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Kalte Progression - Anatomie eines politischen Kampfbegriffes

Alle reden darüber, viele wissen nicht, was sich dahinter verbirgt. Die kalte Progression ist zu einem Synonym geworden für den gierigen Staat, der beim Steuerzahler abkassiert. Dabei treten die beklagten Effekte derzeit kaum auf 

Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Die Diskussion über die kalte Progression ist ein politischer Dauerbrenner. Auch in der CDU wird über diese immer wieder heftig gestritten, zuletzt im Vorfeld des Parteitages diese Woche in Köln. Es gibt Finanzexperten, die halten die kalte Progression für „moderne Wegelagerei“. Meist hantieren diese Experten, etwa der Bund der Steuerzahler, die Mittelstandsvereinigung der CDU oder auch die FDP, dazu mit komplizierten Formeln. Irgendwann sind viele Steuerbürger dann fest davon überzeugt, der Staat nehme ihnen die ganze, hart erkämpfte und selbstverständlich wohlverdiente Lohnerhöhung wieder ab, trotz Gehaltserhöhung sinke sein Nettoeinkommen. Zuletzt verbreitete das ZDF-Nachtmagazin am 8. Dezember diese Mär, „trotz mehr Gehalt bleibt weniger Geld“, so erklärt die Moderatorin die animierte Grafik (siehe Screenshot). Das Gerede von der „kalten Enteignung der Mittelschicht“ ist weit verbreitet.

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Ganz so einfach ist es nicht. In Deutschland gilt zwar in der Tat schon seit dem preußischen Kommunalabgabengesetz von 1893 das Prinzip: Wer mehr verdient, muss nicht nur mehr Steuern zahlen, sondern auch einen steigenden Anteil seines Einkommens. Schon der preußische Finanzminister Johannes von Miquel erfand also die Steuerprogression.

Sieben von zehn Steuerzahlern zahlen nur maximal 20 Prozent Steuern auf ihr Einkommen


Aber: Obwohl die Klagen über den gierigen Steuerstaat nicht abreißen, ist es noch immer so: Der Deutsche überweist nur ein Teil seines Gehalts und auch einen Teil jeder Gehaltserhöhung an das Finanzamt – und zwar den geringeren Teil. Kein Steuerzahler hat nach einer Gehaltserhöhung weniger Geld im Portemonnaie, nur weil der Staat ordentlich zulangt.

Der Eingangssteuersatz beträgt in Deutschland 14 Prozent, der Grundfreibetrag 8.300 Euro. Wobei tatsächlich alle Arbeitnehmer, die weniger als 11.362,99 Euro im Jahr verdienen, wegen der verschiedenen Pauschalen, die sie gegenüber dem Finanzamt geltend machen können, gar keine Steuern zahlen. Bei niedrigen Einkommen sind somit nicht die Steuern oder die kalte Progression das drängendste Problem, sondern die in der Regel höheren Beiträge zur Kranken-, Renten-, und Arbeitslosenversicherung. Rund 70 Prozent aller Steuerzahler verfügen zudem über ein zu versteuerndes Einkommen von weniger als 35.000 Euro im Jahr. Sie zahlen davon maximal 20 Prozent Steuern. Erhöht sich das zu versteuernde Einkommen zum Beispiel von 35.000 Euro um 2,86 Prozent auf 36.000 Euro, erhöht sich die Steuerlast um 314 Euro. 686 Euro verbleiben beim Steuerzahler.  

Der maximale Grenzsteuersatz beträgt 42 Prozent. Das heißt, ab einem Jahreseinkommen von 52.882 Euro werden von jedem weiteren Euro, den ein Steuerzahler verdient, 42 Prozent Steuern fällig. Von 1.000 Euro also 420 Euro. Spitzenverdiener zahlen ab einem Einkommen von 250.731 Euro sogar 45 Prozent. Dieser Zuschlag heißt Reichensteuer. Diese Reichensteuer wurde 2007 von der Großen Koalition eingeführt, nachdem Rot-Grün zuvor den Höchststeuersatz von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt hatte.

Nicht kalt, sondern logisch – seit 121 Jahren


Je mehr die Deutschen also verdienen, desto mehr kassiert auch der Staat. Aufgrund der progressiven Besteuerung wachsen die Steuereinnahmen des Staates dabei schneller als die Einkommen. Finanzminister Wolfgang Schäuble freut sich. Doch diese Logik liegt im progressiven Steuersystem. Sie vollzieht sich weder kalt noch heimlich, die Logik ist vielmehr politisch gewollt, seit 121 Jahren.

