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(picture alliance) Kein ehrfurchtgebietenedes demokratisches Vorbild mehr: Bundespräsident Christian Wulff

Politik am Pranger - Im Land der Ego-Demokraten

Nicht nur der Bundespräsident steht am Pranger, sondern die gesamte politische Klasse und auch die Medien. Die Kluft zwischen Bürgern und Politikern ist größer geworden, aber repräsentiert der „Wutbürger“ wirklich das Gemeinwohl? Der Wille der Mehrheit kann nur durch demokratische Wahlen ermittelt und durchgesetzt werden

Nein, ein ehrfurchtgebietendes demokratisches Vorbild ist der Bundespräsident nicht mehr. Vor dem Zaun von Schloss Bellevue halten aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger ihre Schuhe hoch und zeigen dem Staatsoberhaupt so ihre Verachtung. Gründe genug haben sie dafür, und zum Glück ist solcher Protest möglich. Für nicht wenige jedoch bestätigen die Vorwürfe, denen sich Christian Wulff wegen privater Kredite, Freundschaften und seiner Kampfansage an die Bild-Zeitung ausgesetzt sieht, vor allem eines: Mit den Repräsentanten der Demokratie ist längst kein Staat mehr zu machen. Abgeordnete und Minister, Parteifunktionäre und Bürokraten sind zu einer filzigen Masse verquollen, die mit den Interessen des Volkes aber auch gar nichts mehr zu tun hat. Wutbürger artikulieren ihr Unbehagen nicht nur in dieser oder jener Sache, sondern fühlen sich von Institutionen und Mandatsträgern grundsätzlich nicht mehr verstanden, vielleicht sogar verraten und verkauft.

Kein Zweifel, es hat sich etwas verändert im Verhältnis zwischen Bürgern und demokratischem Staat. Und die Veränderungen reichen tief – tiefer, als uns bisher bewusst ist. Eine heile Welt des demokratischen Urvertrauens, des Einklangs zwischen Wählern und Gewählten, von glaubwürdigen Politikern und zu ihnen aufschauenden Bürgern hat es zwar nie gegeben. Irgendwelche demokratischen Originalzustände, von denen sich die Gegenwart in Verfall und Entfremdung entfernt hat, lassen sich deshalb nicht zurückwünschen.

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Trotzdem: Um den Wandel zu verdeutlichen, kann man die Nachkriegsdemokratie als Maßstab nehmen – also jene institutionelle Ordnung und politische Kultur, die 1949 mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geschaffen wurden. Damals galt Demokratie, auf den Säulen von Rechtsstaat und Repräsentation, als das endlich erreichte Glück der Westdeutschen, das nach der mörderischen Diktatur des Nationalsozialismus und angesichts des SED-Regimes im Osten nie mehr verspielt werden dürfte. In den sechziger und siebziger Jahren waren es gerade linksliberale, macht- und traditionskritische Kräfte, die eine vorbehaltlose Hinwendung zum „Westen“ und den Abschied von deutschen autoritären Traditionen forderten. Immer wieder, wie in der Debatte um die Notstandsgesetze während der ersten Großen Koalition, sah man die zerbrechliche Errungenschaft der Demokratie in Gefahr.

Zwei Jahrzehnte später, in der Freiheitsrevolution der DDR und der Wiedervereinigung, wiederholte sich diese Erfahrung noch einmal – ein letztes Mal. Der „lange Weg nach Westen“, den der Historiker Heinrich August Winkler bald darauf eindrucksvoll beschrieb, war an sein Ende, an seine Erfüllung gelangt. In Einheit frei und demokratisch – was wollte man mehr? Dieses Gefühl war jedoch von kurzer Dauer, denn bald drehte sich die Wahrnehmung um. Die unmittelbare Erfahrung der Diktaturen, schon gar des „Dritten Reiches“, ist verblasst. Demokratie ist Normalzustand, mit all ihren Fehlern und Schwächen. Sie liegt nicht mehr als unangreifbares Heiligtum in der Schatzkammer der Nation, bloß weil wir zweimal der Diktatur entkommen sind.

