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(picture alliance) Im Polit-Wirr-Warr der Sozialen Netzwerke

Trotz Piraten - Internet ohne politische Schlagkraft

Der Erfolg der Piratenpartei hat die Debatte um Netzthemen in der Politik und die Wählerkommunikation im Web 2.0 wieder neu aufgeworfen. Der Wahlerfolg der Seeräuber suggeriert, Social Media & Co. seien unabdingbar für die politische Kommunikation geworden. In Wahrheit belegt er, dass wir noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen sind.

Es sieht aus wie eine Zeitenwende. Schaut man auf die politische Bewegungen, die in den letzten Monaten Schlagzeilen gemacht haben, könnte man meinen, Social Media sei das politische Instrument des neuen Jahrtausends. In Tunesien und Ägypten siegten sogenannte Twitter- und Facebook-Revolutionen. Die Jugendlichen an der Madrider Puerta del Sol und in Tel Aviv sind ebenfalls bestens via Internet organisiert. Selbst für die Krawall-Kids in London war das Netz Teil ihrer Rebellion. Gibt das Netz in der Politik als mittlerweile den Takt vor? Führt bei der politischen Mobilisierung kein Weg mehr am Internet vorbei?

Der Eindruck drängt sich auf. Schließlich haben die Digital Natives in Berlin mit den Piraten nun sogar erstmals in ein deutsches Landesparlament geschafft. Plötzlich sind die Piraten in aller Munde. Die politischen Newcomer sehen sich selbst gerne als Repräsentanten der digitalen Revolution und werben für eine Liquid Democracy, einer direkteren Bürgerbeteiligung an allen demokratischen Entscheidungsprozessen übers Internet. Doch tatsächlich zeigt der Wahlerfolg der Piratenpartei in Berlin, die analoge Politik ist noch längst nicht aus der Mode gekommen.

Ein Blick ins Web 2.0 zeigt zwar, die Piraten haben mit über 56.000 nicht nur mehr Follower bei Twitter als jede andere Partei. Sie sind mit knapp 9.300 Tweets auch aktiver. SPD und CDU liegen mit 18.673 und 15.136 Followers weit zurück. Nur die Grünen sind den Piraten mit 34.706 Followers auf den Fersen. Ähnlich sind auch die Zahlen bei Facebook. 28.744 gefällt die Piratenpartei, die Grünen liegen nur knapp dahinter mit 28.549 Anhängern, die SPD schafft es mit immerhin 23.116 auf Platz drei. CDU und FDP liegen deutlich weiter hinten mit 15.725 und 15.335 Fans.

Trotzdem scheinen diese Zahlen in keiner Weise den Erfolg der Parteien bei den Wählern widerzuspiegeln. „Je größer ihre Aktivität im Netz ist, desto geringer ist ihre Reichweite, sprich ihre tatsächliche Wirkung auf den Wahlausgang.“, so das überraschende Fazit zum Berlin-Wahlkampf von Klas Roggenkamp, einem Digital Native und Geschäftsführer der Agentur compuccino, Betreiber der Internetplattform „wahl.de“, die die Online-Aktivitäten von Politikern, Kandidaten, Mandat- und Funktionsträgern misst und vergleicht. „Der Wahlausgang kann in keiner Weise mit dem Einsatz von Social Media oder der Online-Präsenz der Parteien erklärt werden.“

Nun könnte man meinen, das Alter der User sei für die feste Verankerung der Piraten im Social Web verantwortlich. Schließlich nutzen jüngere Menschen dieses häufiger und selbstverständlicher. Und waren die Piraten in Berlin nicht vor allem von Jung- und Erstwählern gewählt worden?

Doch das Alters-Argument ist auf den zweiten Blick nicht besonders überzeugend. Professor Christoph Bieber von der NRW School of Governance spricht von fließenden Altersgrenzen, die sich jedes Jahr verschieben. "Die Nutzung der Online-Kommunikation ist inzwischen für viele Menschen selbstverständlich geworden, auch für 40- oder 50jährige. Erst in den Altersstufen jenseits der 60 gehen deutlich weniger Menschen ins Netz, allerdings werden bei den "Silver Surfers" die größten Wachstumsraten verzeichnet."

Das Durchschnittsalter eines Facebook-User liegt in Deutschland zwischen 30 und 40 Jahren, also jenseits der Kategorie „jugendlich“. „Der ältere Teil der Bevölkerung wächst mit“, so Webexperte Roggenkamp, entscheidend sei das Mitteilungsbedürfnis, „ob jung oder alt ist da nicht von zentraler Bedeutung.“ So heterogen und flexibel wie das Medium selbst sind offenbar auch seine User.

