ihre Kraft erst entfalten musste. Jahre hat das gedauert. Die Ursprünge gehen zurück bis tief ins Jahr 2008, als Steinbrück noch Finanzminister jener Frau war, der er jetzt die Kanzlerschaft streitig machen will. Diesmal möchte er sich ihr nicht mehr unterordnen. Kanzler oder nichts, so will er in die Auseinandersetzung gehen. Er oder sie.

In den vergangenen Jahren hat man immer wieder einen Mann erleben können, der sich selbst erst an den Gedanken gewöhnen musste. Eingeprägt haben sich einige dieser Begegnungen, Kurzfilme im Kopf, bis heute kein bisschen verblasst. Zum Beispiel damals bei einem Abend in den „Weyberhöfen“ im Spessart. Eine spontane Verabredung auf halber Strecke. „Komme etwas später, aber ich komme“, hatte Steinbrück gesimst. Es ist Frühjahr 2008, und die SPD hat ein fettes Problem. Der Parteichef Kurt Beck hat der hessischen Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti gerade eine Zusammenarbeit mit der Linken genehmigt. Eine Fehlentscheidung, die wenig später am Schwielowsee zum Putsch gegen Beck führt. Und eine Entscheidung, die der SPD wie Blei in den Kleidern des nächsten Bundestagswahlkampfs hängen wird.

Seite 2: Steinmeiers Niederlage von 2009 beschäftigt die Partei noch heute

Steinbrück ist geladen an diesem Abend, richtig geladen. Es fließt viel guter Wein, und der Wirt präsentiert obendrein seine Selektion an Obstbränden. Steinbrück redet gut über Merkel und schlecht von Beck. Es ist ein hoher Respekt zu verspüren, den Steinbrück der Kanzlerin entgegenbringt. Zu diesem Zeitpunkt, die Finanzkrise hat die Welt schon erfasst, sind Steinbrück und Merkel das Rückgrat der Regierung. Sie haben mit einem gemeinsamen Auftritt im Kanzleramt in Deutschland den Bankensturm durch die Bürger abgewendet. Noch heute ist es so: Wer bei Google die Begriffe „Merkel“ und „Steinbrück“ eingibt, bekommt zusätzlich das Wort „Spareinlagen“ angeboten.

Er hält sie für eine hochintelligente Person, eine starke politische Partnerin, aber auch eine reizvolle Gegnerin in Streitfällen. Steinbrück ist Schachspieler. Merkel spielt auch gerne Schach, in der Politik. Sie reizt das Spiel mit den Figuren. Kopfschach. Er hat dafür viel übrig.

Also Herr Steinbrück, Sie als Kanzlerkandidat, wie wär’s? Da lacht er sein abgehacktes Lachen, das an das Meckern einer Ziege erinnert, nur mit einem galligen Unterton. Steinbrück schmeißt den Kopf in den Nacken: Selten so gelacht. Nein, das müsse der Frank machen. Im Übrigen sei die Sache im Prinzip schon gelaufen. „Wir haben der Merkel doch den Teller fein sauber abgeleckt.“

So kommt es auch. Frank-Walter Steinmeier tritt im Herbst 2009 an und verliert. 23 Prozent. Eine Niederlage, an der die SPD bis heute trägt, an der auch Steinmeier bis heute trägt. Es ist nicht mehr wie das erste Jahr als Fraktionsvorsitzender, das Steinmeier wie in einem Trancezustand zugebracht hat. Er hat dieses Trauma verarbeitet, aber ein Trauma zu verarbeiten, heißt nicht, die Erfahrung zu vergessen.

Viele in der SPD erhoffen sich nichts sehnlicher, als dass Steinmeier anträte. Gerade in der Parteilinken sind diese Wünsche ausgeprägt. Wenn schon einer der Stones, dann Steinmeier, das ist dort die Linie. Zuletzt hatte eine Telefonschalte von Hannelore Kraft aus Nordrhein-Westfalen, Thorsten Schäfer-Gümbel aus Hessen und Ralf Stegner aus Schleswig-Holstein den Spiegel hellhörig gemacht. Stegner hatte aus der vertraulichen Runde geplappert und wissen lassen, dass man sich auf Steinmeier als Lieblingskandidaten verständigt habe. Die Meldung wurde brutal dementiert, obwohl sie im Kern stimmte. Nur: Wenn die Parteilinke sich mit Hannelore Kraft einen Kandidaten ausguckt, ist das noch lange nicht der Kandidat.