Steuerdebatten sind Gerechtigkeitsdebatten. Und es liegt somit der Verdacht nahe, dass manchem Experten, der die kalte Progression prügelt, von „staatlicher Raffgier“ oder „modernem Raubrittertum“ spricht, eigentlich das ganze progressive Steuersystem, das die höheren Einkommen der leistungsfähigeren Steuerbürger stärker belastet, ein Dorn im Auge ist. In Wirklichkeit sind sie auf eine Steuersenkung für die mittleren und höheren Einkommen aus. Doch alle Versuche, dieses progressive Steuersystem zu kippen, sind bislang am Wähler gescheitert. Deshalb gibt es in Deutschland weder einen Einheitssteuersatz, einen Stufentarif à la Friedrich Merz oder gar eine Kopfsteuer.

Natürlich ist die „kalte Progression“ trotzdem keine Erfindung von Steuerrebellen. Sie kommt allerdings an ganz anderer Stelle zum Tragen, bei den Reallöhnen.

Für einen Arbeitnehmer ist es im Grunde weniger wichtig, wie viel Geld er verdient, sondern wie viel er sich von seinem Einkommen kaufen kann. Weil die Preise ständig steigen, sinkt die Kaufkraft, auch deshalb bekommen die meisten Arbeitnehmer regelmäßig eine Gehaltserhöhung. In den letzten fünf Jahrzehnten sind die Reallöhne in Deutschland um mehr als 50 Prozent gestiegen. Seit ein paar Jahren jedoch stagnieren sie.

Kein Grund zur Eile, denn die Reallöhne steigen stärker als die Inflation


Wenn das zu versteuerende Einkommen also von 35.000 Euro um 2,86 Prozent steigt, die Inflation beträgt aber 3 Prozent, dann steigt zwar das Nettoeinkommen, aber die Kaufkraft sinkt. Bei einer Inflationsrate von 2 Prozent würde die Kaufkraft des Arbeitnehmers sogar allein in Folge der progressiv steigenden Steuerlast sinken. Die zusätzlichen Steuern betrügen 314 Euro, der Kaufkraftverlust 700 Euro, bei einer Einkommenserhöhung von 1000 Euro macht das ein Kaufkraft-Minus von 14 Euro. Die kalte Progression würde zuschlagen.

Momentan jedoch ist dies ein theoretischer Effekt. Schließlich befindet sich die Inflation in Deutschland derzeit auf einem historischen Tiefststand. Im November 2014 betrug die Inflation in Deutschland lediglich 0,6 Prozent. Die Zuwächse bei Löhnen und Gehältern hingegen fallen deutlich höher aus, das heißt auch, die Reallöhne und die Kaufkraft steigen. Das ist ein Grund, warum Wolfgang Schäuble beim Thema kalte Progression keine Eile hat.

Progression hin, kalte Progression her. Von Zeit zu Zeit bleibt dem Bundesfinanzminister allerdings nichts anderes übrig, als den möglichen Effekten entgegenzuwirken und die Eckwerte des Einkommensteuersystems anzupassen. Denn: Je höher die Einkommen steigen, desto mehr Steuerzahler trifft der maximale Grenzsteuersatz von 42 Prozent. Gäbe es solche Anpassungen nicht, würde dies in letzter Konsequenz sonst irgendwann sogar auf einen Einheitssteuersatz von 42 Prozent hinauslaufen. Und das ist beides auch nicht im Sinne des progressiven Steuersystems. Die letzte Anpassung erfolgte im Jahr 2010.

Natürlich könnte der Gesetzgeber diese Anpassung auch automatisieren, eine automatische Steuerbremse beschließen. Er könnte festlegen, dass die Eckwerte jedes Jahr an die Preisentwicklung angepasst werden. Nur, das gefällt dem Finanzminister überhaupt nicht, gingen ihm doch nicht nur die quasi automatisch steigenden Steuereinnahmen flöten, sondern er verlöre vor allem seinen finanzpolitischen Gestaltungsspielraum und damit Macht. Auch jetzt will die CDU erste Schritte bei der Entlastung der Mittelschicht von den Effekten der kalten Progression in dieser Legislaturperiode nur dann gehen, wenn es im Haushalt dazu finanzielle Spielräume gibt. Das heißt, nur dann, wenn der ausgeglichene Haushalt dadurch nicht in Gefahr gerät. Doch die selbsternannten Kämpfer gegen das staatliche Raubrittertum werden keine Ruhe geben. Die kalte Progression wird also ein Dauerbrenner in allen steuerpolitischen Debatten bleiben. Und ein Kampfbegriff.

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