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Wichtiger aber sind handfeste Veränderungen im Gefüge der Demokratie selber, die sich seit den siebziger Jahren beschleunigt haben. Die klassische Idee vom demokratischen Staat als Ergebnis bürgerlicher Interessen, die über einen Zwischenraum der Parteien und Verbände in politische Entscheidungen transformiert werden, entspricht immer weniger der Realität. Das Grundgesetz war noch stolz darauf, den zuvor in Deutschland oft verachteten Parteien offizielle Anerkennung zu geben: Deshalb wirken sie, nach Artikel 21, an der politischen Willensbildung mit.Doch ihre praktische Bedeutung schrumpft, sie verlieren Mitglieder und sind für Jüngere kaum mehr attraktiv. Auch an anderen Stellen verliert das Grundmuster einer Demokratie der großen Mitgliederverbände an Boden: bei den Gewerkschaften, den Kirchen und überhaupt im klassischen Vereinswesen, das einen Vorhof politischen Engagements gebildet hatte.

An ihre Stelle sind neue Formen der politischen Teilhabe getreten, die aus den Protestbewegungen der späten sechziger und der siebziger Jahre kommen: Man geht auf eine Demo oder engagiert sich in einer Bürgerinitiative, man spendet für eine Menschenrechtsorganisation oder unterzeichnet ein Bürgerbegehren. So ist Demokratie nicht weniger lebendig als früher. Aber sie ist mehr eine zivilgesellschaftliche Veranstaltung geworden; sie zielt nicht mehr auf die Einbindung des Bürgers in den Staat, sondern auf eine Kritik der Macht. Man könnte daraus den Schluss ziehen, nun Bürgerinitiativen und NGOs genauso ins Grundgesetz aufzunehmen wie vor zwei Generationen die Parteien. Doch würde das an der gewachsenen Distanz nichts ändern, denn die NGOs spielen nach anderen Regeln als die klassischen Parteien.

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Schließlich spielen die ganz großen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft eine wichtige Rolle bei einer Entfremdung der Bürger von der klassischen Demokratie. Zunächst: Allzu leicht vergessen wir heute, wie viel konventioneller und hierarchischer die ersten Nachkriegsjahrzehnte gewesen sind, bis zu einem gewaltigen Schub der Individualisierung, einer neuen Kultur der Gleichheit, die sich vor allem seit den achtziger Jahren durchgesetzt hat. Zuvor waren auch demokratische Politiker „Respektspersonen“, denen man sich im Zweifelsfall mit Abstand oder doch wenigstens mit Anstand näherte; sie waren selbstverständlich Teil einer – im Übrigen sehr patriarchalischen – Honoratioren- und Elitenwelt. Mit Hut und Zigarre trat man ins Hinterzimmer, um Entscheidungen im kleinsten Kreis abzusprechen. Auch die privaten Lebensverhältnisse blieben besser im Dunkeln; man wusste vielleicht diffus davon, aber in die öffentliche Debatte gehörte das nicht, erst recht nicht zur öffentlichen, oder doch medialen, Rechenschaftspflicht des Politikers.

Die respektheischende Distanz ist inzwischen fast spurlos verschwunden. Politiker sind normale Menschen, und sie müssen sich auch so verhalten. Zweifellos ist das vor allem ein großer Zugewinn für eine offene und freie Gesellschaft. Aber es ist auch der Ursprung eines Paradoxes: Denn für die Bürger ist der Politiker, auch der eigene Abgeordnete, nicht mehr „einer von uns“, sondern gilt als entfernt und abgehoben. Er bewegt sich in einer eigenen Welt, die für viele mit ihrem eigenen Alltag nicht mehr kompatibel ist: Dienstwagen statt ­S-Bahn, 80-Stunden-Woche, Verpflegung aus den immer gleichen Obst- und Schnittchentellern statt aus dem eigenen Kühlschrank. Wissen die überhaupt noch, was ein Liter Milch kostet?

