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(picture alliance) Gedenken an die Neonazi-Opfer in Nürnberg

Integrationsdebatte - Entscheiden wir uns für Sarrazin oder Wulff?

Bevor der Alltag wieder beginnt, muss Deutschland sich entscheiden: Für Integrationsprobleme und EU-Beitritt der Türkei stehen die Methoden Sarrazin und Wulff zur Wahl. Cicero Online Kolumnist Gunter Hofmann geht noch nicht zur Tagesordnung über, sondern erinnert an diese Fragen im Gedenken der Neonazi-Opfer.

Dies ist ein Nachwort, ausnahmsweise. Ein Nachwort zu dem Trauerakt für die Opfer der Nazi-Mordserie am Donnerstag vergangener Woche im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt. Eigentlich wollte ich in dieser Kolumne über die jüngste Etappe in der Griechenland-Krise schreiben, über die Ratlosigkeit der Rettungseinheiten mit ihren Euro-Milliarden, den versteckten Dissens zwischen Kanzlerin und Finanzminister, Merkel und Schäuble, und warum die „Schritt-für-Schritt“-Politik letztlich nur dem Zweck dient, die Wahrheit nicht offen sagen zu müssen. Vielleicht gerade deshalb, weil der Alltag Berlin längst wieder eingeholt hat, möchte ich noch einmal darauf zurückkommen. Die Politik, wurde dort gesagt, dürfe nicht zur Tagesordnung übergehen. Bitte sehr!

Vorweg und damit kein Missverständnis aufkommt: Es war eine würdige Veranstaltung, was die Angehörigen der Ermordeten sagten, rührte an, die Kanzlerin fand die richtigen Worte. Und dennoch hat man Nachfragen. Einer der Redner, der sich vorstellte, „ich bin der Herr Ismail Yozgat, mein Sohn starb in meinen Armen am 6. 4. 2006 in den Internetcafé, wo er erschossen wurde“, bedankte sich „von ganzem Herzen bei Herrn Altbundespräsident Christian Wulff“. „Wir sind seine Gäste. Wir bewundern ihn . . .“  Das war keine Selbstverständlichkeit, und es war mehr als eine Pflichtbemerkung, die Herr Ismail Yozgat ohnehin nicht machte. Christian Wulff hat sich in der deutsch-türkischen Community einen ganz anderen Namen erworben, das zeigte sich in dem Augenblick, als wir es uns in unserer Parallelwelt klar machen, wenn wir Berlins Politik kommentieren, über die politische Klasse urteilen oder, wie monatelang geschehen, mit Wollust recherchieren, wie er so wegen ein paar Euro Vergünstigung für sich bei Bessergestellten antichambrierte.

Ja, auch wir leben in einer Parallelwelt. Wochenlang verteidigten „Migranten“ im Internet leidenschaftlich Wulff, fest davon überzeugt, er solle aus politischen Gründen gestürzt werden. Warum? Weil er den Satz auszusprechen gewagt hatte, „der Islam gehört zu Deutschland“. Beim Zuhören, ja bei dem ganzen Trauerakt drängte sich der Eindruck auf, das sei weit kühner gewesen, als man es sich im ersten Moment – und in der Parallelwelt der politischen Klasse – ausgemalt hatte. War es nicht doch ein Tabubruch? Natürlich, die Reden der Angehörigen, Yozgat, Semiya Simsek und Gamze Kubasik machten das klar, Wulff hatte etwas ausgesprochen, was viele nicht akzeptieren.

Sie meinen, der Islam gehört nicht zu Deutschland. In der Regel sagt man das nicht so laut, man weiß ja, was sich gehört. Als aber Thilo Sarrazin sein Buch veröffentlichte, war der Jubel laut, dahinter konnte man wunderbar seine wahren Gefühle verstecken. Es hieß „Deutschland schafft sich ab“, und meinte, Deutschland schafft sich ab, wenn wir den Islam zu Deutschland zählen. Es war antimuslimisch, sprach eindeutig rassistische Motive an, aber – plötzlich war es hoffähig, so zu denken. Mutig!, applaudierten manche.