Denn so mächtig sie sind: Am Ende wird diese K-Frage nicht von SPD-Landesfürsten entschieden. Sondern von Gabriel, wenn er sagt, dass es einer der Stones machen soll. Dass es Steinbrück machen soll. Zurück in die Zeitreise. Sommer 2010. Merkel regiert ein knappes Jahr in ihrer einstigen Wunschkoalition, und Schwarz- Gelb ist eine einzige Qual. Die Kandidatenfrage hat die SPD schon wieder eingeholt. Sie befördert sie selbst. Sigmar Gabriel, der Parteichef, sagt: „Ich bin nicht Kanzlerkandidat.“ Er erklärt Steinbrück öffentlich für einen geeigneten Kandidaten und bringt sogar eine überparteiliche Vorwahl ins Spiel, die am ehesten Steinbrück nützen würde. Im Spiegel erscheint Ende August ein Kommentar mit der Überschrift „Kanzlerkandidat Steinbrück“.

Peer, der könnte das, das weiß Gabriel schon lange. Die Frage bleibt: Kann er selbst es lassen?

Und der Kandidaten-Kandidat selbst? Er lacht auf die Frage nicht mehr das meckernde Lachen von den Weyberhöfen ein Jahr zuvor. Wieder ein langer Abend, diesmal in Berlin, diesmal beim Italiener in Kreuzberg. Kanzlerkandidat Steinbrück? Er lässt die Frage jetzt immerhin zu, windet sich aber auch, meine Frau, wissen Sie, die ist nicht begeistert von dieser Aussicht, und das Alter, und dann all die Widerstände in der SPD. Aber noch mal, und wieder und wieder gefragt: Würden Sie es am Ende machen?

Seite 3: Schröders Weg zum Kanzlerkandidaten

Und dann wird er eben doch deutlich: Ja, am Ende würde er es machen. Für Partei und Vaterland, so ungefähr hat er es dargestellt.

Die Idee arbeitet in Peer Steinbrück, sie muss sich in ihm langsam ausgebreitet haben. Er findet Gefallen an der Vorstellung. Sie schmeichelt ihm. Steinbrück ist eitel. Natürlich ist er das.

Im Spätsommer 2010, als das Samenkorn bei Steinbrück schon keimt, da lachen noch viele über diese Idee: Steinbrück, Kanzlerkandidat der SPD? Der, der die Partei einmal mit einem alten Sofa verglichen hat, der manche seiner Parteifreunde „Heulsusen“ heißt? Lächerlich, absurd. Blühender Blödsinn kranker Journalistenhirne.

Ein knappes Jahr später. Cicero zeigt im Mai 2011 Steinbrück auf dem Cover. „Wer, wenn nicht Peer?“ lautet die Titelzeile. Die Titelgeschichte schreibt Tagesspiegel- Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff. Er begleitet Steinbrück, redet mit ihm und notiert:

„Wie er da vor ein paar Wochen in der Hochschule Wildau südlich von Berlin mal eben so frei über Europa und die Welt spricht, über den Aufstieg und den Fall der Mächte, über die sich ankündigende ‚Suprematie‘ Chinas, die Türkei als Global Player in acht, neun Jahren, über Währungen finanzieller und politischer Art, über Bretton Woods vor sechseinhalb Jahrzehnten und die Notwendigkeit internationaler Vorsorge auf den Finanzmärkten heute – da kann man schon den Eindruck bekommen, dass es ihm Spaß machen würde, selbst wieder in diesem Koordinatensystem verantwortlich zu handeln. Eine eigene Größe zu sein. Wenn die SPD ihn auswählen würde, wenn dann die Leute sie wählen würden, und wenn er Kanzler werden könnte: Er wüsste bestimmt wofür. Die Partei hat die Wahl.“

Steinbrück macht ihr diese Wahl nicht leicht. Hochmögende SPD-Politiker bis hin zu Altmeister Gerhard Schröder wundern sich, dass Steinbrück nach dem Schaulaufen im Herbst 2011 mit seinem Förderer Helmut Schmidt nicht über die Dörfer gezogen ist, um sich bei den Genossen als Kandidat vorstellbarer zu machen. Schröder, auch ein Außenseiter damals, hatte das gemacht seinerzeit, als er sich vornahm, Bundeskanzler zu werden. Ablehnung schlug im entgegen im Inneren der SPD, bis sein Stratege Bodo Hombach ihm auferlegte, vor allem durch Nordrhein- Westfalen zu tingeln und eine Parteiveranstaltung nach der anderen zu absolvieren. So wurde Schröder erst denkbar als Kanzlerkandidat, als Kanzler.