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Und dann ist die Welt durch die Globalisierung, durch die Dynamik von Märkten und Technologien, fundamental verwandelt worden. Die klassische Demokratie, im Nationalstaat entstanden und auf ihn zugeschnitten, gerät dabei häufig an ihre Grenzen – und die Enttäuschung der Bürgerinnen und Bürger wächst. Nicht dass die Demokratie als Regierungsform unfähig wäre, sich an neue Bedingungen anzupassen – seit 200 Jahren, als Abgeordnete mit der Pferdekutsche zum Parlament kamen, tut sie nichts anderes. Auch haben Globalisierung und Internet ganz neue Möglichkeiten politischen Engagements geschaffen.

Wer heute für „Greenpeace“ oder „Human Rights Watch“ tätig ist, praktiziert globale Demokratie ebenso wie Blogger und Twitterer, nicht nur im „arabischen Frühling“, sondern auch mitten in Europa. Gleichzeitig ist die nationalstaatliche Demokratie unter den Druck der globalen Märkte geraten und kann ihre klassischen Aufgaben der Sicherheit und Versorgung immer weniger erfüllen. Darunter leidet ihre Glaubwürdigkeit, und zusätzlich lässt der machtvolle Sog der Märkte die Bürger mit einem Gefühl der Hilflosigkeit zurück, in einer Frustration der verlorenen Freiheit, bei der man Politik und Märkte häufig gemeinsame Sache machen sieht.

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So hat sich, in einem Geflecht ganz unterschiedlicher Ursachen, das Band gelockert, das Bürger und Politiker in der klassischen Demokratie zusammenhielt. Eine Kluft ist entstanden, ein Gefühl der Entfremdung, das an vordemokratische Zeiten erinnert, in denen die Mächtigen als „Obrigkeit“ weit von ihren Untertanen entfernt waren, die sich Arroganz und Distanz gleichwohl nicht mehr gefallen lassen wollten. In Deutschland ist das die Situation des frühen 19. Jahrhunderts, der Zeit zwischen Wiener Kongress und Metternich’scher Restauration von 1815 einerseits, von Protest und Aufruhr in der Revolution der Jahre 1848/49 andererseits – die Zeit des Vormärz. Das war die große Zeit des Erwachens politischen Interesses und des demokratischen Aufbegehrens von Bürgern gegen die verachtete, die verhasste Obrigkeit: Königtum, Adel und Bürokratie.

Die Situation der Demokratie im frühen 21. Jahrhundert erinnert frappierend an diese Konstellation der kulturellen Kluft, des Misstrauens und des allgegenwärtigen Protests. Nur die Obrigkeit ist eine andere: Es sind die gewählten Repräsentanten einer demokratischen Ordnung; es sind die Volksvertreter, mit denen sich das Volk gleichwohl immer weniger identifizieren kann. Die (repräsentative) Demokratie wird zur neuen Obrigkeit: Man nimmt an ihr nicht freudig teil, sondern betrachtet sie als Adressat von Protest und Kritik.

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Die „Verobrigkeitlichung“ der Demokratie in den Augen ihrer Bürger ist, positiv gewendet, Ausdruck eines wachen und kritischen Bürgerbewusstseins, an dem es früher, gerade in Deutschland, oft gefehlt hat. Sie lässt die Politiker nicht gewähren, weil wir sie ja schließlich gewählt, also ihnen unser Vertrauen (auf Zeit) geschenkt haben, bis zum nächsten Wahltermin in vier oder fünf Jahren. Sondern sie fordert ständige Rechenschaft und Transparenz: „Accountability“ nennen die Politologen das. Die Bürgerinnen und Bürger sind heute stärker und schwächer zugleich. Sie können (oder wollen) ihre Interessen nicht mehr wie früher, auf eindeutig definierten Wegen des Engagements, in staatliches Handeln umsetzen.