Wenn man also nicht zur Tagesordnung übergehen will, und darum geht es hier ja, wird man sich zwischen diesen Sätzen von Wulff und Sarrazin irgendwie mal entscheiden müssen. Der nächste Test kommt, und sei es nur, wenn das Ehepaar Sarrazin wie geplant jetzt gemeinsam mit einem neuen Buch aufwartet und auf unsere Ressentiments spekulieren sollte. Man wird dann schon besser sehen, ob der Trauerakt eine isolierte Veranstaltung von eineinhalb Stunden im schönen Berliner Konzertsaal war, oder nachwirkt in den Köpfen.

Angela Merkel, die ihre gelobte Rede hielt, hat gegen Ende so formuliert: „Wir sind ein Land, eine Gesellschaft. Auch die, die zu uns aus vielen Ländern dieser Welt kommen, sind nicht einfach die Zuwanderer. Auch sie sind vielfältig und unterschiedlich. Wir alle prägen gemeinsam das Gesicht Deutschland, unsere Identität in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts – getragen von unserem Grundgesetz und seinen Werten, unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, formuliert in unserer Sprache. Gemeinsam verteidigen wir alle, die wir uns zu diesen Werten bekennen, die in unserer Verfassung zu Beginn festgeschriebene unantastbare Würde des Menschen.“

Einverstanden! Selbst Micha Brumlik, der Linksintellektuelle, der für diese Fragen besonders empfindlich ist, bescheinigte der Kanzlerin, damit habe sie praktisch ihre eigenen Thesen zur multikulturellen Gesellschaft kassiert. Im Oktober 2010 hatte sie nämlich der Jungen Union in Potsdam erklärt, der Ansatz, Deutschland zu einer multikulturellen Gesellschaft zu machen, sei „gescheitert, absolut gescheitert“. Beim „Deutschlandtag“ der Jungen Union übrigens, um präzise zu sein. Ihre Bemerkung löste befremdete Kommentare bis hin nach Indien aus. Mal gegen Multikulti, mal dafür, je nach Ort und Zeit, geht das?

Als es um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union ging, löste das eine heftige Debatte in Frankreich wie in der Bundesrepublik aus. Von freundlichen Worten umwölkt, sagte die Kanzlerin nichts anderes als: „Die Türkei gehört nicht zu Europa.“ Europa sei christlich, nicht islamisch, predigten Merkozy, die schon damals ihr Tandem begründeten. Auch dieser Satz, dass der Islam nicht zu Europa gehört, kam beim Trauerakt in den Sinn.

Nun hat sich die Türkei kühl und enttäuscht ziemlich weit abgewandt. Aber dennoch: Wer nicht zur Tagesordnung übergehen möchte, muss der nicht dann auch diesen Satz neu denken und die „türkische Frage“ in Europa anders verhandeln? Oder hängt das eine mit dem anderen gar nicht zusammen? Und übrigens: Versucht die Familienministerin Kristina Schröder nicht immer noch verzweifelt, gegen den Rat von Fachleuten die Programme gegen „linke Gewalt“ aufzupäppeln, weil wir auf dem Auge blind seien? 

Ismail Yozgat hat sich bei dem Trauerakt unter anderem gewünscht, die Holländische Straße in Kassel möge nach dem Namen seines Sohnes in Halitstraße umbenannt werden. Die Chancen stehen nicht gut. Wie die FAZ berichtete, versucht der Kasseler Bürgermeister sehr vorsichtig, sehr salomonisch, sehr verständnisvoll, dem Vater und der Gemeinde klar zu machen, dass es dafür eine „breite gesellschaftliche Basis“ geben müsse. Die gibt es aber offenbar nicht, weil sich – auch in der Holländischen Straße in Kassel – Parallelwelten zeigen. In der einen Welt lebte und starb Halit Yozgat. Im Konzertsaal, letzte Woche, nahm sich das Problem so eingrenzbar aus.

Von den rechtsradikalen Tätern der NSU grenzt man sich ab, die zehn Menschen ermordeten, wir alle sind eine Gesellschaft, die Trauer ist auch nicht aufgesetzt. Das sah aus wie eine „breite gesellschaftliche Basis“. Aber draußen vor der Tür, danach, sieht man dann wieder, dass damit noch lange nicht gesagt ist, ob es die tatsächlich gibt oder ob die Politik wenigstens den Mut hat, im Alltag und ohne Gedenkkerzen dafür zu werben.

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