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Jürgens kleine Welt

Sein Weg vom hasenfüßigen Pfadfinder bis zum Ministerpräsidenten führte durch ein halbes Jahrhundert und lässt sich doch in einem Feldspaziergang abschreiten. Eine Spurensuche in Brauweiler, der Heimat von Jürgen Rüttgers

Der Junge mit dem roten Haar schaut misstrauisch: „Rüttgers? Die wohnen gleich da vorne.“ Er zeigt auf einen schlichten, sauberen Bungalow am verschneiten Feldrand. „Wenn Sie was von meinem Vater wollen, der ist nicht zu Hause. Sonst klingeln sie einfach bei meiner Mutter.“ Darf man das, einfach bei der nordrhein-westfälischen Landesmutter klingeln? „Machen Sie ruhig“, sagt die Piepsstimme von Jürgen Rüttgers drittem Sohn. „Die ist am Anfang genervt, aber dann lässt sie sich immer ins Gespräch verwickeln.“ Angelika Rüttgers, praktische Kurzhaarfrisur, randlose Brille, Rollkragenpullover, öffnet die Tür. Freundlicher Blick zum Gegenüber, strenger Blick zum Sohn auf der Straße: „Herr Rüttgers!“, ruft sie. „Ab ins Haus und Mütze anziehen, sonst frieren Ihnen die Ohren ab!“ Herr Rüttgers gehorcht. Im Hintergrund tuckert ein Traktor vorbei. Willkommen in Pulheim-Sinthern, katholische Provinz hinter Köln, Heimat des Ministerpräsidenten. Jürgen Rüttgers hat es weit gebracht in den vergangenen 58 Jahren, und doch wieder gar nicht. Anderthalb Kilometer liegen zwischen Sinthern und Brauweiler, dem Nachbarort, in dem er aufgewachsen ist. Nach mehreren Fehlgeburten bringt ihn 1951 die Kindergärtnerin Käthe Rüttgers zur Welt, als lang ersehnten Erstgeborenen, als Sonnenkind. Käthe, erinnert man sich im Ort, war eine liebevolle, resolute Frau. Während des Lehrermangels nach dem Krieg hilft sie an der Volksschule aus, ist ganz besonders auf Reinlichkeit bedacht, prüft jeden Morgen akribisch die Hände und Schwämmchen der Schüler auf ihren Sauberkeitszustand. Ihr Mann Willi, Bauernsohn aus der Eifel, handelt in einem Verschlag am Feldrand mit Elektroware. Er gilt als schweigsamer Tüftler, bodenständig, risikofeindlich, sparsam. Die beiden sind alt, als sie Eltern werden, Käthe 38, Willi 47, und das späte Kind ist ihr Lebensinhalt: „Die haben alles für den Jürgen gemacht“, sagen Bekannte. Willi ist fleißig, ackert rund um die Uhr in seiner Werkstatt, rüstet auf: Von einem Verwandten übernimmt er ein kleines Haus auf der Bernhardstraße im Ort. Die Familie lebt im Obergeschoss, unten floriert Willis Elektroladen. Käthe steht an der Theke, er macht Montage aus dem Hinterzimmer, vor der Ladentüre liegt Jürgen, der Wonneproppen, in seinem weißen Kinderwagen und entzückt die Brauweiler Kundschaft. Die kommt so zuverlässig, dass Willi sich irgendwann Lehrlinge leistet, später sogar einen Ford. Als Jürgen eingeschult wird, sind die Rüttgers für Brauweiler Verhältnisse reich. Jedenfalls so sehr, dass die pädagogisch ambitionierte Käthe ihrem Sohn zum ersten Schultag die kleinste Schultüte der Klasse verpasst. Damit die ärmeren Kinder nicht neidisch werden. „Grässlich“ sei das gewesen, sagt Rüttgers seinem Biografen Volker Kronenberg. Dabei wird gesellschaftliche Akzeptanz im Brauweiler der fünfziger Jahre gar nicht so sehr über Geld definiert: Auf der Volksschule herrscht strikte Konfessionstrennung. Protestantenkinder haben einen eigenen Schultrakt, eigene Lehrer, eine eigene, feinsäuberlich markierte Pausenhofseite. Weil es Toiletten nur auf der katholischen Seite gibt, finden auch die Pausen zu unterschiedlichen Zeiten statt. „Das durfte sich nicht