Politik jenseits des Nationalstaats, und jenseits der ihn stützenden Verbände, ist diffuser, und damit ist sie für die Bürger schwerer adressierbar. Zugleich haben die Bürger Macht gewonnen, weil sie den Staat auf neuen Kanälen unter Druck setzen können. Plötzlich gerät die Parlamentsentscheidung ins Wanken, weil Menschen auf die Straße gehen, Medienöffentlichkeit herstellen, vor Gericht klagen oder eine Volksabstimmung erzwingen. Immer mehr politische Entscheidungen werden so, jenseits des Parlaments, einer zweiten Legitimation unterworfen. Wenn nicht nur Parlament und Regierung entscheiden, sondern auch das Verwaltungsgericht oder ein Mediationsverfahren, oder wenn das Parlament dem öffentlichen Protestdruck weicht, dann hat sich Demokratie gewissermaßen verdoppelt.

Aber die neue Konstellation hat auch ihre Schattenseiten und birgt sogar Gefahren. Sie fordert nicht nur die „etablierte“ Politik heraus, sich zu modernisieren, zu öffnen, mit den Bürgern in neue Formen des Dialogs zu treten. Auch die wachen, die kritischen, die aufmüpfigen Bürger müssen sich Fragen gefallen lassen. Sosehr man eine erweiterte Demokratie schätzen muss, die den engen Rahmen der klassischen Wahl-Demokratie hinter sich gelassen hat, so wenig ist sie von Kritik ausgenommen, und glorifizieren sollte man sie schon gar nicht. Genau das aber geschieht in manchen aktuellen Strömungen der politischen Theorie, die neuerdings gerne von einer „insurgent democracy“ spricht, einer rebellischen oder aufständischen Demokratie.

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Damit kann der Kampf um Demokratie in autoritären Regimen gemeint sein, wie wir ihn in der „Arabellion“ des vergangenen Jahres erlebt haben. Häufig jedoch bezieht sich der Begriff auf die Verhältnisse in westlichen Demokratien und Rechtsstaaten und unterstellt dann, dass Demokratie durch einen Protest gegen die bestehenden Zustände überhaupt erst erreicht werden müsste. Eine Art revolutionärer Erhebung müsste die bisherige Schein-Demokratie überwinden und die Verhältnisse ordentlich zum Tanzen bringen. Das ist gewiss nicht die Perspektive des durchschnittlichen „Stuttgart 21“-Gegners.

Doch in romantischen Strömungen des linken Radikalismus, seien sie eher theoretischer oder eher praktischer Natur, spielt diese Sichtweise nicht zufällig wieder eine größere Rolle. Da lohnt es nachzulesen, was Jürgen Habermas den Studenten ins Stammbuch geschrieben hat, die 1967/68 das „System“ überwinden wollten: Rechtsstaat und liberale Grundrechte müssen schärfstens eingeklagt, aber dürfen nicht als vermeintliche Fassade der Mächtigen verhöhnt und damit preisgegeben werden. Und ein Voluntarismus der Rebellion wendet sich leicht gegen die Demokratie.

Aber auch in gemäßigteren Zonen lauern Fallstricke hinter dem neuen Selbstbewusstsein der Wutbürger. Ob sie den Zorn des Volkes gegen die Mächtigen auf die Straße tragen, ist gar nicht ausgemacht – jedenfalls nicht, ob sie damit den Willen der Mehrheit repräsentieren. Die Stilisierung des demokratischen Staates zur Obrigkeit neigt dazu, ihn als Vertreter einer selbstbezogenen Minderheit zu sehen, als Eigengeschäft der Politiker und ihrer Verbündeten in der Wirtschaft. Ohne Wahlen jedoch, ohne Repräsentation und Parlament bleibt es extrem schwierig, den Mehrheitswillen zu ermitteln und in politische Entscheidungen umzusetzen. Man kann Verfahren direkter Demokratie dazunehmen, wie das Ende November beim Volksentscheid der Baden-Württemberger über „Stuttgart 21“ geschah. Eine natürliche Mehrheit des Volksprotests gegen die Projekte der Eliten stellte sich dabei nicht heraus – im Gegenteil.

Lesen Sie weiter: Demokratie wird immer noch als kollektives Projekt verstanden...