Aber Steinbrück arbeitet daran, jetzt im Herbst 2012. Wenn er die Banker in Frankfurt verprügelt. Oder zehn Tage später, an einem Freitagabend in der Alten Pumpstation von Haan, Kreis Mettmann, Nordrhein-Westfalen. Dort gibt er eine Kostprobe seiner agitatorischen Kraft, seiner Kampfeslust. Begleitet hat ihn Daniel Friedrich Sturm, politischer Korrespondent der Welt und Autor einer Steinbrück-Biografie. Steinbrück möchte an diesem Abend als Kandidat des Wahlkreises 104 erneut aufgestellt werden. Er ist in Fahrt. „Die SPD tritt nicht an, um auf Platz zu spielen. Nein, sie will gewinnen!“

Nicht auf Platz, sondern auf Sieg, das ist eine Formel, die am besten zu einem Kanzlerkandidaten passt, zu Steinbrück, 65 Jahre alt, dem Mann, der nichts zu verlieren hat – und alles zu gewinnen. Auch die SPD setzt auf Risiko, mit ihm, dem kühl kalkulierenden Hitzkopf, der die Funktionäre nie gestreichelt hat.

In Haan sagt er den Satz, der schon die Chiffre für seine Kandidatur ist, was man auch daran erkennt, dass er ihn in der dritten Person formuliert: „Peer Steinbrück wird nie wieder in einem Kabinett von Frau Merkel zu finden sein!“ Das ist die Verwandlung des Peer Steinbrück.

In den Wochen vor der Wahl 2009 war er Protagonist einer großen Koalition. Nun verkörpert ausgerechnet er das Gegenteil: den Schocker gegen das einschläfernde Gift eines Wahlkampfs, der eh auf eine schwarz-rote Merkel-Regierung hinausläuft. Minister? Vizekanzler? Kanzler oder nichts. Partner von Merkel, das war einmal, jetzt sind sie Gegner.

Seite 4: Warum Gabriel nicht wollte

Sein Biograf Sturm notiert: „So wie Steinbrück die Basis aus Mettmann und Monheim, Haan und Hilden begeistert, so könnte er womöglich schon bald die gesamte Sozialdemokratie hinter sich versammeln.“

Sigmar Gabriel, der Parteichef und damit der Entscheider der K-Frage, hat in letzter Zeit viele Gespräche geführt. Er hat alle, auf deren Urteil er etwas gibt, nach ihrer Meinung gefragt. Eine Erfahrung, die er dabei machte: Selbst Leute, die persönlich von einem Kanzler Gabriel oder Steinmeier mehr zu erwarten hätten, sprachen sich für Steinbrück aus. Das hat ihm zu denken gegeben.

Gabriels Wille, es dieses Mal unbedingt selbst machen zu wollen, wird ohnehin überschätzt. Es hätte für den Parteichef viele Gelegenheiten gegeben, die beiden anderen Kandidaten zu überfahren. Stattdessen hat er stets dafür gesorgt, dass die beiden Agenda-Männer Steinbrück und Steinmeier im Rennen bleiben. Zum Beispiel beim letzten Parteitag in Berlin. Ottmar Schreiner hatte sich in einen rhetorischen Rausch geredet und die Rente mit 67 zur Disposition gestellt. Gabriel musste aufs Feld, um die Rentenrevolte niederzuschlagen. Er hätte von den dreien am ehesten mit einem Rollback à la Schreiner leben können.

Oder jetzt beim Rentenpapier der SPD-Spitze. Was war vorher nicht geschrieben und orakelt worden, dass Gabriel dies nutzen werde, die beiden anderen abzuflanschen mit einem linken Konzept, mit dem keiner der beiden als Kandidat hätte in den Wahlkampf ziehen können. Es ist nicht so gekommen. Stattdessen hat er das Konzept enger mit den beiden als mit der eigentlichen Arbeitsgruppe abgestimmt.