mischen, die Protestanten waren ja Abtrünnige“, erinnert sich Klaus Kieferle, ein jüngerer Schulkamerad. Vielleicht, weil das Alter die Eltern übervorsichtig macht, vielleicht auch, weil ihm der heilsame Druck einer Geschwisterriege fehlt, wächst Jürgen zu einem hasenfüßigen, schüchternen Bub heran, der selten dabei ist, wenn die anderen Kinder durch den nahe gelegenen Königsdorfer Wald toben oder Höhlen mit den Strohballen auf den umliegenden herbstlichen Feldern bauen. Möglich, dass Käthe ihren Sohn deshalb mit acht Jahren zu Hans-Dieter Vogt schickt, dem Gründer des katholischen Pfadfinderstammes vor Ort. Er erinnert sich heute noch, wie der kleine Wölfling Rüttgers damals vor ihm stand: „Ängstlich und zaghaft, aber in erlesener Kleidung, das war der Mutter immer wichtig.“ Zuverlässig sei Jürgen gewesen, erzählt der alte Pfadfinder mit dem Vollbart, aber viel zu steif und skrupulös für sein Alter. „Sei doch mal ein bisschen spontaner“, sagt er ihm damals: „Trau dich doch mal, Kind zu sein!“ Aber es wird nicht besser, auch nicht dadurch, dass er im Sport „eine absolute Null“ ist. Als die Pfadfinder im Sommer 1961 im Allgäu einen 600-Meter-Hügel besteigen, bleibt er als Einziger unten sitzen: „Der Berg war ein Klacks, aber dem Jürgen war das zu anstrengend. Das kam bei den anderen nicht gut an“, sagt Vogt. Stattdessen, erinnert er sich, verbringt Jürgen auf Ausflügen viel Zeit damit, eine vorher akribisch angelegte Postkartenliste abzuarbeiten. Als die Pfadfinder ein Jahr später nach Paris fahren, bekommt niemand Post vom kleinen Jürgen. Denn wegen des Algerienkriegs brodelt es unruhig in Paris – das ist Käthe Rüttgers zu heikel; Jürgen muss alleine zu Hause bleiben. Im Elektroladen hilft er jetzt öfter aus, der Vater hofft auf einen Erben, die Mutter hat andere Pläne für den Sohn: Jürgen soll Abitur machen, und zwar am „APG“, dem renommierten Kölner Apostel­gymnasium, katholische Knabenschule, Kaderschmiede des rheinischen Klüngels, dessen Schüler sich auch in den Sechzigern noch anständige Ohrfeigen von kriegsversehrten Lehrern einfingen, vor allem aber: die Schule Konrad Adenauers, als dessen Enkel Jürgen Rüttgers sich bis heute versteht. Der Vater ist mäßig begeistert, wendet sich gar verzweifelt an Vogt: „Dieter, sag dem Jungen doch, er soll eine Lehre machen!“ Aber die Mutter setzt sich durch. So steigt in Brauweiler jeden Morgen ein hagerer Brillenträger mit akkurat geschnittenem Haar, Krawatte und einem leicht zischelnden Sprachfehler in den Bus nach Köln-Lindenthal, um pünktlich um sieben seinen Platz in der ersten Bank rechts einzunehmen. Er kommt nie zu spät, sagt sein damaliger, streng jesuitisch geprägter Klassenlehrer Hans Oster. Er lächelt, wenn er an Rüttgers denkt: „Ein guter Junge, ordentlich und strebsam.“ Besonders stark in Religion, Geschichte und Philosophie, nicht so stark im Sport. Während der Fußballspiele wird er in der Verteidigung geparkt, lehnt meist am Pfosten, diskutiert mit dem Torwart den Spielverlauf. Auch im Schulalltag bleibt er zunächst blass. Nur im allwöchentlichen Schulgottesdienst, den er nie verpasst, fällt er auf, weil er lautstark und ergriffen mitsingt und die Mitschüler ermutigt, es ihm gleichzutun. „Fromm war er, der Jürgen“, sagt sein Klassenkollege Jürgen Auer, „immer adrett, niemals schmuddelig. Mamas Liebling eben.