Jetzt muss sich zeigen, ob die Demokratie des Protests das Mehrheitsprinzip anerkennt und die Entscheidung akzeptiert. Die manchmal gehörten Warnungen vor der Diktatur einer kleinen, lautstarken und handlungsfähigen Minderheit des Protests sind gewaltig übertrieben. Aber sie legen schon deshalb den Finger in eine Wunde, weil die neue Demokratie des Protests ganz überwiegend eine Veranstaltung der gebildeten Mittelschichten ist. Die weniger Gebildeten, die unteren Schichten sind mit der klassischen Demokratie besser gefahren, in der sie sich durch machtvolle Mitgliederverbände Gehör verschaffen konnten.

Neben die Spannung von Mehrheit und Minderheit tritt ein weiteres, verwandtes Problem: die Frage nämlich nach dem Verhältnis von Gemeinwohl und Eigeninteresse. Der neue bürgerliche Protest konnte sich oft darauf berufen, nicht für eigene Interessen einzutreten, sondern für höhere Güter, für andere Menschen, für Schwächere. Daraus schöpft das Engagement für Menschenrechte in aller Welt, für Umwelt, für die Lebenschancen der nächsten Generationen einen erheblichen Teil seiner moralischen Glaubwürdigkeit. Klassische demokratische Politik ist in dieser Sichtweise nicht mehr dem Gemeinwohl verpflichtet, weil sie sich allzu häufig den Interessen einer Minderheit verpflichtet weiß, die leichten Zugang zu Parlament, Regierung und Verwaltung haben. Das ist das Menetekel einer Lobby-Demokratie. In den wutbürgerlichen Protesten der vergangenen Jahre jedoch scheint das altruistische Motiv seinen Höhepunkt überschritten zu haben, und manchmal wird es zur bloßen Fassade eines St. Florians-Kampfes: Hauptsache, nicht in meinem Garten – „not in my backyard“, wie die Amerikaner diese Haltung ironisch nennen.

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Der Berliner Flugrouten-Protest vor der Eröffnung des neuen Flughafens am Standort Schönefeld ist ein instruktives Beispiel dafür. Nach jahrelanger Debatte wurde in demokratischen Verfahren ein Kompromiss gefunden, der Hunderttausende Menschen in dicht besiedelten Innenstadtbezirken vom Fluglärm Tegels entlastet. Davon ist kaum noch die Rede, und die bisher Betroffenen gehen auch nicht auf die Straße, um an die Last zu erinnern, die sie jahrzehntelang im Namen eines Gesamtinteresses getragen haben.

Natürlich ist der Protest völlig legitim und subjektiv verständlich. Auf ein höheres moralisches Recht gegen „die da oben“ kann er sich aber nicht berufen, und das Gemeinwohl ist in ihm nicht aufgehoben. Wohl aber reflektiert eine Konstellation wie diese den tiefgreifenden Wandel der Demokratie im Verständnis der Bürger. Demokratie wird nämlich immer weniger als ein gemeinsames, als ein kollektives Projekt verstanden – beim Begriff des „Volkes“ überkommt ja gerade die Deutschen ohnehin ein Schaudern. Im neuen Leitbild von Demokratie gewährt sie dem Einzelnen ein möglichst autonomes und störungsfreies Leben.

Dabei kann es bisweilen so scheinen, als würden Politiker, als würden „die da oben“ überhaupt nicht mehr gebraucht, weil sie sich von den Interessen der Bürger weit entfernt haben, nur an ihren persönlichen Vorteil denken, mit den Bossen unter einer Decke stecken. Wir brauchen aber beides: alte und neue Demokratie; Kritik der Macht und Vertrauen in diejenigen, die sich im demokratischen Staat engagieren. Zivilgesellschaft und soziale Bewegung dürfen sich von Parteien und Parlamenten nicht völlig entfremden, neue Brücken müssen gebaut werden. Auch wenn ihr Programm noch mehr als diffus ist: Dafür jedenfalls sind die „Piraten“ ein wichtiges Zeichen. Natürlich dürfen wir dem Bundespräsidenten wütend den Schuh zeigen. Aber genauso ist es demokratische Zivilcourage, dem Nachbarn oder Arbeitskollegen zu widersprechen, der alle Politiker für korrupte Idioten hält.
 

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