Für Gabriel besteht die Kunst nun darin, die Prärogative zu behalten. Und eine Rolle zu finden, die seinem Selbstbewusstsein entspricht. Er müsste die Rolle des Kanzlermachers annehmen, ohne nachher wie seinerzeit Oskar Lafontaine den Fehler zu machen, einen Kanzler fernsteuern zu wollen. Und wenn Steinbrück verliert? Dann ist es dessen Niederlage. Dann ist er weg, am nächsten Tag, rückstandsfrei. Und Gabriel ist weiter da.

Einen Vorgeschmack auf die Arbeitsteilung im Wahljahr gibt Gabriel an jenem 14. September, an dessen Abend Steinbrück in Haan die Sau rauslassen wird. Gabriel stellt in Berlin in einem kleinen Zimmer im Börsenverein des Deutschen Buchhandels ein Buch vor. „Mehr Gerechtigkeit wagen“. Geschrieben hat es Detlef Wetzel, derzeit die Nummer zwei der IG Metall und aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge des Gewerkschaftsvorsitzenden Berthold Huber.

Wetzel, ein Mann mit einem über Jahrzehnte geformten Gewerkschaftsgesicht, gehört zu den Kräften, derer sich die SPD versichern muss, wenn sie den Hauch einer Chance gegen Merkel haben möchte. Gerechtigkeit? Gabriel zitiert den Satz des Tony-Blair-Vertrauten Peter Mandelson, einem der Architekten von „New Labour“. Der habe einst gesagt: „Mir ist völlig egal, ob manche Menschen stinkreich werden.“ Vielleicht habe man Mandelson „auch deshalb Prince of Darkness genannt“.

Erst das Land, dann die Partei – der Agenda-Slogan von Schröder. „Das is’n kluger Satz“, sagt Gabriel im Schröder- Schnodderton. „Aber wenn der Satz dazu führt, dass das Subjekt in Vergessenheit gerät, dann hat die Partei ein Problem!“

Links sammelt Parteichef Gabriel die Verlorenen ein, rechts holt der Kanzlerkandidat Steinbrück die Stimmen, und die Mitte sichert Frank-Walter Steinmeier ab. Das wird die Formation sein, in der die SPD in den Wahlkampf zieht.

Sie werden nicht mehr bis nach der Niedersachsen-Landtagswahl im Januar warten mit der Ausrufung des Kandidaten. Bis Weihnachten hat Merkel ihren Herausforderer Peer Steinbrück. Schon, um für Niedersachsen in den letzten Wochen des Wahlkampfs der Sozialdemokratie einen Schub zu geben und die Chancen zu steigern, David McAllister, Merkels Darling, als Ministerpräsidenten zu besiegen. Und um dem Parteitag der CDU im Dezember etwas entgegenzusetzen. First we take Hannover, then we take Berlin.

Eine für Merkel gefährliche Komponente hat dem Kandidaten ein alter Freund hinzugefügt. Wolfgang Kubicki und Peer Steinbrück haben einen ganz kurzen Draht, schätzen sich, mögen sich. Kubicki, der FDP-Chef von Schleswig-Holstein, der den Sozialdemokraten aus dessen Jahren als Staatssekretär und Minister in Kiel kennt, hat Anfang August verkündet: „Mit Peer Steinbrück als Kanzler könnte ich mir ein Ampelbündnis sofort vorstellen.“

Seite 5: Klaus Vater über Peer Steinbrück: „Der hat diesen Killerinstinkt.“

Mit Gabriel nicht, fügt der heimliche Steuermann der FDP noch hinzu. Damit ist klar: Die einzig solide Kanzleroption, die die SPD hat, das Bündnis mit Grünen und FDP, wird am ehesten mit Peer Steinbrück als Kandidat zu erreichen sein.

Hätte Steinbrück in der SPD lauter solche Freunde wie Wolfgang Kubicki von der FDP, müsste er diesen Samstagnachmittag vielleicht nicht im Atrium des Paul-Löbe- Hauses in Berlin zubringen.