“ Der Tadellose aus Pulheim. In den ersten Jahren am APG haben die wenigsten Mitschüler eine wirkliche Meinung zu Jürgen. Er wird als steifer Pedant belächelt, aber dennoch für liebenswürdig befunden, nur seine Brauweiler Volksschulprägung sorgt für Unmut: „Der Jürgen“, sagt ein Schüler von damals, „dachte in Lagern und tat sich mit Protestanten schwer.“ Zu denen gehörte auch Wolfgang Hepner, Rüttgers Gegenentwurf: evangelisch, Parkaträger, Sitzenbleiber, Klassenrebell. „Rüttgers war ein Ja-Sager, einer, der den Lehrern das Klassenbuch hinterhertrug. Was Oster sagte, wurde von Rüttgers umgesetzt, deshalb war er auch sein Lieblingsschüler“, erklärt er. Doch ansonsten entzieht Jürgen sich durch distanzierte Unnahbarkeit dem Urteil seiner Altersgenossen. Selbst Albrecht Hahn, drei Jahre sein Tischnachbar, durchblickte ihn nicht ganz: „Sein Privatleben hielt er immer diskret bedeckt. Den besten Schulfreund gab es nicht, dazu war er zu stark aufs Elternhaus konzentriert. Rüttgers kam morgens mit dem Bus und verschwand nach der Schule gleich wieder. Wer er wirklich war? Das wusste keiner so richtig.“ Wenn er eines wirklich ist in dieser Zeit, dann Pfadfinder. Peter Reinirkens war damals sein Ausbilder, jetzt sitzt er in seinem Brauweiler Wohnzimmer und raucht Pfeife: „Wir Pfadfinder waren der einzige echte Freundeskreis vom Jürgen“, sagt er. Der zaudernde Wölfling von damals hatte sich über die Jahre durch Ehrgeiz die Achtung der Leiter erarbeitet. Die sportlichen Mängel kompensiert er durch musikalische Bewaffnung: Er bringt sich selbst das Banjo- und Posaunespielen bei, erringt so am Lagerfeuer die Macht der Liedauswahl. Vier Jahrzehnte später fordert Rüttgers als Ministerpräsident: „Jedem Kind ein Instrument“. Sein Lieblingslied damals: „Negeraufstand war in Kuba“, erzählt Reinirkens. Sehr verantwortungsbewusst sei er gewesen, erinnert sich Vogt. Er weiß noch, wie er und Rüttgers die Pfadfinder einmal mit selbst gemachtem Nudelsalat verpflegten: „Es ging daneben und schmeckte zum Kotzen.“ Vogt würgte mit Mühe eine Portion herunter, Rüttgers aber nahm sich demonstrativ einen dicken Nachschlag. „Wir zwei haben Scheiße gebaut, aber Rüttgers stand dafür gerade.“ So kommt es, dass Jürgen mit 14 Jahren stolzer Stammesleiter der Brauweiler Pfadfinder wird. In seiner Sippe findet sich auch Klaus Kieferle aus der Volksschule wieder. „Streng und sehr korrekt“ sei Rüttgers gewesen, aber gar nicht humorlos: Als die Wölflinge ihm einmal Frösche in den Schlafsack stecken, nimmt er das gelassen hin. Nur destruktiver Schabernack wie das beliebte Fahnenklauen ist ihm zuwider. Die wöchentlichen Sippentreffen hält er zu Hause ab, in seinem dafür hergerichteten Pfadfinderkeller. Dort wird gesungen, werden Knoten geübt, gelernt, Käthe Rüttgers bringt Limonade, Willi manchmal seinen selbst gebackenen Pflaumenkuchen. Wer brav war, durfte in den Pausen zur Belohnung in Jürgens Micky-Maus-Sammlung blättern. „Das alles war nie ein Spiel für ihn“, sagt Kieferle: „es war eine Lebensaufgabe, in der er aufging. Er sorgte für Zucht und Ordnung, und das lag ihm.“ Weniger geordnet verläuft derweil das Leben seiner Schulkollegen, Jürgen nimmt kaum daran teil. Die Klasse zieht an den Wochenenden Kölner Bands wie den „Stowoways“ oder den „Misfits“ durch lokale Rockscheunen hinterher, Jürgen bleibt lieber in Brauweiler. Dort sitzt er zusammen mit Vogt in seinem aufgeräumten Zimmer im ersten Stock, die Wände hat er mit Instrumenten und afrikanischen Masken verziert, raucht Pfeife und quatscht die Abende durch, über Politik, Musik, Geschichte. „Zu Hause, bei den Eltern, das war immer seine Burg“, sagt Vogt. Wenn dagegen