Den Erfolg der Piraten sieht Roggenkamp nicht darin, dass sie es verstehen, die Sozialen Netzwerke für sich besser zu nutzen oder in ihrem netzpolitischen Fokus. Vielmehr hätten sie deshalb so viele Wähler mobilisiert, weil sie völlig anders als die großen, etablierten Parteien an Politik herangehen. Zudem hebt Roggenkamp den analogen Wahlkampf der Piraten in Berlin hervor: „Ausschlaggebend war ihre Plakatkampagne, mit nur 12.000 Plakaten konnten sie sehr viele Menschen erreichen.“

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Ähnlich sieht dies auch Prof. Dr. Christoph Bieber. „Die Piratenpartei hat keine Hochglanzpolierte Internetkampagne gefahren, sondern sie ist auf die Straße gegangen und hat mit den Menschen gesprochen.“ Ihre Digitalkompetenz sei insofern entscheidend, weil sie dadurch intern sehr gut vernetzt seien. Viele Piraten aus ganz Deutschland konnten so zur Mithilfe am Berliner Wahlkampf mobilisiert werden. Da deren interne Organisationsstruktur dezentralisierter und viel weniger hierarchisch sei als bei traditionellen Parteien, biete sich die interne digitale Kommunikation an.

Zu welch teilweise lächerlichen Diskussionen die hierarchischen Strukturen der Parteien auf dem Weg zur Digitalisierung und der direkten Wählerkommunikation führen, verdeutlichte erst kürzlich ein in Hessens Wahlkreis Main-Kinzig entbrannter Zwist um den twitternden Fraktions-Vize der Grünen Daniel Mack. Er wurde vom Fraktionsvorsitzenden ermahnt, weil er Themen aus seiner Sicht via Twitter kommentiert hatte, die sich jedoch nicht mit der Meinung der Fraktion deckten. Twittern wider die Fraktionsdisziplin – kein Einzelfall.

Für den ehemaligen CDU-Landesvorsitzenden von Schleswig-Holstein Christian von Boetticher bedeutete sein freizügiger Facebook- und Twitterverkehr sogar das Ende einer aussichtsreichen Politkarriere. Sein Facebook-Geturtel mit einer Minderjährigen blieb auch seinen politischen Gegnern nicht verborgen und endete schließlich mit seinem Rücktritt. Gleichzeitig löschte er sein privates Facebook-Profil.

Selbst die Berliner Piraten haben sich schon an ihrem eigenen Wahlversprechen für absolute Transparenz gestoßen. Denn Transparenz macht gleichzeitig angreifbar, legt interne Entscheidungsprozesse auch für den politischen Gegner offen. Und mit dem Einzug in den Berliner Landtag haben die Piraten nun real etwas zu verlieren.

Die politische Partei ist als Organisationstyp schwer vereinbar mit dem Web 2.0. Von manchen Digital Natives ist sie deshalb sogar schon totgesagt worden. Umso verwunderlicher scheint es, dass die Piraten unbedingt eine Partei sein wollen. Doch offenbar hat sich der Zeitgeist noch nicht völlig digitalisiert. An der analogen Welt und der analog organisierten Politik kommen Netzaktivisten nicht vorbei.

Das Internet ist für die Digital Natives zwar zur wichtigsten politischen Informationsquelle geworden. Deren Bedeutung wird sogar noch zunehmen. Doch es scheint eher unwahrscheinlich, dass dies auch zu mehr politischem Engagement führt.

Politisches Engagement im Netz ist kurzweilig und oberflächlich. Für Online-Petitionen und Abstimmungen lassen sich schnell Hunderte oder sogar Tausende mobilisieren. Doch wenn es über eine schnelle Meinungsäußerung hinausgeht, wenn Politik intensive Diskussionsprozesse erfordert oder nachhaltiges Engagement, dann stößt dies im Internet auf genauso wenig Resonanz wie im Offline-Politikbetrieb. Dies zeigt auch die vom Bundestag einberufene Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ und ihre Online-Beteiligungsplattform „Adhocracy“. Dort kann jeder Bürger die Texte der Projektgruppen kommentieren, neue Vorschläge unterbreiten und eigene Beiträge verfassen. In den ersten sechs Monaten hatten sich gerade mal 1917 Nutzer registriert. Die Teilnahme an Abstimmungen bewegte sich meist nur im einstelligen Bereich.

Netzpolitik ist also nur etwas für wenige, ähnlich wie Realpolitik. Die Piraten wären demnach die Repräsentanten einer digitalen Elite. Ihre Homepage hat laut einer Studie des Portals "politik-digital.de" trotz zahlreicher Partizipationsmöglichkeiten, und einem Forum, in dem jeder mitdiskutieren kann, in der Benutzerfreundlichkeit schlecht abgeschnitten. Für den Otto-Normal-Surfer ist es zu unverständlich. Eine Seite wie von den Grünen, im netten ansprechenden Design mit einer übersichtlichen Auflistung ihrer Social-Media-Aktivitäten, spricht hingegen auch die weniger Netzaffinen an. Ist die von der Piratenpartei verfochtene Liquid Democracy also nur ein schöner Traum?

Politisches Engagement erfordert interessierte Bürger. Ob on- oder offline, ob alt oder jung spielt dabei keine Rolle. Einen Großteil der Menschen erreicht man mit einem Dialogangebot schlichtweg nicht. Nichts desto trotz hat der Berliner Wahlkampf gezeigt, dass die analoge Welt dabei immer noch die effektivere Kommunikationsplattform ist als ein Twitter-Account.

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