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(picture alliance) Bundesvorstand der Piraten. Alles, nur kein Frontalunterricht

100 Tage Piraten - Ist der Hype nun vorbei?

Langsam flaut der Hype um den Berliner Landesverband der Piratenpartei wieder ab. Nach den ersten 100 Tagen mit den Freibeutern im Parlament hat sich der Wählerzuspruch trotzdem fast verdoppelt. Sind die Piraten vielleicht doch keine urbane Protestpartei, wie es sie in der Geschichte der Bundesrepublik schon mehrfach gegeben hat?

Es ist ruhiger geworden um die Berliner Shootingstars von der Piratenpartei. Der Hype scheint ein wenig vorüber, die kritischen Stimmen mehren sich und nach dem Rausch der vergangenen Monate stellt sich, angesichts nun doch zweier Landtagswahlen in den kommenden Monaten die Frage, ob das Berliner Ergebnis wiederholbar sei. Wenngleich nicht in diesen Dimensionen erscheint der Einzug der jungen Partei in beide Landtage nicht gänzlich unwahrscheinlich. Aber warum?

Folgt man den euphorischen Kommentaren nach der Berlin-Wahl, sind die Piraten bereits breit verankert in der Gesellschaft. Sie sind zudem die Antwort auf die digitale Spaltung der Gesellschaft und damit endlich auch wieder Zeichen eines Generationenkonflikts. Überdies erhellen sie das politische Klein-klein des alltäglichen politischen Aushandlungsprozesses durch ein Anrufen der basisdemokratischen Reinheit der Lehre und sind somit Hoffnungsanker in der postdemokratischen Depression. Die Beurteilung des Berliner Wahlerfolgs folgt dabei aber vielfach mehr dem Wunsch denn der Realität. Dabei liefert der Berliner Fraktionsvorsitzenden der Piraten Andreas Baum selbst die plausibelste Erklärung: das schlechte Angebot der anderen Parteien. Und Renate Künast pflichtete ihm bei, die Piraten hätten das Lebensgefühl der Stadt Berlin getroffen.

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Ein urbanes Protestphänomen…

Nun ist es eine Binsenweisheit, dass Berlin nicht die Republik ist, dennoch lässt sich am auch am Berliner Beispiel gut erkennen, dass die Piraten zunächst ein urbanes und ein Protestphänomen sind. Damit stehen sie in der jüngeren Parteiengeschichte indes nicht allein. Der Blick wandert zunächst nach Hamburg. Hier ließ sich über fünfzehn Jahre ein solches urbanes (Protest-)Phänomen beobachten. Mit dem Aufkommen der Statt-Partei in den frühen neunziger Jahren löste sich ein hoch volatiles – heute würde man wohl sagen Wutbürgertum – von den etablierten Parteien, und hievte letztlich Ronald Schill auf knapp zwanzig Prozent. Infolgedessen gab es auch in den Ländern ein kurzes Umfragehoch für Schill.

Ähnlich kann, bei allen offensichtlichen Unterschieden beider Parteien, das Berliner Wahlergebnis gelesen werden. Seit 1999, und verstärkt seit dem Zusammenbruch der Union infolge des Berliner Bankenskandals, hat sich in der Bundeshauptstadt eine große Wählergruppe außerhalb der etablierten Parteien versammelt, die nun auch zu großen Teilen zu den Piraten geschwenkt ist. Bereits 1999 hatten Berliner Umfragen den anderen Parteien ein Potential von 7% bescheinigt, 2006 waren es bereits 10,6% und seit 2007 in Umfragen zwischen 10 und 16%. Die Grauen Panther kamen 2006 mit dem plakatierten Wahlslogan „Poppen für 'ne sichere Rente?“ auf immerhin 3,8 Prozent.

Der Boden war bereitet, schließlich stieg der Wähleranteil der anderen Parteien 2011 auf knapp 17 Prozent. Und die Piraten waren die größten Profiteure. Schließlich glich ihr Aufkommen, aber auch ihr Auftreten oder etwa ihre deutlich männliche Wählerschaft nahezu idealtypisch einer Protestpartei: jene bilden sich gemeinhin relativ plötzlich um ein Reizthema herum, sprechen dabei den etablierten Parteien offensiv Problemlösungskompetenzen ab und setzen zugleich auf kalkulierte Regelverletzungen. Nimmt man all diese Indikatoren, dürfte es mindestens im Saarland – auch hier gibt es bereits seit 2004 einen solchen politischen Rand von elf Prozent – Chancen für die Piraten geben, die hier in direkter Konkurrenz zur Linken stehen.

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…an den gesellschaftlichen Problemen vorbei

Nun ist Protest als Seismograph nicht das Schlechteste für eine Demokratie. Nicht selten beleben Proteste diese, sind sie auch Lernort demokratischer Verfahren. Aber wogegen protestieren die Piraten eigentlich, diese junge Avantgarde, die post-gender, bisweilen post-öko und vor allem post-gesellschaftsorientiert Freiheit für die eigene "peer group" einfordert? Während Gleichaltrige in Spanien, Frankreich, Griechenland und anderswo die gerechte Verteilung konzentrierter Vermögen einfordern und die gerechte Teilhabe an der künftigen Gesellschaft propagieren, kümmern sich Piraten um freie Lizenzen.

Das ist ein großes Thema, doch wichtiger als lizenzfreie Schulbücher ist die Beseitigung von Exklusionsmechanismen des deutschen Bildungssystems. Und da ist, Hamburg hat es gezeigt, Basisdemokratie und Partizipation längst nicht der Königsweg. Wichtiger als die plakative Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen ist eine Antwort auf die Frage, woher dieses Geld kommen soll – eine App wird hier nicht reichen. Wichtig ist auch die Beantwortung der Frage, wie eine künftige Gesellschaft im Gesamten und nicht nur für die Kreativ-Community gedacht werden kann.

Ausdruck, nicht Lösung der postdemokratischen Krise

Denn Politik ist weit mehr und sollte auch weit mehr sein als eine auf Software und Zugang reduzierbare Kulturtechnik. Aber genau dort sehen die Piraten die größten Potentiale, wird von Partei wie von Kommentatoren das hohe Lied des Versprechens auf Beteiligung und Transparenz gesungen. Absolute Transparenz ist aber auch Gefährdung: Viele Verhandlungen, von Friedens- bis Tarifverträgen, der Schutz von Minderheitsrechten oder Mediationsverfahren zugespitzter Konflikte, das eigene Leben ausgebreitet in öffentlichen Netzwerken- all dies braucht bisweilen auch den Schutz vor Öffentlichkeit.

Bliebe noch das Beteiligungsversprechen. Nimmt man die digitale Spaltung der Gesellschaft als gegeben, so werden durch "liquid democracy" und "liquid feedback" die Abgehängten der Digitalisierung exkludiert. Alle anderen wären aufgefordert, ständig zu partizipieren. Aber wenn man eines inzwischen aus der Beteiligungsforschung sicher weiß, dann dass dauerhafte Partizipation zum einen überfordert und übersättigt und zum anderen nur wiederum von exklusiven, hochgebildeten Minderheiten genutzt wird. Verbunden mit den digitalen Hürden kann nur eine Minderheit gemeint sein: Die Piraten-Community selbst. Der Erfolg der Piraten wäre demnach kein gesellschaftlicher Aufbruch, nicht einmal ein Projekt, sondern lediglich das Produkt einer Aufmerksamkeitsökonomie und deren lang übersehener Protagonisten.

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