im „Olshausen“, dem Partykeller hinter der Schule, im Blümchenhemd betrunken Mädchen geknutscht wurden, war das nicht so sein Ding. Und beim legendären Streich auf der Klassenfahrt nach Rom, als eine Gruppe Schüler einen Eimer Persil in den Brunnen an der Piazza Navona kippt, der daraufhin in einem Schaumberg versinkt, ist Rüttgers nicht dabei. Er läuft währenddessen mit durchgedrücktem Rücken neben seinem Klassenlehrer durch die Straßen, den Stadtplan in der Hand für den Fall, dass der Lehrer sich verläuft. An der beruhigenden Autorität des Lehrkörpers hält Jürgen auch deshalb fest, weil der frivole Geist der sechziger Jahre seinem heilen Brauweiler Weltbild den Kampf ansagt und dieses Weltbild gerade in Köln denkbar verstörend aus den Angeln hebt. Es ist die Zeit der „Kunsthappenings“. In der Kunsthalle werden Kälber geschlachtet, Autos zertrümmert und Lämmer gekreuzigt, während auf den Straßen gegen alles demonstriert wird, was Jürgen heilig ist. Die Klassenkameraden lassen sich vom linken Zeitgeist mitreißen. Einer von ihnen war Ulrik Remy: „Das alles war für Rüttgers absolut grauenhaft“, erinnert er sich. „Ja seid ihr denn alle verrückt geworden! Ihr wisst doch gar nicht, wovon ihr sprecht!“, fährt der einst so stille Rüttgers die Mitschüler an, wenn sie ihm mit linksrevolutionärem Halbwissen kommen. „Natürlich blieb Rüttgers immer ein bisschen piefig“, sagt Remy. „Aber irgendwie mochte und respektierte man ihn für seine Unbestechlichkeit. Er vertrat seine Meinung fundiert gegen die Mehrheit, das imponierte uns.“ Wie sehr, beweist Rüttgers 1968, ein Jahr vor dem Abitur. Auf den Kölner Straßen demonstrieren Zehntausende gegen eine Fahrpreiserhöhung der Kölner Verkehrsbetriebe, Studenten wie Schüler. Als die APG-Leitung ihren Schülern die Teilnahme an der Demo verbietet, marschiert der Mob ergrimmt auf die Schule zu, um die „kathofaschistische Bastion der Konservativen“ im Sturm zu nehmen. „Die Klasse johlte, die Lehrer liefen herum wie die aufgescheuchten Hühner“, erinnert sich ein Schüler. Hans Oster, damals Vertrauenslehrer, wird als Verhandlungsführer vorgeschickt, alleine. Bis Rüttgers kommt. Er mobilisiert einen Pulk von Schülern, verteilt sie um Oster, stellt sich dem Lehrer an die Seite und ruft: „Herr Oster, wir stehen hinter ihnen!“ Die Begegnung verläuft friedlich, die Demonstranten ziehen weiter, nur Rüttgers, der steht eigentlich heute noch dort: Mit dem einen Fuß hinter Oster und allem, was er verkörpert. Mit dem anderen in Brauweiler mit allem, was dazugehört. Viel weiter musste und wollte er nie gehen. Nach dem Abitur waren es nur ein paar Hundert Meter vom APG zum Haus der katholischen Studentenverbindung Rappoltstein gegenüber. Sein Eintritt bedeutete die lebenslange Vernetzung mit der Kölner Elite seiner Fasson. Im selben Jahr spaziert er zum Brauweiler CDU-Ortsverband, tritt bei, geht weiter in die Kommunalpolitik, wird Vorsitzender der rheinischen Junge Union, Bundesminister unter Kohl, Oppositionsführer im Landtag – und bleibt doch zu Hause. Von der CDU, unter deren lauschiges Dach er Nordrhein-Westfahlen 2005 nach 39 Jahren SPD-Regentschaft führt, sagt er einmal, sie soll Familie sein, eine Heimat, ein Ort „wider den Zeitgeist“. Ein Fleckchen wie Brauweiler. Dort übrigens lernt er seine Frau Angelika auf einer Unions-Fete kennen. Sie ist Kindergärtnerin wie Käthe Rüttgers. Man sagt, sie passt in die Ortschaft, Jürgens Wiege, seine Burg.

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