Samstag, 15. September, Zukunftskongress der SPD-Bundestagsfraktion, Steinmeier hat eingeladen, Steinbrück hat seinen Auftritt.

„Lange nicht gesehen“, ruft er bei einer zufälligen Begegnung rüber, „you are looking younger than ever.“

Und er selbstbewusster und entschlossener denn je. Zwei junge Leute wollen sich mit dem Smartphone mit ihm ablichten, einer rückt an seine Seite, der andere drückt ab. „Immer diese Fotos!“, sagt Steinbrück, aber macht dann doch den Eindruck, dass es Schlimmeres gibt, als der Mittelpunkt zu sein.

Kurz darauf tritt er ans Pult. Hinter seinem Rücken schippern die Ausflugsdampfer durch die Spreeschleife, und Peer Steinbrück tut das, was er all die Monate nicht getan hat: Er geht auf die SPD zu. Er spricht über Themen jenseits der Banken- und Eurokrise. Der Kandidat weitet sein Portfolio. Er attackiert die Familienund Gesellschaftspolitik der Union, die er in der „spießigen Biedermeieridylle des 19. Jahrhunderts“ verhaftet sieht. Er redet von Löhnen, die nicht nur ein Kostenfaktor seien für die Unternehmen, sondern wichtig für die Binnennachfrage im Land und damit für die Konjunktur.

In ihren Schlussakkorden ist diese Rede schon die des Kanzlerkandidaten. Es gehe „in den nächsten zwölf Monaten nicht nur um eine andere Politik“, ruft Steinbrück, „sondern um eine bessere Politik als jene dieser Bundesregierung“. Nach Gerhard Schröder klingt der Satz: Man werde nicht alles anders machen, aber vieles besser, hatte der seinerzeit gesagt – und Helmut Kohl in den Ruhestand geschickt.

Aber Steinbrück will es nicht nur besser machen, sondern auch anders, das ist sein Leitmotiv. Das ist sein konfrontativer Ansatz. Schröder hatte den sanften gewählt, weil Helmut Kohl nach 16 Jahren einfach reif war. Ist gut jetzt, Helmut, es reicht, das war die Botschaft. Diese Botschaft geht bei Merkel nicht. Das Volk ist ihrer nicht überdrüssig. Deshalb der harte Ansatz.

Für den Abgang am Rede-Reck hat er sich einen Begriff der Kanzlerin aufgehoben. Es gehe um die Frage, „ob wir in einer marktkonformen Demokratie leben wollen, von der Frau Merkel redet, oder lieber in einer demokratiekonformen Marktwirtschaft. Diese Frage setzen wir in den nächsten zwölf Monaten auf die Tagesordnung. Vielen Dank.“

Ein Abgang mit doppeltem Salto, und satt gestanden.

Hinterher gibt es vor allem ein Thema an den Stehtischen. War das die inoffizielle Premiere des Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück? Auffallend ist in diesen Gesprächen, dass auch aus den Lagern von Steinmeier und Gabriel keiner mehr der Grundannahme widerspricht. Dieselben Leute, die vor zwei Jahren jeden für verrückt erklärten, der in Steinbrück den Kanzlerkandidaten sah, widersprechen nicht mehr. „Die sozialdemokratischste Rede, die er je gehalten hat“, attestiert Steinbrück ein Steinmeier-Mann.

Klaus Vater hat genug gesehen und gehört für heute. Vater ist reine SPD, er arbeitete jahrelang für den Politiker Rudolf Dreßler, ein Urvieh der Sozialdemokratie. Einer wie früher Schorsch Leber.Will Steinbrück Erfolg haben und die Unterstützung der SPD in der Breite, dann muss er die Klaus Vaters überzeugen.

Vater sieht das überhaupt nicht so mit der Rede. Sozialdemokratisch soll das gewesen sein? Nein, niemals. Steinbrück habe eben die Gabe, sich der jeweiligen Situation anzupassen. Deshalb bleibe er aber weiter, was er ist: „ein bürgerlicher, linksliberaler Politiker“.

Und? Ist das Ihr nächster Kanzler? Vater seufzt. Wenn doch Steinmeier bloß nicht so … „Aber der“, sagt Vater und deutet Richtung Steinbrück, „der hat diesen Killerinstinkt.“

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